HUNDE JA-HR-BUCH EINS. Mariposa Verlag

HUNDE JA-HR-BUCH EINS - Mariposa Verlag


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hörte sie ihre innere Stimme. Um diese Zeit wollte sie keine Sprechstunde abhalten. Man musste doch nicht immer aus allem ein Problem machen. Sie war über dreißig und da hatte sich im Lauf des Lebens allerhand angesammelt. Schrott und Verwertbares. Auf jeden Fall zu viel, viel zu viel. Hin und wieder geschah es, wenn auch seltener als früher, dass Mona eine Freundschaft angetragen wurde, sich ein Mensch um sie bemühte. Sie reagierte dann mit Panik. Bitte bloß keine neuen Freunde, sie kam ja nicht mal mit denen zurecht, die sie seit Jahren kannte, dauernd hatte sie Freundschaftsschulden, musste wo anrufen, sollte sich hier und da melden und mit der ins Kino, mit dem Skifahren und mit der Wasserskifahren ausprobieren, um Gottes Willen, bitte keine neuen Bekanntschaften! Manchmal, wenn Mona irgendwo warten musste, blätterte sie in ihrem Terminplaner ein halbes Jahr nach vorne, dorthin, wo außer den Geburtstagen fast nichts stand, höchstens mal ein Seminar oder ein Jubiläum. Viel Weiß. Darin weidete sie sich eine wohltuende Weile. Die meisten ihrer Freundschaften waren alte Gewohnheiten. Klar hatte sie Zeit für ihre Freundin Vroni, wenn die mal in der Stadt war, schließlich war sie mit Vroni zur Schule gegangen, und Vroni zu treffen bedeutete, sich zu vergewissern, dass die eigene Vergangenheit tatsächlich passiert war. Als Zeitzeugin reichte Vroni. Da musste nicht auch noch Bessi dazu. Obwohl – wenn Vroni sterben würde, hätte sie Bessi, aber Bessi konnte sie auch reanimieren, wenn sie sie brauchte. Brauchen. Wen aus diesem fetten Adressbuch brauchte Mona? Durfte sie im Rahmen ihrer ethischen Ideale ihr Adressbuch und brauchen überhaupt in einem Satz nennen? Sollte sie zwei Adressbücher führen? Eines fürs Business und eines privat? Und wo war die Grenze? Durfte man sich privat brauchen? Oder meinte sie mit brauchen gebrauchen können? War Monas Adressbuch eine Cholesterindeponie? Unsere Mona Hilgenberger ist nach langem Kampf tragisch und von uns allen unbemerkt innerlich und äußerlich an Freundschaft verschieden.

      Es waren nicht nur die Vronis, die alte Garde sozusagen, die zum Glück nicht mehr in der Stadt wohnten. Hatten alle weggeheiratet, da konnte Mona sich nicht beschweren. Hatten auch alle Kinder bekommen und waren deshalb ziemlich beschäftigt, derzeit mit ihren Scheidungen. Es waren eher die von irgendwo aus der Welt und ihre sporadischen Besuche. Dazu jene, mit denen sie bekannt war, die sie gelegentlich traf. Dagegen war nichts einzuwenden, so lautete die Spielregel: sich gelegentlich melden, telefonieren, mal ein Kärtchen aus dem Urlaub und ab und an ein persönliches Treffen. Wenn nun aber ein solches Treffen in eine Woche fiel, wo schon eine Vroni und eine Durchreise angekündigt waren, und dann vielleicht noch einer der fixen Termine, die wirklich wichtig waren – waren sie das? Musste sie ihre beste Freundin Andrea tatsächlich einmal in der Woche sehen? Gut, sie hatten es manchmal ausfallen lassen, aber im Prinzip galt einmal die Woche, wenn auch nur auf zwei Stunden. War das nötig? Und wenn sie es bei Andrea schon bedachte, dann sollte sie es erst recht bei Melanie und den anderen bedenken. Die traf sie alle drei bis vier Wochen, war das nötig?

      Außerdem brauchte sie Zeit zum Schwimmen und für das Fitnessstudio und donnerstags Yoga und einmal in der Woche wollte sie verdammt noch mal zu Hause sein. Ein bisschen rumputzen, ein bisschen fernsehen, vielleicht alte Briefe sortieren oder die Blätter der Palmen polieren. Wenn ich all diese Menschen nicht mehr treffen müsste, dachte Mona, … ich muss sie ja nicht treffen, dann könnte ich öfter zu Hause sein. Mit dem Hund spazieren gehen, dafür habe ich ihn mir doch angeschafft. Endlich mit dem Rauchen aufhören, weil ich nicht mehr in Kneipen rumhängen muss. Ich könnte lesen und mich bilden, Italienisch lernen. Ich könnte mehr Geld verdienen und zwar spielend. Ich könnte öfter in den Urlaub fahren, weil ich nicht dauernd Termine hätte, die meine Urlaubsplanung stören. Was würde mir fehlen? Mona seifte sich ein. Mit der Vanillelotion, ein Geschenk von Sonja. Die Vanillelotion könnte sie sich auch selbst kaufen, würde sie aber nicht, da sie Vanille nicht mochte.

      Mona schlug auf den Hebel der Dusche, ging, ohne sich abzutrocknen, ins Wohnzimmer, nahm das Adressbuch zur Hand, warf es neben Lunas Fressnapf zu Boden und ließ sich ein Orangenblütenbad einlaufen.

