Dantes Inferno I. Akron Frey
war, daß die Hölle ihren negativen Nimbus behielt. Indem sie jeder Sünde eine bestimmte Höllenstrafe zuordnete und mit Fürbitten oder Totenmessen die Einflußnahme auf das jenseitige Geschehen regelte, steigerte sie natürlich auch ihre eigene Autorität. Man könnte sogar behaupten, daß sich das bis weit über die Romantik hinaus so fruchtbar entwickelnde Höllenszenarium, wo in unzähligen Hausbüchern über Größe, Zahl der Insassen sowie Eigenart der Folterkammern in der Hölle Klarheit herrschte, neben der durch die kirchlichen Drohungen gesteuerten Volksfrömmigkeit gerade auch Dantes Einfluß zuzuschreiben ist. Zeugnisse für die kirchlich tolerierte Unterstützung makabrer Phantasien finden sich bis ins 20. Jahrhundert, und die Nachwirkungen können bis zur aktuellen Gegenwart in Schülerbefragungen nachvollzogen werden. Selbst in der Neuzeit kämpfen reaktionäre Theologen gegen ein bloß metaphorisches Höllenverständnis. Und in den Dunstkreisen der Esoterik feiern die längst totgeglaubten und zu Grabe getragenen Engelwesen und Dämonen fröhlich Wiederauferstehung. Deshalb stellt sich hier die Frage: «Was ist die Hölle wirklich?» Und zwar hinter dem von der Kirche seit Jahrtausenden propagierten Bild eines glühenden Feuerofens. Für den rückwärts orientierten Menschen klingt die Wahrheit zynisch: «Sie ist der Himmel selbst!»
DAS LICHT DES INFERNOS
Die Finsternis und das Licht
Wenn wir die Hölle jenseits der apokalyptischen Vorstellung einer ewig brennenden Feuerlandschaft suchen, dann stellen wir fest, daß es sich bei den Sündern um Menschen handelt, die sich den von der Kirche aufgestellten christlichen Geboten widersetzt haben. Verboten aber wurde alles, was den kirchlichen Interessen widersprach. Und wenn wir aus heutiger Sicht weiter erkennen, daß die Gebote weniger dazu dienten, die Menschen in den Himmel zu führen, als sie politisch und kulturell zu kontrollieren und damit zu steuern, dann können wir auch sehen, daß die Hölle weniger ein Instrument der Sühne als vielmehr ein Instrument der Machtentfaltung war, die im Zuge der politischen Ausweitung von der Kirche zur Einschüchterung der Menschen und damit zum eigenen Machtmißbrauch mißbraucht worden ist. Damit hat die Kirche im Teufel ihren verdrängten Schatten nur deshalb heraufbeschworen, um ihren Kampf gegen das Böse zu legitimieren und damit das verdrängte Böse selbst auszuleben, indem sie durch die Verhinderung des scheinbar Bösen vermeintlich Gutes tat. Ergo wird auch klar, daß die Hölle die andere Seite des Himmels ist, also jener Teil, der im Schatten existieren muß, damit der andere sich weiter im Licht sonnen kann. Beide sind gleichermaßen dual und unvollständig und gehören dergestalt zu jenen Stufen menschlicher Entwicklung, die durch Erkenntnis und Bewußtseinserweiterung zu überwinden sind und erst durch Synthese zu einem die Triebnatur einbeziehenden sozialen Bewußtsein führen können. Wenn wir das wissen, erkennen wir plötzlich, daß Himmel und Hölle das Ego erhöhen und für die innere Sehnsucht nach Überwindung der gesellschaftlichen Enge und Beschränkung stehen. Der Unterschied liegt darin, ob sich diese Sinnsuche innerhalb der gesellschaftlichen Normen bewegt oder nicht, denn sowohl hinter der kontrollierten (Himmel) als auch der unkontrollierten Gier (Hölle) nach Sex, Besitz und Macht verbirgt sich nur die zu kompensierende Leere im Leben, denn beide Wege dienen dem Ego letztlich dazu, zu überleben und über die anderen hinauszuwachsen, um seinem Leben einen Sinn abzuringen. Der Unterschied ist wirklich nur der Standpunkt, von dem wir dieses Ziel betrachten, und die Suche nach Sinn der Weg in die Hölle oder ins Paradies. Ein Denker wie Meister Eckhart würde das heute so ausdrücken: «Der Weg in die Hölle ist mit Sinnsuche gepflastert.»
