Verräter. Mathias Schreiber

Verräter - Mathias Schreiber


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folgt. Die Flucht von den »Bösen« zu den »Gerechten« macht Proska, den moralischen Helden, aber auch schuldig, weil er als Verbündeter der Partisanen versehentlich seinen Schwager erschießt. Am Ende verlässt er auch die Gerechten: Ihre sozialistische Überwachungs-Diktatur, unter der ihm, dem notorischen Zweifler, wegen irgendeiner Denunziation die Verhaftung droht, verängstigt ihn; in einem abenteuerlichen Kraftakt kriecht und rennt er bei Nacht, durch Schlamm und Gestrüpp, knapp vorbei an russischen Wachtposten, auf den Weg in den Westen. So verrät er gewissermaßen den eigenen Verrat. Dabei verliert er die Verbindung zu der Mutter seines Kindes ebenso wie die zu seiner geliebten Schwester Maria – seine komplizierte Verratsgeschichte endet zwar in der Freiheit, aber auch im Selbstverlust.

      Jan Masek war als Informant über die militärischen Strukturen des kommunistischen Ostblocks im Westen willkommen, im totalitären Osten aber galt er als Systemfeind, dem die Todesstrafe drohte. Dass ihm diese extrem gegensätzliche Bewertung seines Tuns bewusst war, darf man annehmen. Die psychische Anspannung, die daraus für ihn folgte, mag ihn unvorsichtig gemacht haben.

      Ganz einfach und eindeutig ärmlich ist in dieser Geschichte der Verrat der Dorfbewohner, die dem tschechoslowakischen Geheimdienst geflüstert haben, dass Masek zu Besuch bei seiner Mutter weilte – ohne Not, nur aus Geldgier. Diese Charakterlosigkeit wollen wir nicht perspektivisch relativieren. Der Verrat an Masek, mit tödlicher Folge, ist eindeutig abscheulich, seine eigene Verräter-Rolle wird je nach dem Standpunkt des Betrachters gegensätzlich bewertet – wie fast bei allen Überläufern im Krieg. Der Befund, abscheulich zu sein, ist jedenfalls nicht die ganze Wahrheit dieses Verrats.

      »Verrat trennt alle Bande«, heißt es in Schillers Drama »Wallensteins Tod«. Der böhmische Feldherr Wallenstein, im Dreißigjährigen Krieg des 17. Jahrhunderts zunächst erfolgreich im Dienst des katholischen Kaisers, wurde wegen eigenmächtiger Verhandlungen mit dem protestantischen Gegner des »Hochverrats« angeklagt und von wahrscheinlich irischen Söldnern des Wiener Hofes heimtückisch mit der Lanze ermordet. Er hatte die Bande zum Kaiser allzu sehr gelockert, heimlich vielleicht sogar gekappt. Die Entscheidung zu diesem Verrat war eine Entscheidung für das protestantische Nordeuropa – für die Zukunft.

      Die Frage drängt sich auf: Ist das Durchtrennen der Bande immer von Übel? Auch dann, wenn Kinder sich gegen die Gewohnheiten und Ideale ihrer Eltern wenden, diese insofern auch verraten? Ist nicht so mancher Partner einer unglücklich gewordenen Ehe nach der Auflösung dieses eigentlich unkündbaren Bündnisses, also nach dem Verrat am Liebespakt mit dem anderen Partner, erst richtig aufgeblüht? Das verräterische Trennen der Bande ist nicht selten auch eine segensreiche Abweichung von fragwürdig gewordenen Gewohnheiten, Vereins-Verpflichtungen oder sogar Normen. Der Philosoph Arnd Pollmann schreibt: »Der couragierte ›Whistleblower‹, der auf die Gefahr hin, seinen Job zu verlieren, brisante Informationen über illegale Machenschaften innerhalb seiner Firma, Organisation oder Dienststelle weitergibt, ist kein Verräter.«5 Mögen auch diejenigen, die sich von ihm verraten fühlen, ihn als »Nestbeschmutzer« verachten, so könne er für die Außenstehenden »sogar ein Held sein, der einen Preis für Zivilcourage verdient« – so Pollmann. Dass der mutige Whistleblower kein Verräter sei, ist wohl eine allzu sonnige Sicht. Die Institution, aus der er als illoyaler Insider Brisantes ausplaudert, wird jedenfalls von ihm hereingelegt. Es könnte allerdings sein, dass der so verratene Inhalt bedeutend für das Wohlergehen der Menschheit ist, und in diesem Fall wird es schwierig, den Verrat als solchen moralisch einzuordnen – was wir im folgenden dennoch versuchen werden.

      »Whistleblower« heißt eigentlich, gemäß der Redewendung »to blow the whistle on someone«, soviel wie: etwas Geheimes öffentlich machen, jemanden sozusagen verpfeifen, aber zu einem Zweck, der – nach Einschätzung des Verpfeifenden – der Allgemeinheit dient. In Geheimdienstkreisen heißen Verräter sachlich »Informanten« – schon hier beginnt die Täuschung, sie funktioniert wie der ideologisch verordnete »Neusprech« in George Orwells Roman »1984«. Die sogenannten Informanten müssen so auftreten und wirken wie die trügerische Bezeichnung ihrer Tätigkeit: unauffällig, keinesfalls irgendwie aufregend oder abweichend.