       Stania Jepsen

      Es kostete sehr viel Mühe, eine Bescheinigung von der Polizei zu bekommen, damit man sich in der Grenzsperrzone aufhalten durfte – damals, in den Jahren tiefster kommunistischer Diktatur in der Tschechoslowakei.

      Ich bekam die Erlaubnis als unbescholtener Bürger und konnte meinen Onkel in den Ferien besuchen. Ich wohnte in der Stadt, in Prag, und brauchte Landluft. Er hatte seinen Bauernhof in der Grenzsperrzone. Unzählige Kontrollen musste ich passieren und mühsame Fahrverbindungen, auch zu Fuß, auf mich nehmen, bis ich endlich auf Onkels Bauernhof ankam.

      Unser Wiedersehen war sehr herzlich. Abends ging ich wegen der Strapazen früh ins Bett.

      Am nächsten Tag fuhr die ganze Familie früh morgens aufs Feld und ich blieb zurück auf dem Hof, zusammen mit einem ausgiebigen Frühstück und dem Hund meines Onkels. Es war ein herrlicher, warmer Sommer, wie geschaffen für meine Erholung. Meine einzigen Aufgaben bestanden darin, in der frischen Luft zu spazieren, gut zu essen und lange zu schlafen.

      Schon beim ersten Frühstück schloss ich Freundschaft mit dem Hund. Er war ein liebes Schmusekerlchen, sah aus wie eine Münsterländer-Bernhardiner-Kreuzung und brachte fast fünfzig Kilo auf die Waage. Es stellte sich bald heraus, dass er sehr aufmerksam und klug war. Wir durchstreiften gemeinsam die Umgebung. Es waren sehr schöne Tage mit Borek, so hieß dieser große, starke Kerl. Ich war so mager, dass es leicht für mich war, auf ihm zu reiten. Dann tippelte er ins Feld und schmiss mich ins Korn.

      Bald bekam ich den Auftrag, auf Borek aufzupassen, denn er war ein Streuner. Mein Onkel beklagte sich, dass der Hund tagelang verschwinden würde, dann käme er dreckig und ausgehungert zurück und kein Mensch wüsste, wo er sich rumgetrieben hatte. Er ginge wohl auf Brautschau. Ich wunderte mich nur, wo in dieser Gegend eine Hündin sein konnte. Weit und breit wohnte hier kein Mensch, nur die Grenzposten waren da. Die hatten zwar Hunde, aber an diese kam ein anderer Hund nicht heran. Irgendwann war Borek wieder einmal auf Tour. Mein Onkel drohte mit einem Stock: „Wenn der zurückkommt!!! Der kommt an die Kette!“ Borek kam nach zwei Tagen in einem schrecklichen Zustand nach Hause. Er war dreckig, hungrig und auf seinem Rücken hatte er blutende Wunden, die aussahen, als hätte er sich an einem Stacheldraht gerissen. Mein Onkel ließ Borek im Hof mit einem Wasserschlauch abspritzen, gab ihm Futter und Wasser und band ihn an die Kette.

      Am nächsten Tage winselte Borek im Hof herzzerreißend. Mir tat er leid und ich ließ ihn laufen. Auf dem Dach des Hauses war ein kleiner Turm mit einer Glocke. Ich nahm Onkels Feldstecher, der noch aus dem Krieg stammte, und beobachtete Borek, wohin er ging. Seine Schwanzspitze ragte über den Weizen und ich konnte sehen, dass er in Richtung Wald pirschte und darin verschwand. Ich dachte, er würde wildern gehen. Mit dem Feldstecher konnte ich über den Grenzstreifen auf die ersten westdeutschen Dorfhäuser schauen. Auf einmal sah ich Borek auf der Straße. In voller Größe tippelte er an den Häusern vorbei. Der Hund ging auf Brautschau – hinter dem eisernen Vorhang!

      Das kann nicht wahr sein!, dachte ich voller Entsetzen. Zwischen Westdeutschland und der Tschechoslowakei war nicht nur ein Drahtzaun, der elektrisch geladen war, sondern auch der Todesstreifen mit dem Minenfeld. Außerdem patrouillierten ständig Grenzwachposten mit scharfen Hunden. Borek wog fünfzig Kilo. Nicht einmal ein Hase konnte über die Minen gehen. Man hörte sie oft explodieren, wenn Wildwechsel war. Wie kam der Hund ungesehen zur anderen Seite? Ich konnte es nicht begreifen und bekam höllische Angst, dass er erschossen werden könnte. Mein Onkel hätte mich umgebracht, weil ich Borek trotz strikten Verbotes von der Kette befreit hatte!

      Ich wartete mit zitternden Knien auf die Rückkehr der Familie vom Feld und betete zum lieben Gott, dass Borek ungeschoren zurückkehrte. Kurz vor dem Onkel kam er, mit wedelndem Schwanz, als wäre nichts geschehen. Ich band ihn sofort an die Kette und war heilfroh, dass niemand wusste, was sich am Tage abgespielt hatte.

      Diese und die folgenden Nächte schlief ich sehr schlecht. Die Geschichte mit Borek ging mir nicht aus dem Kopf. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Tausende von Menschen riskierten ihr Leben, um zu flüchten, und unser Borek ging und kam, wann immer er wollte! Es gab also eine Möglichkeit, über die Grenze zu kommen, Borek war der Beweis. Ich hätte meinen Onkel fragen können, aber dann hätte er gewusst, dass ich Borek frei ließ. Ich hütete also dieses Geheimnis


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