Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff


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wie die DDR seit Monaten mit Eifer eine Umgehungsbahn um Westberlin ausbaute. Die Flüchtlingsströme nach Westen schwollen stark an. Ich selbst war weniger beunruhigt, weil ich eine absolut dichte Abriegelung der Stadt Berlin, mitten durch Straße, Häuser, Bahnhöfe und andere Anlagen hindurch für technisch undurchführbar hielt. Ich sollte mich täuschen.

      In den nächsten Wochen und Monaten wurden die provisorischen Sperren durch „die Mauer“ ersetzt und mit immer raffinierteren Hindernisse verstärkt, wozu auch Minen, Hundelaufstrecken und Wachtürme gehörten.

      Viele DDR-Bürger waren tief betroffen, litten unter der Trennung von ihren Verwandten in der Bundesrepublik und der verlorenen Reise- und Ausreisefreiheit nach kapitalistisch orientierten Ländern. Wenn ich in den Folgejahren aus Demmin kommend mit dem Zug nach Berlin fuhr, rollte ich beim S-Bahnhof Bornholmer Straße im Norden Berlins zwischen Stacheldrahtverhauen hindurch. Wenn ich mit der Berliner S-Bahn fuhr, musste ich auf den so bequemen Ringverkehr verzichten. Zwischen den S-Bahn-Stationen Plänterwald und Treptower Park sah ich aus dem Wagenfenster die Grenzsperren in Gegenden, die mir aus der Schulzeit nicht unbekannt waren. Das tat immer wieder weh!

      Durch die westliche Welt ging ein Sturm der Empörung. Der SPD-Politiker Willy Brandt protestierte wortgewaltig. Walter Ulbricht, damals fast unumschränkter Herr der DDR, erwiderte: „Spreize Dich, Pfau, morgen wirst Du gerupft.“ Seine zynische Sprache und das Mediengetöse sollten wohl abschreckend auf Fluchtwillige wirken und darüberhinaus westdeutsche Politiker demütigen.

      Zur Wahrheit gehört aber mehr. Über die wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Umgehungsbahn und den gekauften Stacheldraht habe ich schon berichtet. Unter Berlinern war die Ablehnung der Mauer auch nicht ungeteilt. Hämisch schaute man auf die „Scheuerlappengeschwader“ genannten Frauen, die in Westberlin so leichtes Geld verdient hatten und nun aufgeregt und ratlos auf den S-Bahnhöfen standen. Endlich mussten sie da arbeiten, wo sie lebten, billige Wohnungen nutzten, ihre Kinder zur Schule schickten und auch sonst die Sozialpolitik der DDR ohne eigene Gegenleistung genossen. Der Arbeitskräftemangel der DDR besserte sich spürbar und das Bruttosozialprodukt machte einen Sprung nach oben.

      Anfang August 1961 hatten sich die beiden mächtigsten Männer der Welt, der Sowjetführer Nikita Chruschtschow und der US-Präsident John F. Kennedy in Wien getroffen. Das Gespräch wurde öffentlich als gut dargestellt. Es ist fast unvorstellbar, dass dabei nicht über die wichtigsten Absichten des Ostblocks gesprochen wurde, noch dazu solche, mit militärischer Komponente. Hier hätte jedes Missverständnis die Gefahr eines Atomkrieges der Supermächte heraufbeschworen. Für die Vorkenntnis der Westalliierten spricht ein weiteres Zeichen. Westberlin wurde in der Nacht zum 13. August unter Einsatz zahlreicher Kettenfahrzeuge eingeschlossen. Einen Panzer, der über Straßenpflaster rollt, hört man in stiller Nacht vier bis acht Kilometer weit. Der Kettenlärm muss also von den Truppen Frankreichs, Großbritanniens und der USA, die sich in Westberlin aufhielten, wahrgenommen worden sein. Reaktion: Keine! Das kann nur heißen, sie wussten genau, dass sie nichts zu fürchten hatten, weil sie über die Absichten des Ostens wohlunterrichtet waren.

      Wirtschaftsschwierigkeiten hin, Mitwisserschaft der Westmächte her. Kein Staat hat das Recht, seinen Bürgern das Menschenrecht auf freie Aus- und Wiedereinreise zu verwehren. Darüber hinaus war „die Mauer“ eine Abwehrhandlung und vertagte den politisch-moralischen Anspruch auf Ausbreitung des Sozialismus für unbestimmte Zeit. Aber weil in oft gut bezahlten Publikationen die Ereignisse bewusst eindimensional dargestellt werden und die Klagen über mangelnde Informiertheit unserer Jugend nicht abreißen sei es hier gesagt: Wir brauchen die ganze Wahrheit, egal wen sie schmerzt. Freuen wird sie eh nur wenige.

