Gleichberechtigung im Kinderzimmer. Ekkehard von Braunmühl
soll es haben, wenn immer wieder »alte Weisheiten« zitiert werden, um diese oder jene Ansicht zu unterstützen, wo deren Urheber doch in Zeiten lebten, die beispielsweise von Demokratie und Menschenrechten, wie wir sie heute verstehen (und die wir sicher nicht aufgeben wollen), gänzlich unbeleckt waren, in denen es keine Atomenergie gab, keine weltweite Überbevölkerung, keine Massenmedien, Computer, Umweltgifte, Müllhalden, Sorgentelefone, Arbeitsämter, Antibabypillen und so weiter, in denen die Erfahrungen von Weltkriegen, Atomwaffeneinsatz, Faschismus, Schulpflicht, AIDS und so weiter noch fehlten, in denen die Lebenserwartung Jahrzehnte geringer war, den Sterbenden die Seele aus dem Munde entwich, der Krieg als »Vater aller Dinge« gelten konnte, niemand vom »lebenslangen Lernen« sprach, ein »Ehrenwort« noch etwas galt und nicht in jeder zweiten Straße ein »Therapeut« praktizierte?
Diese Aufzählung ist ziemlich zufällig, kann aber beleuchten, wie fragwürdig viele Aussagen über »den Menschen« sind. Annahmen über »die Natur des Menschen« werden häufig allgemeingültig formuliert, beruhen jedoch auf höchst zeitgebundenen Voraussetzungen und Bedingungen. Wir können in diesem Buch schon aus Platzgründen nicht alle unsinnigen oder unpassend gewordenen Theorien der Vergangenheit, die heute noch eine Rolle spielen, widerlegen, sondern setzen darauf, daß die meisten sich von selbst erledigen, wenn wir an einigen Beispielen demonstriert haben, wie nützlich der Verzicht auf alte Denkschablonen für eine zugleich zeitgemäße wie zukunftsweisende Neuorientierung sein kann.
Schwieriger als der Umgang mit heute irreführenden Aussagen aus der Vergangenheit ist für uns das Problem zu bewältigen, das die Sprache selbst darstellt. Dabei meinen wir nicht das Problem, daß es zu vielen Begriffen unterschiedliche »Definitionen« gibt, die schon allein für zahlreiche Mißverständnisse (also geistiges »Durcheinander«) sorgen. Wörter transportieren nicht nur Botschaften von Verstand zu Verstand, die durch strenge Definitionen eindeutig, also allgemeinverständlich, »objektiv« gemacht werden können. Und Wörter transportieren auch nicht nur Gefühle, die schon im Prinzip subjektiv und kaum annäherungsweise »objektivierbar« sind. Unser Hauptproblem ist noch nicht einmal, daß viele Wörter selbst emotionale Anteile enthalten, die von Subjekt zu Subjekt unterschiedliche, ja gegensätzliche Wirkungen auslösen können. (Nicht einmal Begriffe wie »Kind«, »Mutter«, »Vater«, »Harmonie«, »Familie«, »Verwandtschaft« sind von allen Menschen gleichermaßen seelisch positiv »besetzt«.) Unsere sprachliche Hauptschwierigkeit liegt darin begründet, daß viele – und gerade viele der für unser Thema wichtigsten – Wörter Phänomene bezeichnen, die aus einem rationalen und einem emotionalen Anteil zusammengesetzt sind. Das von uns zugrundegelegte »Seele/Verstand-Modell«, das wir im Kapitel »Der Verstand denkt, und die Seele lenkt« darstellen, ist ein relativ neues Modell der Funktionsweise des menschlichen Zentralnervensystems (Gehirns), das naturgemäß noch keinen Einfluß auf die Entwicklung der Sprache nehmen konnte. Um nicht eine diesem Modell angepaßte Kunstsprache erfinden zu müssen, sind wir deshalb gezwungen, zu allerlei Notbehelfen zu greifen. Beispielsweise werden wir öfters »Seele« und »Verstand« fast wie eigenständige Organe oder sogar Personen mit bestimmten Eigenschaften, Fähigkeiten, Bestrebungen, Aufgaben behandeln, obwohl klar ist, daß jedes Individuum als unteilbarer Organismus und ganzheitlich funktionierendes System angesehen werden muß.
