Gleichberechtigung im Kinderzimmer. Ekkehard von Braunmühl

Gleichberechtigung im Kinderzimmer - Ekkehard von Braunmühl


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Macht: Sie schaffen es nicht immer, das Baby in den Schlaf zu wiegen, das Kleinkind zu trösten oder aufzumuntern, dem Schulkind wirksam zu helfen, den Gefährdungen der Jugendzeit vorzubeugen – generell wird die Macht der Eltern von so vielen anderen Mächten in die Schranken gewiesen, daß es sogar üblich geworden ist, brutale Gewalt als Folge elterlicher Ohnmacht (Hilflosigkeit) anzusehen; doch die Verantwortung bleibt bei den Eltern, und entsprechend anfällig sind sie für Schuldgefühle. (Je gründlicher Sie jetzt über die Begriffe »Macht« und »Verantwortung« nachdenken, desto deutlicher wird Ihnen, daß beide gedanklich die gleiche »Medaille« bezeichnen, aber seelisch ganz unterschiedlich empfunden werden können.)

      Menschenverbesserer in Panik

      Regelmäßig wenn Menschen besonders schreckliche Untaten verüben (wir denken jetzt, Anfang 1994, beispielsweise an die Situation im früheren Jugoslawien), reden kluge Leute von »Barbarei« und klagen darüber, daß die »Zivilisation« dem Menschen offenbar trotz aller Bemühungen etwas Äußerliches geblieben sei, nur »Firnis« oder »Tünche«. Unter dieser Oberfläche sei der Mensch eben doch ein »Wolf«, jedenfalls ein höchst gefährliches Wesen, absolut nicht »von Natur aus gut«, wie manche Träumer gelegentlich verkünden.

      Auf der gleichen Linie liegen die meisten Reaktionen auf von Kindern und Jugendlichen verübte Gewalttaten. Dann werden strengere Gesetze und auch Erziehungsstrafen gefordert, liberale Umgangsformen kritisiert, Zucht und Unterordnung für die Jungen eingeklagt.

      Alle diese Reaktionen sind gut zu verstehen. Im Schrecken über das, was Menschen fertigbringen, wird aber, scheint uns, übersehen, was es mit der vielgepriesenen Zivilisation tatsächlich auf sich hat. Dabei meinen wir nicht bestimmte Charakterzüge und Verhaltensweisen selbst, sondern wollen an die Methoden erinnern, mit denen Menschen seit jeher »zivilisiert wurden«. Die schlichte Unterwerfung – wenn nicht Versklavung und sogar Ausrottung – angeblich »wilder« oder »primitiver« Völker durch Abgesandte der Zivilisation kann ebenso wie die christliche Missionierung »mit Feuer und Schwert« oder durch Verbreitung von Höllenangst nicht beanspruchen, als Musterbeispiel für Frieden und Gleichberechtigung zu dienen. Mit welch brutalen Methoden die Kinder noch vor wenigen Jahrzehnten rigoros zur Anpassung an das gezwungen wurden, was die Erzieher jeweils für richtig hielten, steckt genügend Erwachsenen heute noch »in den Knochen«. Und daß die meisten Kinder in den zivilisierten Weltgegenden auch gegenwärtig noch mehr oder weniger offenen oder subtilen Gewalterfahrungen ausgesetzt sind, ist allgemein bekannt. So bleibt vorerst die Frage offen, ob in Wirklichkeit der »Primitive« und das Kind als gefährliche »Wölfe« anzusehen sind oder nicht vielmehr umgekehrt die »zivilisierten« und »zivilisierenden« Gewalttäter.

      Eine befriedigende Antwort auf diese Frage ist für den Frieden auf Erden zentral. Denn wenn nicht das »Wesen« des Menschen verbessert, sondern das Unwesen der Menschenverbesserei abgestellt werden muß, um Frieden möglich – und wirklich – zu machen, dann … (Wir brechen hier ab, um Ihre eigenen Gedanken nicht zu stören. Je besser Sie es schaffen, die gestellte Frage noch nicht endgültig zu beantworten, desto interessanter und ertragreicher wird die weitere Lektüre für Sie sein.)

      »Am Anfang war die Pest«

      »Am Anfang war Erziehung« heißt ein seinerzeit vielbeachtetes, aber unserer Meinung nach längst nicht ausreichend bekanntes Buch von Alice Miller. Darin schildert die Autorin eindrucksvoll die Kindheit einiger extremer Verbrecher (zum Beispiel Adolf Hitler) und erklärt deren spätere Gewalttaten aus den einst selbst erlittenen Gewaltakten und Demütigungen, die von den jeweiligen Erwachsenen als gutgemeinte und notwendige »Erziehung« verstanden worden waren.

