Verräter. Mathias Schreiber

Verräter - Mathias Schreiber


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die durch eine weitere Entführung – diesmal eines kompletten Urlauber-Jets namens »Landshut« – endlich erzwungen werden sollte, gescheitert war: an der Weigerung der deutschen Regierung, Baader und die anderen Terroristen freizulassen. Möglicherweise hätte man Schleyer laufen lassen, wäre die »Landshut«-Erpressung erfolgreich gewesen.

      Die entführte »Landshut« wurde in Somalia von einer Spezialeinheit der Bundeswehr (GSG 9) gestürmt, wobei drei der vier palästinensischen Entführer zu Tode kamen. Den Flugkapitän Jürgen Schumann hatten die Entführer erschossen, nachdem er sich bei einer Zwischenlandung im südjemenitischen Aden eine Stunde vom Flugzeug entfernt hatte – sie verdächtigten ihn eines versuchten Verrats und wollten ein Exempel statuieren, um die 86 Passagiere einzuschüchtern. Nach dem Scheitern der Entführung erschossen sich Baader und Jan-Carl Raspe mit – von Anwälten eingeschmuggelten – Pistolen, wobei Baader so in sein Genick zielte, dass es wie der Schuss eines Fremden, also wie Mord, wirken sollte. Gudrun Ensslin erhängte sich mit einem Kabel an einem Fensterkreuz. Auf dieselbe Art hatte sich Ulrike Meinhof ein Jahr zuvor umgebracht – an eben diesem Fensterkreuz. Irmgard Möller stach sich viermal in die Brust, überlebte dann aber nach einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus.

      Zu der Vorgeschichte dieses düsteren Jahres 1977 gehört der bis heute nicht völlig aufgeklärte Tod des Berliner Ethnologie-Studenten Ulrich Schmücker. Der 22-jährige junge Mann wurde sterbend, in der Nacht vom 4. auf den 5. Juni 1974, im Berliner Grunewald von amerikanischen Soldaten gefunden. Schmücker hatte an mehreren Bomben-Anschlägen der »Bewegung 2. Juni« teilgenommen. Er wurde bald erwischt und inhaftiert. Im Gefängnis wurde er mehrfach von einem Mitarbeiter des Berliner Landesamtes für Verfassungsschutz besucht, der ihn als V-Mann gewann. »Sie brauchen ja Ihre Genossen nicht zu verraten«, sagte der Verfassungsschützer zum Auftakt der folgenreichen Beziehung, »ich will nur allgemeine Informationen über die linke Szene haben.«3 Schmücker hat das verräterische Doppelspiel nicht überlebt: Die Kollegen der Terror-Organisation, kaum hatten sie dieses Doppelspiel bemerkt, beschlossen seine Hinrichtung. Dies war das Ergebnis eines »Volkstribunals«: »eine Aktion gegen einen Verräter«, wie das Gruppenmitglied Jürgen Bodeux später bei einer Vernehmung zu Protokoll gegeben hat. Schmücker war zwischen die Fronten von Geheimdienst und Terror-Organisation geraten und hatte sich dabei fatal verirrt. Eine linke Berliner Zeitschrift resümierte später: Die Erschießungs-»Aktion« Schmücker stoße »bei vielen Genossen« auf »Ekel«, dabei sei doch der »Abscheu gegen Verräter allgemein, und niemand wird wohl einer revolutionären Gruppe bestreiten, sich gegen Verräter schützen zu müssen«. In einem »Offenen Brief an die Bewegung 2. Juni« diskutierten damals einige »Genossen« der Terroristen, »wie man Verräter auslöscht« und »wie aus Genossen Verräter werden«. Diese und andere Versuche der Szene, sich von der Hinrichtung Schmückers – laut Mitkämpfer Till Meyer ein »Würstchen« – ein wenig zu distanzieren, wurden durch ein anderes Mitglied der Bewegung, Inge Viett, als Verstöße gegen die »Gruppensolidarität« verurteilt; und Frau Viett fügte hinzu: »Wir waren es nicht, aber wir distanzieren uns auch nicht davon.« Der Verdacht, in Wahrheit habe die andere durch Schmücker verratene Partei, Leute vom Verfassungsschutz, diesen liquidiert, aber so, dass es nach einem Fememord der »Bewegung 2. Juni« aussah, wurde nie befriedigend widerlegt, allerdings auch nicht bewiesen.

      Schmückers Verrats-Geschichte ist der typische Fall des Doppelagenten, der ertappt wird. Seinem Tod kann selten ein Täter eindeutig zugeordnet werden, denn der Doppelagent hat ja nicht einen, sondern zwei Todfeinde, die als Täter in Frage kommen.

      Der Doppelagent ist die Bestätigung der These, Geschichte und Politik seien im Grunde Dschungel und Chaos, folglich müssten alle Versuche scheitern, Strukturen oder gar lineare Entwicklungen darin zu finden, etwa im Sinne eines historischen Fortschritts in Richtung Freiheit und Gerechtigkeit. Er ist auch der natürliche Feind jeder Moralphilosophie, die auf erkennbare Fronten zwischen den Gerechten und den Bösen baut und letztlich die Weltgeschichte als »Weltgericht« (Schiller) versteht. In der Horde der Agenten, Überläufer, Spielernaturen, Hochstapler, Heuchler und Intriganten, die nicht einmal mit sich selbst identisch sind, verliert die Geschichte leicht jenen roten Faden, den auf Sinn versessene Historiker immer wieder in ihr suchen.