      In einer Fernsehreportage der BBC über Scotland Yard und andere Geheimdienste der britischen Inseln, die im Sommer 2016 auch von »Spiegel TV« ausgestrahlt wurde, bekennt ein – unkenntlich gemachter – jüngerer Spion: »Man muss in meinem Beruf wie ein Niemand aussehen.« Der Akteur richtet sich nach dem Motto des britischen MI6, man könne am besten die Geheimnisse der anderen stehlen, wenn man gleichzeitig die eigenen hüte, und zwar so erfolgreich, dass die Leute glaubten, so etwas wie der MI6 »existiere überhaupt nicht«6. Welches Profil aber hat ein »Niemand«, der niemandem auffällt, gleichzeitig aber die Einsicht über sich selbst aushalten muss: »Man lebt eine Lüge«, wie eine Agentin in dem erwähnten BBC-Film gesteht? Er hat am liebsten gar kein Profil. Diese Gesichtslosigkeit ist für sich bereits anrüchig, daran ändert ihr Spionage-Erfolg nichts.

      SITTLICHKEIT (oder Moralität) meint eine Haltung der uneingeschränkten Verbindlichkeit. Für diese Haltung werden die Maßstäbe gesetzt durch Prinzipien wie Gerechtigkeit, Achtung der Menschenwürde, Wahrhaftigkeit, Rücksichtnahme, Hilfsbereitschaft, Verlässlichkeit. Ein zentraler Wert ist die Vertragstreue im privaten wie öffentlichen Miteinander – der Grundsatz »Pacta sunt servanda« (Verträge sind einzuhalten) gilt seit dem Mittelalter, mag er auch noch so oft missachtet worden sein. Solche Prinzipien haben für den sittlich orientierten Menschen klaren Vorrang gegenüber dem praktischen Vorteil oder wirtschaftlichen Nutzen wechselnder Opportunität. Von hier aus gesehen ist Verrat an sich unsittlich. Er verweist auf eine Haltung fundamentaler Unzuverlässigkeit. Der Verräter kümmert sich in der Regel nicht um die Geltung moralischer Grundsätze, er bringt es sogar fertig, den Schein der Moralität als Maske für eine heimlich begangene Schurkerei zu missbrauchen. Dabei ignoriert er allgemeine Grundsätze des Humanen und schadet zugleich ganz konkret einzelnen Menschen. Jene Verrats-Delikte, die milder beurteilt werden müssen, sind nicht die Regel, sondern Ausnahmen. Sie sollten nicht dazu missbraucht werden, den üblen Regelfall zu verharmlosen.

      Im Mittelhochdeutschen hat das Verb »verraten« mehrere Bedeutungen: »durch falschen Rat irreleiten, verführen, vernichten, einen Anschlag machen gegen«; es gibt aber auch schon den heutigen Gebrauch des Wortes: »verraten« – ein Geheimnis preisgeben zum Schaden eines anderen oder einer größeren Gruppe. »Verräter« heißt auch »Wahrsager« – der verrät das Geheimnis des Kommenden.1 Jeder Verrat ist ein Vertrauensbruch, der Anschlag auf ein »Verhältnis der Loyalität«, wie der Schriftsteller und Jurist Bernhard Schlink formuliert.2 Zu der Beziehung zwischen dem Verräter und dem Verratenen (das kann auch ein Prinzip oder eine Partei sein) gehört ein Dritter (das kann auch eine Institution sein); ein Dritter, der von dem Verrat profitiert, der den Verräter belohnt und den Verratenen notfalls tötet oder anders bestraft.

      Meistens zerbricht der Verräter ein über längere Zeit entwickeltes, darum relativ intensives Verhältnis der Loyalität oder des Vertrauens. Denn ohne tiefere Vertraulichkeit dürfte der Verratene dem Verräter kaum heikle Informationen anvertraut haben, und nur heikle Informationen sind ja wertvoll. Der Verrat bedeutender Geheimnisse ist deshalb fast immer zugleich Freundesverrat. Der Verräter missachtet das Gebot der Treue zu Freunden, die ihm vertrauten; aber auch zu sich selbst, sofern er beansprucht, ein verlässliches, freundschaftsfähiges Mitglied der Gesellschaft zu sein. Der Begriff der »Treue«, wenn er mehr meint als die emotionale Bindung zwischen vertrauten Menschen, benennt eine »unveränderlich gewissenhafte Gesinnung«3. Fremde Personen kann man, etwa bei der Polizei, wegen irgendeines Vergehens anzeigen, also verraten, aber der Begriff des Verrats trifft hier eher technisch zu. Im Sinne des moralisch partout Verwerflichen passt er nur in Fällen schlimmer Denunziation, etwa von Oppositionellen an ein Unrechtsregime. Zu Opfern eines fundamentalen Verratsgeschehens »taugen nur diejenigen, die aufgrund einer bestehenden Vertrauensbeziehung kategorisch damit rechnen dürfen, dass die Treue – koste es, was es wolle – gehalten werde«, so Arnd Pollmann.4 Demnach besteht der Verrat aus der einseitigen Aufkündigung dieses Treueverhältnisses, etwa durch die Preisgabe bedeutender Fakten, die aus der Sicht des Verratenen geheim hätten bleiben müssen. Durch die Weitergabe der geheimen Informationen an Dritte (oder eine Institution) wird aus dem ursprünglichen Treueverhältnis


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