Verräter. Mathias Schreiber
Denunzianten, die auch ihnen fremde Personen an ihre Führungsoffiziere der Staatssicherheit verpfeifen. Sobald die Verratenen dem Verräter mehr oder weniger nahestehen, werden aus den schlichten Denunzianten Verräter von bisweilen dramatischer Intensität, die etliche Akteure in die moralische Selbstzerstörung geführt hat. Der Fall des Dichters Sascha Anderson ist in dieser Hinsicht besonders krass.
Der 1953 geborene Lyriker und Layouter hat von 1975 bis zum Ende der DDR 1990 – nach 1986 sogar von West-Berlin aus – über Autoren und Künstler, mit denen er im Rahmen der berühmten, als rebellisch geltenden Berliner »Prenzlauer-Berg-Szene« befreundet war, zum Teil intimste Details an die Staatssicherheit berichtet. Er war unter verschiedenen Decknamen wie »David Menzer« oder »Peters« fest verpflichteter »Inoffizieller Mitarbeiter« (IMB – das »B« steht für »Feindberührung«) des DDR-Spitzelapparates. Einige Male hat er die von ihm Bespitzelten auch noch durch Affären mit deren Ehefrauen zusätzlich betrogen und so allerlei Intimes ausgespäht; so im Fall des Liedermachers Ekkehard Maaß, bei dem er eine Weile wohnen durfte. Zu den von ihm Observierten gehören der Maler Ralf Kerbach sowie die Schriftsteller Elke Erb, Wolfgang Hilbig und Uwe Kolbe.
Mit der politisch unbequemen, originellen Malerin Cornelia Schleime, die er ebenfalls regelmäßig und gründlich für die Stasi abgeschöpft hat, war er jahrelang in einer engen Liebesbeziehung verbunden. Schleime hat darüber eindrucksvoll zornig geschrieben in dem Roman »Weit fort« (2008). Aufgedeckt wurde Andersons Stasi-Karriere im Herbst 1991: Erst durch die satirische Titulierung als »Sascha Arschloch« in Wolf Biermanns Dankrede für den Georg-Büchner-Preis; und dann in einer fünfteiligen »Spiegel«-Serie »Landschaften der Lüge« von Jürgen Fuchs. Der Autor und Psychologe Fuchs (1950 bis 1999) konnte aus echten Stasi-Akten zitieren und alle Vorwürfe gegen Anderson belegen, aus Akten, die in der Wendezeit 1989/90 von DDR-Bürgerrechtlern gesichert worden waren – viele Unterlagen hatte die Stasi selbst 1989 ja noch eilends geschreddert. Biermann hat Andersons Verstrickung als erster öffentlich angesprochen. Er wurde daraufhin von Günter Grass als Großinquisitor attackiert, auch sonst nahm die deutsche Feuilletonpresse (etwa »Die Zeit«) den Angriff des wortmächtigen Liedermachers auf einen »dadaistelnden« (Biermann) Nachwuchs-Lyriker überwiegend recht ungnädig auf, indem sie Biermann unterstellte, er übertreibe und für seine Behauptung fehlten ihm die Beweise. Als die im »Spiegel« publizierten Aktenvermerke diese Beweise – den entscheidenden teilte man mit ironischem Understatement in einer Fußnote mit – nachlieferten, hat außer einem einzigen Fernsehjournalisten niemand von den Bedenkenträgern bei Biermann Abbitte geleistet. In seiner Autobiographie »Warte nicht auf bessre Zeiten!«7 vermutet Biermann wohl zu Recht, der Grund dafür könne, neben dem »Ethos der Unschuldsvermutung«, nicht zuletzt »die Kränkung« gewesen sein, »auf einen politischen Trickbetrüger reingefallen zu sein«. Anderson war – ausgerechnet – Anfang der 1970er Jahre wegen der Verbreitung einiger Biermann-Texte auf Flugblättern vorübergehend inhaftiert worden. Wahrscheinlich hatte die Staatssicherheit bei dieser Gelegenheit seine Anwerbung eingeleitet. Anderson war als Spitzel keine kleine »Feldmaus« (Günter Kunert zu Beginn der Affäre), sondern für Stasi-Chef Mielke »ein Superspitzel«, wie Jürgen Fuchs bezeugt hat, der selbst von diesem Spitzel noch in West-Berlin bearbeitet wurde. Anderson lebt heute im Taunus als Layouter und ist verheiratet mit der Schriftstellerin Alissa Walser.
