Pias Labyrinth. Adriana Stern
gezittert. Und dann dieses Ziehen im Bauch. Wie tausend Ameisen, die darin herumkrabbeln. Und schwindlig war mir. Das ist mir noch immer, wenn er mich ansieht.«
»Aha«, sagt Pia gedehnt. »Und das ist Verliebtsein?«
»Pia, jetzt sag bloß, du warst noch nie verliebt?« Überrascht mustert Andrea sie.
Pia guckt schnell weg.
»Ach so, jetzt verstehe ich. Du hast dich verliebt! Na, erzähl schon, wie heißt er, wie sieht er aus, wo und wann hast du ihn kennen gelernt?«
Pia schüttelt stumm den Kopf. Wieder rollen ihr Tränen über die Wangen.
»Unglücklich verliebt?« Andrea streichelt sanft Pias Arm.
Pia nickt.
»Dann erst recht darüber reden.«
Pia schüttelt wieder den Kopf.
»Doch, Pia, das von Phil hast du mir doch auch erzählt, obwohl du es zuerst nicht wolltest.«
Pia sieht sie entsetzt an.
»Ach du Scheiße«, entfährt es Andrea. Sie kneift die Augen zusammen und eine steile Falte bildet sich auf ihrer Stirn. »Phil! Du hast dich in Phil verliebt?«
Pia zuckt zusammen. »Ich weiß nicht. Wirklich nicht.«
»Wolltest du deshalb wissen, ob ich schon mal in ein Mädchen verliebt war?«
»Vielleicht.« Pia zögert. »Mich ödet es jedenfalls schon seit Jahren an, wie die Mädchen um die Jungen rumschleichen. Nur noch daran denken. Aber deshalb bin ich noch lange nicht andersrum«, schließt sie trotzig.
»Richtig«, stellt Andrea fest. »Ich mag auch nicht, wenn Mädchen so sind.« Nachdenklich spielt sie mit Pias kleinem Kuscheltiger. »Ich bin nicht so wie die meisten Mädchen«, fügt sie hinzu.
»Ich weiß«, sagt Pia. »Deshalb mag ich dich ja so gern. Aber warum bist du anders?«
»Na ja, ich lebe in verschiedenen Kulturen, bin keine Deutsche.«
»Ist deshalb auch Nesè anders?«
»Gut möglich. Und du, Pia, was macht dich anders?«
»Darüber denke ich schon seit unserem Kellergespräch nach. Keine Ahnung, wie die Situation in Kolumbien ist, hier in Deutschland jedenfalls werden Riesenunterschiede zwischen Menschen aus der Mittelschicht und Menschen aus der Arbeiterschicht gemacht.«
»Ich dachte mir schon, dass mehr dahinter steckt als du gestern verraten hast«, bemerkt Andrea.
»Die Mädchen hier stammen aus reichen Elternhäusern. Aus der Arbeiterschicht zu kommen bedeutet für sie wahrscheinlich so was Ähnliches wie aus der Türkei zu sein oder aus Kolumbien. Verstehst du? Sie nehmen sich das Recht heraus, auf mich runterzugucken, genauso wie bei dir und Nesè. Meine Art des Andersseins unterscheidet sich von deiner, und Nesè ist noch mal eigen. Wir alle drei sind unterschiedlich, aber von den Mädchen hier werden wir einfach in einen Topf geworfen und ausgegrenzt. Das Internat hat mich sozusagen dafür sensibilisiert, den Mist zu sehen, den sie mit Anderssein verbinden.«
»Wow«, Andrea nickt anerkennend, »hört sich verdammt plausibel an.« Nachdenklich kaut sie auf einer ihrer Haarsträhnen. »Und was machen wir mit Phil?«
»Ich werde abwarten, was sie sagt. Und dann … mal schauen«, wirft Pia vage in den Raum.
»Gehen wir essen«, entscheidet Andrea.
Im Flur zu den Esssälen kommt ihnen Nesè entgegen. »Ich hab gerade Phil getroffen, die sucht dich schon seit Stunden.«
»Da lachen ja die Hühner«, schnaubt Pia. »Sie hat sich nicht an unsere Verabredung gehalten, ich schon.«
Nesè wechselt verwirrte Blicke mit Andrea. »Bahnhof«, sagt sie.
»Kann ich dir so schnell auch nicht erklären«, sagt Andrea entschuldigend.
»Pia, setzt du dich neben mich?« Phil macht ein ernstes Gesicht.
