Tradition. Katherine V. Forrest
Yogacenter sowie ein Verpackungsbetrieb.
Kate hielt alles säuberlich in ihrem Notizbuch fest. Dann ging sie zurück zum Tradition und tauchte unter dem Absperrband durch, um das Restaurant näher in Augenschein zu nehmen.
Weiße Fensterläden schmückten die untere Hälfte des Frontfensters, gobelinartige Vorhänge die obere. Ein kleiner wolkenförmiger Baldachin in Dunkelblau beschirmte die Tür, deren Glasscheibe mit dem gleichen Vorhangstoff verziert war wie das große Fenster.
Neben Sergeant Fred Hansen, der den Eingang bewachte, lehnte Taylor an der Außenfassade des Tradition und unterdrückte gerade ein weiteres Gähnen. Hansen, eine Hand auf dem Pistolenhalfter, in der anderen sein Klemmbrett, sah ihr entgegen. Sie nickte ihm zu: »Morgen, Fred.«
»Morgen, Kate.« Hansen erwiderte das Nicken und konsultierte mit düsterer Miene sein Klemmbrett. »Das Opfer heißt Edward Ashwell Crawford, weiß, männlich, genannt Teddie, T-e-d-d-i-e, laut Aussage seines Geschäftspartners.« Er deutete hinter sich. »Hübsches kleines Lokal mit angeschlossenem Partyservice.« Seine düstere Miene wurde weicher. »Netter kleiner Laden. Hätte nichts dagegen, selbst so was zu haben.« Der weiche Ausdruck auf seinem Gesicht verflüchtigte sich. »Abgesehen von der Küche. Wirklich idyllisch da drin. Sein Partner ist einmal durch den ganzen Raum geschliddert, um zu sehen, ob das Opfer noch am Leben ist.«
»Großartig«, murmelte Taylor. Er knöpfte sein Plaid-Jackett auf, zupfte an den Ärmeln und schob die Hände in die Taschen.
Kate kannte dieses nervöse Gezupfe nur zu gut – Taylor wappnete sich für das, was in der Küche des Tradition auf sie wartete. »Sonst noch was?«, fragte sie Hansen mit einer Brüskheit, die aus ihrer eigenen Anspannung resultierte, eine vertraute und notwendige Selbstschutzreaktion.
Hansen schüttelte den Kopf. »Der Partner ist völlig fertig, ich konnte nicht viel aus ihm rauskriegen.« Er deutete auf einen der Streifenwagen, der vor dem gelben Absperrband parkte. Im Fond saß ein Mann, den gebeugten Kopf in den Händen vergraben. »Pierce, Swenson, Foster und Deems überprüfen gerade die Umgebung, aber abgesehen vom 7-Eleven ist noch überall geschlossen. Hinter dem Restaurant gibt es eine kleine Allee. Sie wird gerade unter die Lupe genommen. Ich schätze, das Opfer ist schon seit ein paar Stunden tot. Das Blutbad da drin ist bereits am Eintrocknen.«
»Danke, Fred«, sagte Kate.
Hansen öffnete die Tür zum Tradition.
Eine Theke mit einer altmodisch verschnörkelten Registrierkasse füllte den vorderen Teil des langgestreckten Raums aus. An der Längswand befand sich eine gläserne Kühlvitrine. Sie war leer, aber die aufgeklebten handschriftlichen Schilder zeigten an, was hier eigentlich zur Auswahl stehen sollte: Limonenpasta mit Kräutern, gefüllte Weinblätter, Hähnchenbrust Dijon, Krabbensalat, buntes Gemüsebouquet.
Der hintere Teil des Lokals lag im Dunkeln, man konnte jedoch acht kleine Tische mit Tischtüchern erkennen, einen verschlissenen Orientteppich und kunstvoll verschnörkelte Eisenstühle mit gepolsterten Sitzflächen. Drei impressionistische Landschaftsbilder leuchteten traumartig aus dem Schatten hervor. Taylor sah sich um, kratzte die kahle Stelle an seinem Hinterkopf und drapierte einige helle blonde Haarsträhnen darüber. »Ziemlich halbseiden«, verkündete er.
Kate gefiel das Lokal, die sanfte Noblesse, die sich wohltuend vom lauten Kommerz der Straße abhob. Sie vermutete, dass das Restaurant eine treue Stammkundschaft anzog, die den unprätentiösen Charme zu schätzen wusste. Sie ging zur Theke und hielt einen Moment inne, um eine Karte in einem kleinen Weidenkorb zu lesen:
Tradition
Partyservice für Anspruchsvolle
Sie richtete sich auf, straffte die Schultern und ging auf die Tür hinter der Theke zu. Von der Türschwelle aus überflog sie zunächst mit schnellem Blick den Raum und begann sich dann sorgfältig umzusehen.
