HUNDE JA-HR-BUCH EINS. Mariposa Verlag
ich nach zwei Stunden Wanderung zu meiner Bleibe kam, war sie schon da, saß am Gartentor, als hätte ich sie bestellt: Sie, die schwarze Mischlingshündin, mit ihrem undurchdringlichen Fell und ihrem bis zur Seele durchdringenden Blick. Ich kann mich nicht mehr erinnern, was meine ersten Gedanken bei dieser zweiten Begegnung waren. War es Überraschung oder Erleichterung? Wie hatte sie hierher gefunden? Hat sie jemand hier ausgesetzt? Zufällig, so wie man einen Euro findet, fand sie mich? Nein! Sie sah mich und sprang mir mit einem Satz in die Arme – und in mein Herz. Und das öffnete sich wie eine Gazanie in der Mittagssonne. Ohne mich zu fragen, begleitete sie mich bis zur Haustür. Hier blieb sie für einen Moment stehen. Dann setzte sie sich, wartete ganz höflich, aber das Schlüsselloch fixierend: „Sperr endlich auf!“
Von da an gingen wir unsere Wege gemeinsam: Lili und ich. Am selben Nachmittag fragte ich vorsichtig in der Dorfwirtschaft, ob jemand einen Hund vermisse. „Ach, was“, meinte der Wirt, ein bärtiger, alter Knochen, „wird wohl einem der Landarbeiter gehört haben, die zur Mandelernte über die Insel ziehen. Die vergessen schon mal einen Hund, wenn auf der Rückreise das Auto zu voll wird.“ Sonst fehle seines Wissens niemandem hier ein Vierbeiner.
Am Tag darauf war ich bei der Polizei und fragte halbherzig nach, ob diese „perra“ vermisst werde. Verächtlich schaute der Polizist auf Lili hinunter. Lili wendete den Blick zur Seite. Das tun wir Menschen auch, wenn uns jemand zu penetrant fixiert. „Este perro?“, vergewisserte er sich. „No, no!“
Dann lachte er laut. Was ich etwa so interpretierte: Der Hund? Wem soll der schon fehlen! Obwohl ich über seine Auskunft sehr erleichtert war, empfand ich sie als Beleidigung, für Lili und auch für mich.
Ich bin nicht sicher, welche Rassen sich in Lilis Genen getroffen haben. Vielleicht ein Labrador und ein Pastor Mallorquin. Auf alle Fälle ist sie lieb, anschmiegsam, intelligent, ein bisschen gefräßig – und für mich der schönste Hund überhaupt. Ja, Lili wedelte sich mit ihrem ganzen Charme über meine Träume, meine Pläne und direkt in mein Leben. Aber man ist schließlich flexibel! Und wie heißt es doch gleich wieder: Es gibt keine Zufälle, nur Fügungen? Also fügte ich mich und das auch noch ziemlich bereitwillig.
Die erste Nacht sollte meine Gefährtin auf der Terrasse schlafen, damit sie über die Gartenmauer wieder zurück in ihr gewohntes Leben gekonnt hätte. Als sie jedoch zu jammern begann, ließ ich sie ins Haus. Ich quartierte sie in den vorhandenen Holzkorb ein und ging zurück ins Bett. Kaum eine halbe Stunde später – ich war gerade eingeschlafen – stupste mich eine kalte Hundenase wieder wach. Fräulein Hund verspürte unendlichen Hunger nach Zuwendung. Ich wartete auf meinen Zornesausbruch, doch ich setzte mich auf den Boden und tat, was sie verlangte.
Von nun an war ich der gute Mensch und befolgte alles, was sie wollte. Die neue Urlaubswirklichkeit war da. Und sie wurde von Lili wie ein Gummiband einmal hierhin, dann wieder dorthin gezogen.
Jetzt gehörten die meisten meiner Urlaubsstunden ihr. Ihr gehörten auch die Henkel meiner Tasche und die Bänder meiner Schuhe. Nur ihr neues, teures Körbchen gehörte ihr nicht. Sie mied es wie ein Nomade das Reihenhaus und schlief im engen Holzkorb neben meinem Bett.
Mein Handy hatte ich wieder eingeschaltet: Um einen Impftermin beim Tierarzt zu vereinbaren, bei der Fluggesellschaft einen Rückflug mit Hund reservieren zu lassen, mein Zuhause auf den neuen Alltag mit Lili vorzubereiten und um sie bei der Haftpflichtversicherung anzumelden. Denn vom Mietliegestuhl hatte meine Kleine bereits die Beine angeknabbert, während ich mich für ein paar Augenblicke in ein Buch vertiefte. Aber sie war ja erst so kurze Zeit bei mir und konnte das alles noch nicht wissen!
„Wenn wir erst zu Hause sind, musst du natürlich erzogen werden, du süßer Tyrann! Dann werde ich mich über dich stellen und Gesetze und Normen für dich einführen“, sagte ich zu ihr.
„Oder vielleicht weiß ich dann selbst, was für mich richtig ist?“ Sie schaute mich mit ihren Bernsteinaugen an und ihr Blick war unergründlich und tief wie ein alter Brunnen auf einer mallorquinischen Finca.
Alles hatte sich damals geändert. Nur meine Uhr lag noch wie am ersten Urlaubstag im Badezimmer. Lili zeigte mir ohnehin, wann welche Stunde geschlagen hatte: Die Zeit zum Spielen, die Zeit zum Fressen, die Zeit zum Gassigehen … Aber wenn sie neben mir saß, während ich aufschrieb, was ich alles für sie zu erledigen hatte, war ich glücklich.