      »Am Anfang war die Pest« heißt das zentrale Kapitel des neuesten Buches von Marianne Gronemeyer: »Das Leben als letzte Gelegenheit«. Überraschend, aber überzeugend erklärt die Autorin, wie die geistigen Grundlagen des heute als selbstzerstörerisch erkannten neuzeitlichen Lebensgefühls als Reaktion auf reale Schrecknisse im ausgehenden Mittelalter zu verstehen sind. Neben Kriegen und anderen Katastrophen war es besonders die Pest, die das traditionelle Gottvertrauen zerstörte, das damals ebenso die Natur umfaßte wie den Tod (die Sterblichkeit des Menschen nach Gottes Plan). Durch die Pest wurden der Tod und die Natur zu Feinden des Menschen, gegen die sich zu sichern das vorrangige Bedürfnis entstand. Ein Zitat zur Dimension des Chaos, das die Pest auch unter den Überlebenden anrichtete (S. 10):

      »Über beinah vier Jahrhunderte (bis zum Jahr 1720) fällt der schwarze Tod die Menschen Europas in ungewissen Abständen aus dem Hinterhalt an. Der Bevölkerungsniedergang in Europa während der großen Pest von 1347 bis 1352 wird von den Historikern unterschiedlich beziffert. Die Schätzungen schwanken zwischen 30 und 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Über einzelne Städte und Regionen weiß man genauere Zahlen. Es gab Städte, in denen während eines oder zweier Jahre 50 bis 65 Prozent der Bewohner dahingerafft wurden.«

      In der Schule haben wir gelernt, daß die Neuzeit mit der »Aufklärung« begann, der Befreiung aus dumpfem Aberglauben, einem kühnen Aufbruch der menschlichen Emanzipation. Nun sehen wir, daß in Wahrheit »panisches Entsetzen« (Gronemeyer) die Triebfeder war, die nur zu neuem Aberglauben führte: dem Aberglauben, die Natur durch Wissenschaft und Technik unschädlich machen zu können; sie so perfekt zu unterwerfen, zu beherrschen, umzugestalten, daß der Mensch sich sicher fühlen kann. Die Natur wurde nur erforscht, um sich ihrer bemächtigen zu können; in grenzenloser Überheblichkeit wurden Pläne zur Welt- und Menschenverbesserung entwickelt und über Jahrhunderte Projekte vorangetrieben, die heute als Auswüchse des »Machbarkeitswahns« durchschaut sind. Dieser selbst aber wirkt noch fast ungebremst weiter, ebenso wie die von Gronemeyer aus der gleichen Quelle abgeleitete »Beschleunigung des Lebenstempos« im sinnlosen Kampf gegen die »Zeitknappheit«. (Das »neue Denken«, das heute vielfach gefordert wird, aber doch oft schnell wieder in die alten Bahnen des Mächens, der Selbstüberschätzung und der Gewalt einmündet, würde von Marianne Gronemeyers brillanten Analysen – besonders auch von dem Buch »Die Macht der Bedürfnisse« – mehr profitieren, als wir hier andeuten konnten.)

      »Das Leben als dauernde Trotzphase«

      könnte beinahe wie eine Fortsetzung von Gronemeyers »Das Leben als letzte Gelegenheit« wirken. Das Buch stellt den zivilisierten Menschen dar als Widerstandskämpfer gegen alles, was nur im entferntesten nach Vernunft riecht. Die Mentalität des wohlerzogenen Individuums ist geprägt vom Beharren auf einmal gefaßten Vorurteilen, einmal vertrauten Gebräuchen und einmal eingeübten Verhaltensweisen; unverblümt geht die Rede vom Menschen als Gewohnheitstier, ganz so, als sei seine herausragende Fähigkeit nicht die Freiheit des Geistes, sondern Rechthaberei und Unbelehrbarkeit. »Ich bin alt genug«, verkündet stolz der Fix- und Fertigerzogene, »ich bin doch kein Kind mehr«, und setzt offen seine Ehre darein, mehr Denkarbeit in die Vertuschung oder Rechtfertigung seiner Fehler zu investieren als in deren Korrektur. Schlägt das Schicksal zu und zwingt ihn zu neuen Einsichten, so tut er alles, um nichts tun zu müssen, keine Konsequenzen zu ziehen, keine neuen Entscheidungen zu treffen, nichts zu lernen.

      Die Autoren untermauern ihre Befunde mit zahlreichen Beispielen, von den Liebenden, die aneinander herummeckern, über die Lehrenden, die die Lernfreude zerstören, bis hin zu den Politikern, die ausgerechnet unter den machtgierigsten Egozentrikern erwählt wurden, um dem Gemeinwohl zu dienen, obwohl jedem klar ist, daß sie die Bürger nur ausplündern und an der Nase herumführen können. Aber die Einzelheiten des sprichwörtlichen »alltäglichen Wahnsinns« möchten wir unseren Leserinnen und Lesern ersparen. Jedenfalls zeigt der erste Teil des Buches »Das Leben als dauernde Trotzphase« eindrucksvoll, wie leicht es möglich ist, die moderne Welt als Tollhaus zu beschreiben, in dem fast immer genau das Unvernünftigste geschieht und das Gegenteil des (angeblich) Beabsichtigten erreicht wird.

      Im zweiten Teil wird dann geschildert, wie die Menschen von frühester Kindheit an auf dieses Leben vorbereitet, ja »hingetrimmt« werden. Und hier finden sich zahlreiche Beobachtungen, die auch für unser Buch von Bedeutung sind. Allgemein gesagt wird den Kindern die Vernunft systematisch unsympathisch gemacht, indem die Erwachsenen ihnen das Vernünftige mehr oder weniger gewaltsam aufzwingen. In den Gehirnen der Kinder verkoppelt sich zwangsläufig das Vernünftigsein mit dem Gehorsam. Die Kinder wurden »zur Vernunft (französisch: raison) gebracht«, das heißt zur Unterordnung, zum Nachgeben. Dies verletzt natürlich


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