In der Mitte der Einbauküche, die mit zwei rostfreien Stahlspülen, resopalbeschichteten Arbeitsflächen und einem eingebauten Kühlschrank ausgestattet war, stand ein großer Tisch für die Essenszubereitung. Makellos, dachte Kate. Alles, was aus dieser Küche kam, würde sie bedenkenlos essen. Langsam ließ sie den Blick sinken, erforschte den Raum Abschnitt für Abschnitt, wie ein Kameraobjektiv. Der Schrank und die Wände waren strahlend weiß, abgesehen von einer recht umfangreichen Fläche direkt neben der Spüle, wo sich ein Muster von leuchtend roten Bögen und Spritzern mehrere Fuß hoch auf der Wand abzeichnete. Nah an der Fußleiste zog sich eine schmierige rote Spur entlang, als ob jemand mit der Hand darübergewischt hätte.
»Der Typ muss restlos ausgelaufen sein«, brummelte Taylor hinter ihr von der Türschwelle.
Sie senkte den Blick auf den glänzenden Fliesenboden. Der Leichnam von Edward Ashwell Crawford lag in einer riesigen Blutlache, die an den Rändern zu Rinnsalen zerfloss. In den Längsrillen zwischen den weißen Fliesen staute sich das Blut noch mehrere Fußbreit um die Leiche. Weitere vereinzelte Pfützen und Fußabdrücke bedeckten den übrigen Boden. Bei einigen der Fußspuren war deutlich zu erkennen, dass jemand auf dem glitschigen Untergrund ausgerutscht sein musste. Die schwarze Hose des Leichnams war blutgetränkt. Zwischen den Fetzen eines zerrissenen Hemds, das dunkelrot verfärbt an seinem Körper klebte, sah man an einigen Stellen weiße Haut hervorschimmern. Nur an einer Ecke des Kragens konnte Kate noch die ursprünglich weiße Farbe des Hemdes ausmachen. Teddie Crawfords Arme waren über der Brust verschränkt, als wollten sie das ausströmende Blut zurückhalten. Die leeren braunen Augen starrten zur Decke.
»Schweizer Käse«, kommentierte Taylor. »Den hat jemand total in Schweizer Käse verwandelt.«
»Es ist unglaublich, wie viel Blut ein Mensch hat«, murmelte Kate.
»Ein verdammt gutaussehender Junge«, verkündete Taylor.
Kate, die sich fragte, woran er das erkennen wollte, betrachtete den Körper genauer. Der Kopf lag in einer Blutlache, und das zerwühlte Haar, dunkel und kräftig, war davon durchtränkt; das kalkweiße Gesicht mit roten Tröpfchen bedeckt. Und doch – der Kopf war wohlgeformt, das Gesicht schön geschnitten. Lange dichte Wimpern umrahmten die starren, dunklen Augen, die Nase war aristokratisch geschwungen. Die Lippen wirkten selbst in der Starrheit des Todes noch voll und sinnlich, der Rumpf war schlank und wohlgeformt. Kate betrachtete die blutgetränkten Hände, die auffällig schmalen und feingliedrigen Finger des Opfers. Taylors Wahrnehmung inmitten dieses grausigen Blutbads überraschte sie. »Ja, du hast recht«, pflichtete sie ihm bei. »Äußerst gutaussehend.«
Und schwul. Das fühlte sie mit instinktiver Sicherheit. Sie beugte sich so weit wie möglich über die Türschwelle und betrachtete die Leiche. Die Handfläche wies nach unten, der kleine Finger war unnatürlich abgespreizt. Sie musste diesen Raum unbedingt näher untersuchen, und zwar so schnell wie möglich. Ungeduldig sagte sie: »So ein Mist! Wir können nichts tun, bevor der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung da sind. Wir können nicht mal reingehen.«
Taylor deutete auf die verschmierten Blutlachen und Fußabdrücke. »Was willst du hier noch an Spuren verwischen?«
»Wir sollten es nicht noch schlimmer machen«, sagte Kate lakonisch. Als D-3-Kommissarin in diesem Mordfall trug sie die Verantwortung für die Ermittlungen, sie traf alle wichtigen Entscheidungen am Tatort. »Erst mal müssen Shapiro und Napoleon Carter hier gewesen sein. Vorher geht da niemand rein.«
»Siehst du das da?« Taylor deutete auf den Tisch.
Ein Stückchen Glas glänzte im fluoreszierenden Licht. Die Oberfläche war mit einer puderartigen Substanz bedeckt.
»Koks«, sagte er.
Kate zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich.«
»Eine Party, die außer Kontrolle geraten ist«, sagte Taylor. »Ziemlich außer Kontrolle.«
»Vielleicht«, sagte Kate und betrachtete die starren Augen des Toten. Sie hoffte, dass dieser wunderschöne junge Schwule nicht sterben musste, weil eine Party ›außer Kontrolle geraten war‹.