Die Hölle aus esoterischer Sicht
Die Suche nach Sinn ist der Weg in die Hölle, und das Finden des Un-Sinns die Rückkehr ins Paradies. Das Erkennen der Sinnlosigkeit der Sinnfrage wäre dann das «Fegefeuer», und die Erkenntnis, daß es keinen Sinn zu finden gibt und daß die Suche das sinnlose Ziel in sich selbst ist, entweder der «Himmel», wenn wir die Sinnlosigkeit der Sinnsuche erkennen (den Dämon der Sinnfrage), oder die «Hölle», wenn wir den Anlaß unserer Suche verdrängen. Wir ersehnen uns, was wir nicht haben, aber wir wollen es nur, weil es uns fehlt. Hätten wir es, würden wir gar nicht merken, daß wir es wollen, und suchten nach anderem, von dem wir glaubten, daß es uns fehlte. Wir suchen das Suchen, um das Finden zu verdrängen, denn würden wir finden, dann wären wir am Ziel. Doch ähnlich dem Alkoholiker, der zum Arzt geht und vorgibt, mit dem Trinken aufhören zu wollen, aber aus der Therapie aussteigt, sobald ihn der Arzt zum Alkoholentzug in die Klinik schicken will, sehen wir, daß beim Suchenden der Frust gerade dann ausbricht, wenn er zu finden beginnt. Und da wird uns klar: Es geht weder ums Finden noch um die Wahrheit. Sondern ums Suchen. Und solange wir die Hintergründe nicht sehen, warum wir suchen, was wir suchen, sind wir nicht viel klüger als der sprichwörtliche Narr, der den verlorenen Schlüssel unter einer Laterne sucht, weil es ihm dort, wo er ihn tatsächlich verloren hat, zu dunkel ist. Wir suchen im Reich der Ideale, wo man etwas sieht, weil alles hell und klar ist – doch wie sollten wir da finden, was in der Dunkelheit verborgen ist?
Solange wir uns scheuen, im Dickicht der Gefühle und in den Tiefen unserer seelischen Niederungen zu suchen, dort, wo wir ihn verloren haben, solange finden wir den Schlüssel kaum. Möglicherweise finden wir unter der Laterne dafür das Paradies, das uns suggeriert, solange wir immer nur im Licht suchten, solange bräuchten wir auch den Schlüssel nicht. Tatsache ist: Nur aus der Position des Suchens kann ich das Finden manipulieren, nur dort kann ich es mit all meinen Sehnsüchten vollstopfen, die mir meine Masken einreden, und damit schon am Anfang die Wahrheit verdrängen, die für die Masken den Tod bedeuteten: daß nämlich diese Form der Suche schon wieder eine Lüge ist, hinter der sich keine Wahrheiten, sondern nur die Gaukelbilder dämonischer Sehnsüchte verbergen, die mich niemals mehr aus den Netzen ihrer Verstrickungen entlassen. Das aber ist gerade die Hölle, die uns bedroht, weil sie uns den Abstieg zu unseren eigenen Ängsten verwehrt. Denn die erlittenen Wunden und Verletzungen heilen nur durch das Erkennen der seelischen Zusammenhänge, und erst die geistige Einsicht katapultiert unseren Geist ins Licht. Denn, wie sagte ein alter Suchender, nachdem er Gott zeit seines Lebens vergeblich im Himmel suchte und ihn endlich am Ende seiner Tage an der Eingangspforte zur Hölle fand: «Ein ganzes Leben lang war ich auf der Suche nach Gott, und als ich ihn am Ende meiner Tage fand und ihm in die Augen blickte, entdeckte ich, daß er es war, der mich suchte.» (Bajezid Bastami)
DANTES WERK AUS MEINER PERSÖNLICHEN SICHT
Dantes Vorlage als apokryphes Modell
Kehren wir zu Dante zurück. Kaum einer hat wie er das gesamte Weltbild seiner Zeit in sich aufgenommen und es zu einem monumentalen Gebäude unvergänglicher Lettern vor der Geschichte aufgetürmt, keiner hat wie er das geschichtliche Geschehen seiner Zeit aktiv und passiv miterlebt, in seiner ganzen Tiefe durchlitten und es in ein glühendes Versmaß gestellt, das jahrhundertelang die Vorstellungen der Menschen bis an die Schwelle der Neuzeit prägte. An seiner Dichtung mißt sich die sprachliche Gestaltungskraft von Himmel und Hölle. Verglichen mit seinem Werk kann mein Bemühen natürlich nur der schwache Abglanz eines kreativen Zusammenmischens alten Weins in neuen Schläuchen sein. Um diesem Bemühen aber trotzdem einen kollektiven Sinn zu sichern, mußte ich mich dort, wo Dante in vierzehntausend Versen die ganze Schöpfung durchmaß, nach einem System umsehen, das mir Dantes komplettes Weltbild durch eine innere Struktur ersetzte, die es mir erlaubte, die verschiedenen Episoden wie die Perlen auf einer Gebetsschnur nebeneinander aufreihen zu können. Dafür erkor ich mir das astrologische Modell. Der Preis ist klar. Statt der großen Menschheitsbühne, der menschlichen Entwicklungsgalerie, auf der Dante sein monströses, sinnvolles und sinngebendes Opus vom Leben des «Homo sapiens» vollzieht, kann ich nur ein abstraktes Modell anbieten, das über die systemartigen Verknüpfungen in Zusammenhang mit meinen astrologischen Kenntnissen und Erfahrungen im besten Fall auf den Ansatz seelischer Vertiefungen in einem psychologischen Umfeld hinweist.
Trotzdem gab es keine bessere Lösung, weil ein Buch in Dantes epochalen Dimensionen einfach nicht anders möglich war. Deshalb war für mich das Ausweichen auf ein strukturierendes Modell ein letztlich doch befriedigender, weil unausweichlicher Kompromiß, und die Hinwendung an die Astrologie innerhalb ähnlicher Modelle für mich aufgrund meines Erfahrungspotentials interessant. Außerdem schien mir dieses System besonders geeignet zu sein, da es mir erlaubt, jede der Höllen mit einem astrologischen Inventar auszukleiden und mit den astrologischen Konfigurationen