      Geradezu ideale Bedingungen für das Gewusel jener zwielichtigen Gestalten bot der Kalte Krieg, der den Zweiten Weltkrieg fast ein halbes Jahrhundert lang auf leisen Sohlen fortsetzte, wenn auch mit veränderten Fronten. Er hat das Verhältnis zwischen dem von der Sowjetunion dominierten Teil Europas und den Westmächten so vergiftet, dass Misstrauen und Verrat zum alltäglichen Leben gehörten wie der Schatten zum Licht. Als östlichster Vorposten des Westens nahe dem sowjetisch beherrschten Teil des Kontinents lagen Österreich und insbesondere Wien im Fadenkreuz westlicher wie östlicher Geheimdienste. Carol Reeds Film »Der dritte Mann« (1949), gedreht nach einem Roman des Ex-Agenten Graham Greene, verdichtet meisterhaft die unheimliche Atmosphäre in der damals in vier Besatzungszonen aufgeteilten Stadt, wo sich Schwindler und Verräter jeglicher Couleur tummeln. Faszinierend ist die schattenhaft auftauchende und wieder verschwindende Figur des dubiosen, illegalen Penicillin-Händlers Harry Lime. Er verrät seine tschechoslowakische Freundin Anna, die inkognito, mit gefälschten Papieren, in Wien lebt, an den sowjetischen Geheimdienst. Die von einer suggestiven Zithermelodie untermalte, in einer atemlos expressiven Bildsprache gedrehte Jagd der Polizei auf Harry durch die düstere Unterwelt der Wiener Kanalisation wird zur Metapher einer rast- und ratlosen, undurchsichtigen Welt des epochalen Übergangs.

      Erst 1955 wurde Österreich als neutrale Republik von den west-östlichen Besatzungsmächten offiziell in seiner staatlichen Unabhängigkeit anerkannt. In dieser turbulenten Zeit entschied sich das Schicksal des 20-jährigen tschechoslowakischen Stabsunteroffiziers Jan Masek. Er war Mitglied der Grenztruppen und deshalb durchaus vertraut mit den tödlichen Elektrozäunen, Schießbefehlen und anderen Besonderheiten des Eisernen Vorhangs. Masek stammte vom Land und hing an seiner Mutter, die ihn allein großgezogen hatte. Als sie erkrankte, wollte er das Militär verlassen und seine Mutter unterstützen. Das wurde ihm aber nicht erlaubt; er verließ dennoch die Kaserne, um zu seiner Mutter zu reisen. Als er zurückkehren wollte, wurde er gewarnt, ihm drohe eine harte Strafe. Daraufhin floh er über die Grenze nach Österreich und vertraute sich britischen Mitgliedern der lokalen Wiener Sicherheitspolizei an, die im Dienst des britischen Geheimdienstes MI6 (Military Intelligence, Section 6) standen und sozusagen für das Grobe zuständig waren. Er wurde fünf Tage verhört und dem in Schönbrunn residierenden MI6 zugewiesen, weil er wichtige Details über die Integration der tschechoslowakischen Armee in das Militär der Sowjets kannte.

      Kurz bevor man ihn nach Australien ausreisen lassen wollte, brauchte der MI6 plötzlich einen kundigen Kurier, der ein speziell präpariertes Radio über die Grenze schmuggeln sollte – für ein Widerstandsnest, das in jener Gegend agierte, aus der Masek stammte. Die Tschechoslowaken hatten kurz zuvor mehr als 60 professionell trainierte Widerstands-Kuriere der Briten enttarnt und gefangengenommen. So war Masek ein willkommener Bote, obwohl eigentlich zu unerfahren. Er war auch zu labil: Er überwand die Grenze und überbrachte das Gerät auftragsgemäß, ignorierte dann aber die strikte Anweisung der Briten, unverzüglich nach Wien zurückzukehren und nicht etwa seine Mutter zu besuchen, da sie beschattet werde. Sein Besuch könne leicht von Dorfbewohnern, die sich gern als Informanten des Geheimdienstes ein Zubrot verdienten, verraten werden.

      Wenig später meldete ein Wiener Lokalblatt, die Tschechoslowaken hätten einen britischen Spion erwischt. Auf einer tschechoslowakischen Liste von etwa 40 westlichen Spionen, die wegen ihrer Aktionen oder Agitationen gegen den Kommunismus hingerichtet wurden, tauchte schließlich auch der Name des Jan Masek auf. Dabei war Masek »bloß ein einfacher Mann, der seine Mutter sehen wollte«, wie der BBC-Mitarbeiter Gordon Corera, der den Fall recherchiert hat, anrührend formuliert.4

      Der Überläufer im Kalten Krieg hat viel mit dem Deserteur im Krieg gemeinsam. Die Fronten zu wechseln, ist in jedem Fall physisch, aber auch moralisch riskant. Siegfried Lenz, einst selbst Kriegsteilnehmer und Deserteur, schildert in seinem atmosphärisch bedrängenden Romanerstling »Der Überläufer« (postum 2016 publiziert) dieses Risiko so: Im letzten Sommer des Zweiten Weltkriegs wechselt der von der »abscheulichen Klicke« der Nazis desillusionierte deutsche Wehrmachts-Soldat Walter Proska die Fronten, beeinflusst von einem anderen Überläufer, der sich selbst mit Judas vergleicht, beflügelt auch durch die


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