Was soll sie tun? Sie kann den Nachmittag doch nicht einfach ignorieren? Zögernd lässt sie sich auf dem freien Stuhl nieder.
»Ich hab überall nach dir gesucht«, bemerkt Phil.
»Ich vorher nach dir«, kontert Pia und ist ganz froh, dass ihre Stimme wütend klingt.
»Ich hab mir nur mal kurz die Diskothek angesehen, war das etwa nicht erlaubt?«
»Und dein neuer Lover heißt wohl Rainer?« Pia kann sich die Bemerkung einfach nicht verkneifen.
»Und selbst wenn, das hat dich überhaupt nicht zu interessieren«, zischt Phil. »Wie kommst du überhaupt darauf? Nur weil ich ein bisschen Tischtennis mit ihm gespielt habe und mir habe die Diskothek zeigen lassen?«
»Ach so nennt man das also. Disco zeigen.« Im gleichen Augenblick verwünscht sie sich. Vorwurfsvoller hätten ihre Eltern auch nicht reagieren können.
»Du hörst dich ja schlimmer an als meine Mutter.«
»Ich weiß«, sagt Pia.
»Also willst du jetzt mit mir reden oder nicht?« Phil funkelt sie wütend an.
Und wie Pia mit ihr reden möchte. Sie sieht Phil an. Phil ist immer noch so schön, dass ihr davon ganz schwindlig wird. Sie hört Andrea Verliebtheitsgefühle beschreiben und würde Phil am liebsten gleichzeitig schütteln. Entsetzlich! Ihr Herz rast, ihre Hände zittern. Sie versteckt sie schnell unter dem Abendbrottisch. »Ich habe euch gesehen in der Disco«, sagt sie schließlich mit erstickter Stimme.
»Du hast mir nachspioniert?« Phil schreit so laut, dass alle es hören.
»Nein, verdammt, wir waren schlicht und ergreifend verabredet und ich wollte nur wissen, wo du bist«, schreit Pia zurück. »Das ist ja wohl normal, oder?« Wütend knallt sie ihr Brotmesser auf den Tisch und verlässt den Esssaal.
4. Kapitel
Juni 1999 – September 1998
Pia ist aufgeregt. Seit einer halben Stunde sitzt sie jetzt schon vor dem Konferenzzimmer, in dem verhandelt wird, ob sie die zwölfte Klasse wiederholen muss oder ob es für die dreizehnte reicht. Das Ergebnis kann sie nicht einschätzen. Es war fast unmöglich, den Stoff von sechs Monaten in zwei Monaten nachzuholen und gleichzeitig den neuen Stoff zu lernen. Die letzten Arbeiten waren gut, keine schlechter als vier. Sie hat gelernt wie eine Bescheuerte, um die Versetzung zu schaffen. Trotzdem. Die Fehlzeiten reichen für mindestens fünf Schuljahre.
Pia hat irgendwie ein Talent darin, zum Problemfall zu werden. Vielleicht wird man das eines Tages und bleibt es dann den Rest seines Lebens.
Sie seufzt und starrt auf die Uhr. Wieder sind fünf Minuten vergangen und nichts regt sich hinter der verschlossenen Tür. Werden die denn nie fertig da drin? Wenn sie wenigstens mit jemandem quatschen könnte, um sich die Zeit zu vertreiben. Aufs Lesen kann sie sich überhaupt nicht konzentrieren. Sie bleibt immer wieder am selben Satz hängen. Missmutig holt sie aus und –
»Pia Drews, kommen Sie bitte herein.« Tadelnd sieht der Lehrer auf das quer über den Flur fliegende Buch.
»’tschuldigung«, quetscht Pia heraus, sammelt den Roman hastig auf und folgt ihm.
»Setzen Sie sich bitte«, fordert Schwester Grisaldis sie förmlich auf. Schüler des Internats werden ab der elften Klasse normalerweise gesiezt, Schwester Grisaldis duzt sie aber immer noch und Pia würde alles andere auch komisch finden, immerhin kennt Schwester Grisaldis sie schon seit ihrem zehnten Lebensjahr. Aber heute, das ist etwas anderes. Heute ist Schwester Grisaldis die Direktorin und Pia eine junge Erwachsene.
Pia sieht über den langen Konferenztisch zu ihr hinüber. Lächelt sie nicht ein wenig? Pia schaut noch einmal hin. Nee, wohl doch nicht. Zwanzig Augenpaare folgen ihr, als sie auf dem einzigen freien Stuhl Platz nimmt.
»Wir