Bernhard Schlink8 urteilt, die Schärfe und Verachtung, mit der Biermann Andersons Doppelleben als Künstlerfreund und Spitzel anprangerte, habe seinerzeit »gewirkt, als stamme sie aus einer anderen Zeit, einer Zeit der tieferen Loyalitäten, tieferen Überzeugungen und größeren Leidenschaften«. Schlink: »Die große Zeit des Verrats ist vorbei«, denn vorbei sei auch die Zeit der »großen Loyalitäten«, in denen sich »unsere Identität« konstituiere und ihre »Wahrheit« zeige und bewähre. Loyalitäten würden heute – parallel zum schleichenden Vertrauensschwund gegenüber traditionellen Institutionen und Verpflichtungen – »leichter genommen« als früher. Entsprechend verliere die Ächtung des Verrats viel von ihrer alten, normativen Kraft. Letztlich beweise die Empörung über Verrat nur noch die »Sehnsucht nach der tiefen Überzeugung«, die es kaum noch gebe. Schlink verrät, indem er bei dieser Gelegenheit von der vergleichsweise harmlosen Partner-Verletzung durch den »Seitensprung« spricht, dass er die Entwicklung, die er teilweise korrekt beschreibt, letztlich nicht so schlimm findet und insofern in ihrer Bedeutung klar unterschätzt.
Nicht nur Wolf Biermann, den vor allem das anfänglich hartnäckige Leugnen Andersons erzürnt hat, und Cornelia Schleime dürften die Sache anders beurteilen als Schlink. In seiner Autobiographie betont Biermann noch einmal, im Kapitel über die Anderson-Enthüllung, »wie wichtig die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen ist«9 – allein die Stasi-Akten, die Biermann selbst betreffen, umfassten, als er sie 1992 erstmals musterte, 50 Ordner und darin rund 20 000 Blatt. Mehr als 200 Spitzel waren es, die regelmäßig oder gelegentlich Berichte über Biermann verfasst haben, als Beigaben zum »Zentralen Operativen Vorgang« (ZOV) unter dem Codewort »Lyriker«. Die Berliner Behörde für die Stasi-Unterlagen (BStU) verwaltet eine Aktenmenge, die aufgereiht eine Strecke von 111 Kilometern füllt. Solange dies bedrückende Erbe der zweiten Diktatur auf deutschem Boden nicht vollständig mit der Akribie und dem Ernst, die von vielen Betroffenen eingefordert werden, aufgearbeitet ist, geht die große Zeit des Verrats nicht vorüber, wie Schlink denkt. Sie bleibt vielmehr deprimierend virulent, besonders wenn man sich vergegenwärtigt, dass viele Opfer und Täter noch leben; und dass etwa die parallel zu würdigenden Stasi-Akten von Diktaturen wie der sowjetischen immer noch überwiegend unzugänglich sind.
Auch Vera Lengsfeld dürfte kaum bereit sein, auf den Stasi-Verrat mit mildem Lächeln zurückzublicken. Die Berliner Politikerin und Publizistin, die zu DDR-Zeiten Mitglied der aufsässigen Bewegung »Kirche von Unten« war, wurde jahrelang von ihrem eigenen Ehemann, dem dänischen Lyriker Knud Wollenberger, an die Stasi verraten, was zugleich eine persönliche und eine politische Schweinerei gewesen ist. Sie hat sich scheiden lassen und nach der Lektüre ihrer umfangreichen Stasi-Akte das Buch »Virus der Heuchler« (1992) veröffentlicht, das deutlich macht, wie unfassbar sie den jahrelangen Verrat an ihrer Seite fand, als sie ihn entdeckte. Und das ist er ja bis heute: einfach unfassbar.
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