Sicher ließen sich die genannten Probleme auch anders bewältigen; aber wir haben uns von der Zielvorstellung leiten lassen, den »Weg zum Frieden« möglichst einfach verständlich und direkt nutzbringend zu beschreiben (anstatt beispielsweise auf akademische Gepflogenheiten Rücksicht zu nehmen oder auf tages- und parteipolitische Konsequenzen zu spekulieren). Genau genommen beschreiben wir nicht einen bestimmten Weg, der Schritt für Schritt gegangen werden sollte – wir können und wollen niemandem etwas »vorschreiben« oder gar »Vorschriften machen« –, sondern wir wollen einige traditionelle, aber heute durchschaubare Irrwege, Fallen, Abgründe, Stolpersteine, Hürden, Sackgassen … oder einfach Denkfehler kenntlich machen, deren Vermeidung den Blick freigibt zugleich auf Ziel und Weg und zugleich für »Kopf« und »Herz« und »Bauch«. Die Bestätigung, daß die Gleichberechtigung im Kinderzimmer funktioniert, ist für uns eine Selbstverständlichkeit, sagt aber noch nichts darüber, warum und wie sie funktioniert. »Selbstverständlich« ist die hundertprozentige Zustimmung der »Kinder« einfach deshalb, weil sie nicht mehr oder weniger passiv, als Objekte oder gar Opfer bestimmten elterlichen Verhaltensweisen ausgesetzt waren, sondern aktiv, als Subjekte und vielfach auch Ideengeber das Familienleben mitgestalteten, und zwar gleichberechtigt, also optimal. Auch in anderen Familien sind Kinder nicht passive Objekte, sondern aktive Mitgestalter; aber häufig bleibt ihnen keine andere Wahl, als um ihre Rechte, ihre Freiheit, ihre Selbstachtung gegen die Eltern zu kämpfen. Sie gestalten also nicht gute »Liebes«-Beziehungen gleichberechtigt mit, sondern finden sich in Machtbeziehungen verstrickt, in denen (mindestens) die Gesetze der Konkurrenz gelten, nicht die der Kooperation. Obwohl wir mit vielen Weisen der Meinung sind, daß es besser ist, eine Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen, werden wir nicht ganz auf eine – allerdings kurze und bruchstückhafte – »Bestandsaufnahme« (nächstes Kapitel) und die darauf folgende Einordnung unseres Themas in »größere« Zusammenhänge verzichten. Um in dem zitierten Bild der »Weisen« zu bleiben: Unsere eigenen Kerzen brennen schließlich munter genug vor sich hin. In unserem Buch aber müssen wir erst einmal zeigen, warum es sich lohnen soll, daß auch andere Menschen sich um Kerzen und Streichhölzer bemühen, und dabei nicht riskieren, daß alles in Feuer und Flammen aufgeht, sondern erreichen, daß ihr Leben nur einfach wärmer und heller wird.
Zivilisation und Gewalt
Zusammengewürfelte Bestandsaufnahme
mit Gedankensplittern
Grundsatzaussagen
»Grundsätzlich bin ich ja auch gegen Gewalt«, sagt eine verzweifelte Mutter im Supermarkt, »aber der Kleine muß doch einsehen, daß ich ihm nicht alles kaufen kann, was er haben will!« Kinder müssen doch lernen, daß daß nicht Kinder brauchen Grenzen; eine starke Hand; Führung; Liebe …; natürlich sind Kinder Menschen, aber ich bin auch nur ein Mensch, da reißt eben manchmal der Geduldsfaden; platzt der Kragen; rutscht die Hand aus …
Solche Aussagen sind weit verbreitet. Sie haben ihre Gründe. Diese Gründe sind leicht zu verstehen.
Zusätzlich haben solche Aussagen gedankliche Hintergründe und handfeste Folgen. Die sind nicht so leicht zu verstehen. Die Hintergründe sind in der Regel nicht bewußt, die Folgen nicht beabsichtigt.
Wer solchen Aussagen widerspricht oder die entsprechenden (Miß-)Handlungen kritisiert, erreicht seinerseits kaum je das, was er erreichen wollte. Normalerweise fühlen sich die Angesprochenen persönlich angegriffen, und demzufolge verteidigen sie sich. Sie rechtfertigen ihre Gründe und Absichten desto energischer, je ernsthafter sie in Frage gestellt werden. Auf dieser Ebene finden seit langem und immer wieder praktisch überall, öffentlich und privat, Auseinandersetzungen statt, die genaugenommen zu nichts führen können. Denn wenn Besserwisser sich streiten, hat das bessere Wissen keine Chance. (Hinweis für unsere Leserinnen und Leser: Je mehr solcher Streitereien, die Sie selbst mitgemacht oder verfolgt haben, Sie sich jetzt in Erinnerung rufen, desto klarer wird Ihnen deren Struktur. Wir gehen davon aus, daß Sie selbst über für Sie viel überzeugendere Beispiele verfügen, als wir sie auf Dutzenden von Seiten präsentieren könnten.)
Elterliche Verantwortung
»Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« »Das Kind ist der Vater des Erwachsenen.« »Die Hand an der Wiege regiert die Welt.« Drei bekannte Sätze, die, wie viele ähnliche, die Bedeutung der Kindheit für das Leben des Menschen unterstreichen und zugleich an die Erwachsenen appellieren, die für die Gestaltung dieser Kindheit zuständig sind. Sie sollen sich ihrer Macht und ihrer Verantwortung bewußt sein oder werden. Es geht nicht um »Kinderkram«, sondern ums Ganze: »Die Kinder sind unsere Zukunft!«
Also propagierten die Vereinten Nationen »Rechte des Kindes«, unter anderem »Das Recht auf Liebe, Verständnis und Geborgenheit« (Kinderkonvention 1989). Ähnlich behauptet die deutsche Bundesregierung: »Jedes Kind hat ein Recht auf Liebe.« (Aktion »Keine Gewalt gegen Kinder«, 1992).
So werden Eltern von »oben« in die Liebespflicht genommen, ganz egal, wie die Kinder sich benehmen. Die