Und so ist es geblieben. Wenn ich sie streichle, ist es immer noch, als streichle ich meine Seele. War das nicht Grund genug, ein Stück der eigenen Freiheit und Unabhängigkeit aufzugeben? Urlaubszeit inbegriffen?
Ja, auch Träume haben ihren Preis. Und selbst wenn sie mit vier schwarzen Pfoten daherkommen, können sie dem Leben ganz schön viel Farbe geben.
A wie Adressbuch
Shirley Michaela Seul
Mona hörte es vom Bett aus. Sie wusste nicht, seit wann das Geräusch andauerte. Trotzdem blieb sie noch einen Moment liegen. Und hoffte. Vielleicht war es ja nur die Zeitung. Die Zeitung, die neben den Schuhen lag. Zum Schuheausstopfen hatte sie die gebraucht. Das ganze Wochenende war ein Wetter, bei dem nicht mal Hunde raus wollten. Bis auf eine Ausnahme: Luna.
Seufzend, aber schwungvoll stand Mona auf. Genauso schnell tappte die Labradorin die Treppen hoch und erwartete Mona am Aufgang zur Galerie. Vor Freude außer sich. Bloß weil Mona aufstand. Über Nacht war Luna wieder ein paar Zentimeter gewachsen. Mona versuchte, am Gebaren der Hündin etwas abzulesen. Doch Luna benahm sich wie immer. Sprang hoch, jaulte und wedelte mit dem Schwanz, als müsste sie die ganze Stadt mit Strom versorgen.
Mona hielt das Morgenritual kurz, ging die Treppe runter und um die Ecke – und dann sah sie es. Sie hatte recht behalten. Neben dem Kamin stand ihre Aktenmappe. Wie befürchtet. Sie hatte vergessen, sie wegzuräumen. Und sie war offen. Auch das hatte Mona befürchtet. Eine Katastrophe schien allerdings nicht passiert zu sein: Die Präsentation war unversehrt. Keine Spur von Fetzen ihrer Wochenendarbeit. Mit einem schnellen Griff kontrollierte Mona den Inhalt der Aktenmappe, besonders die Klarsichtfolie mit den Notizen, die Max heute Vormittag abtippen und bis zwölf Uhr fertig haben sollte. Aber – das Adressbuch! Auf den ersten Blick konnte man sich täuschen, doch es lag seltsam verdreht und in sich zusammengesunken obenauf. Mona nahm es zur Hand. Es war fast dreieckig. Dreieckig gestutzt. Gebissen. Mona schlug es auf. Ein dünnes Rinnsal Blut lief aus einem Winkel. Luna hatte ordentliche Arbeit geleistet. Bei A begonnen. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich aus, als fehlten nur die Seiten mit A. Mona packte die Hündin, schimpfte und setzte sie in ihren Korb, wo sie die Fetzen von A fand. Sie sammelte sie ein. Ein paar Zahlen ohne Zusammenhang. Sie legte sie auf den Küchentisch. Sie bereitete Kaffee zu. Sie zündete sich eine Zigarette an, obwohl sie normalerweise nie vor dem Frühstück rauchte. A fehlte. A wie Anatol, das war sehr bedauerlich, A wie Amanda, das war eine Katastrophe, A wie Arthur, ein Glücksfall, A wie Armadon, die konnten sich an sie wenden, A wie Annette, die war auch dran, sich zu melden, A wie Alex, den hatte sie ausfindig gemacht nach seinem letzten Umzug, A wie … Mona fiel nichts mehr ein. Sie schloss die Augen. Sah die Seiten vor sich. A wie Atlas, die hatten ihre Adresse, A wie Agnes, schade, weil sie Agnes, die Weltenbummlerin, höchstens über ihre Eltern … Wo wohnten die noch mal? A wie Armin. Armin zum Beispiel. Hatte sie fast vergessen. War ihr nicht auf Anhieb eingefallen. Dabei hätte sie Armin gestern noch als einen ihrer besten Freunde bezeichnet. Merkwürdig. Über Nacht vergessen. Lag das vielleicht daran, dass sie seine Telefonnummer gespeichert hatte? Wie lange war es eigentlich her, dass sie nach einem Treffen mit Armin das Gefühl gehabt hatte, es wäre ein rundum schöner, lohnenswerter Abend gewesen? Hatte sie das überhaupt schon mal gehabt? Bestimmt war A kein unersetzlicher Buchstabe. A sollte nicht als beispielhaft gelten. A war ein dummer Zufall. B hätte ein Desaster bedeutet. Wer stand noch mal unter B? Nein, B war ein schlechtes Beispiel. B war ja auch als Buchstabe nicht ernst zu nehmen. Ziemlich weit vorne, aber doch im Schatten des ewig Ersten. Nein, es gab viel zu viele Leute, die hießen Bauer oder Berger oder Beate. Mindestens fünf Frauen namens Beate kannte Mona bestimmt, da war sie sicher, auch wenn ihr im Moment keine einfiel. S wäre ein Unglück gewesen!
Nachdenklich ging Mona ins Bad. Sie wusste, dass sie fünf volle Seiten S im Adressbuch hatte. Sie bekam nicht mal eine zusammen.