      Hier pfiff der Wind bei der Arbeit ganz anders. Der chirurgische Chef, Dr. Schneider, genoss hohes Ansehen. Er soll angeblich einmal eine Berufung an die Uni Greifswald abgelehnt haben, vielleicht weil er Prominentester im Kreis, an der Universität aber nur einer unter vielen gewesen wäre. Ein Mann von fülliger, schwerer Statur, freundlich, aber von sicherem Selbstbewusstsein, widmete er sich der medizinischen Seite des Krankenhausbetriebes pflichtgemäß und mehr. Bei seinen Visiten gab es kein Plauderstündchen. Die medizinisch-organisatorischen Aufgaben erledigte sein chirurgischer Oberarzt, die Verwaltung sein Verwaltungsleiter. Dieser war SED-Mitglied und ein guter Organisator und Ökonom. Dabei definierte er Ökonomie als den Weg, mit den gegebenen Möglichkeiten die bestmögliche Leistung für den Patienten zu erzielen. Das gelang seiner Leitungstätigkeit auch bemerkenswert gut und wurde von den Ärzten als hilfreich wahrgenommen.

      Problematisch war für mich der Umgangston, den zwei Kolleginnen mit mir pflegten. Meine chirurgischen Kenntnisse und Fähigkeiten waren verbesserungswürdig, aber das brachten mir die beiden Frauen, die mir wenige Lebensjahre und viel berufliches Können voraus hatten, recht unfreundlich bei. So verlief meine Einarbeitung etwas stressig. Die Beiden, die ein fast unzertrennliches Paar bildeten, waren auch gegenüber dem ihnen vorgesetzten Oberarzt gelegentlich ungewöhnlich aufsässig. Das alles mag Ursachen gehabt haben, aber nach fast 50 Jahren lohnen sich darüber weder Spekulationen noch Aufregungen.

      In der chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses war auch die Oberin untergebracht, also die oberste Vorgesetzte aller Krankenschwestern. Sie hieß Hilda Fränkel, war konfessionelle Schwester, stammte aus Ostpreußen und hatte dort unmittelbar an der deutsch-sowjetischen Grenze auf einem großen Landgut gelebt. Dort wurden im Frühsommer 1941 Soldaten der Hitlerwehrmacht für den Angriff auf die Sowjetunion stationiert. In den Geschichtsbüchern ist der Kriegsbeginn gegenüber der Sowjetunion unter dem 22. Juni 1941 verzeichnet, einem Sonntag. Hilda Fränkel wusste aus eigener Anschauung etwas Anderes zu berichten. Bereits am Freitag, dem 20. Juni 1941, verließen Trupps, ausgestattet mit Steigeisen und Kabelmessern das Gut und überschritten – offenbar unbemerkt – die Grenze der UdSSR, um die dort meist oberirdisch verlegten Telefonleitungen massenhaft zu kappen. Das deckt sich mit dem sowjetischen Film „Vergiss Deinen Namen nicht“, in dem anfangs eine komplizierte Entbindung in einer grenznahen Hebammenstation geschildert wird, die am 22. Juni 1941 stattfindet. Die Hebamme versucht, einen Arzt anzurufen, doch sind alle Telefonleitungen ausgefallen. Und dann rollen die deutschen Panzer ein.

      Von Hilda Fränkel kenne ich nur diese mündliche Schilderung und der Film ist ein Kunstwerk und kein Dokument. Dennoch macht mich das nachdenklich. Was hat hier wirklich stattgefunden? Warum fallen massenhafte Telefonstörungen nicht auf? War die Sowjetunion im Juni 1941 tatsächlich noch unaufmerksamer gegenüber der ihr drohenden Gefahr, als ohnehin bekannt ist?

      Meine dortige ambulante Tätigkeit begann 1962 und war der nächste Ausbildungsschritt. In dieser Zeit bekam ich meine ärztliche Vollapprobation und konnte mich nach einem weiteren Jahr für eine Facharztausbildung entscheiden. Der erste Arbeitstag, der 13. März 1962, ist meiner Frau und mir bis heute unvergesslich. Dienstbeginn war acht Uhr früh in der Poliklinik Demmin, die Sprechstunde war voll, meine Kenntnisse in der damals recht überschaubaren Gesundheitsbürokratie – Arbeitsbefreiungsbescheinigungen, Krankenhauseinweisungsscheine und anderes mehr – waren gleich


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