Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff


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      Arzt in einer mecklenburgischen Kleinstadt

      Demmin – eine kleine Stadtvorstellung

      Demmin ist nicht sehr bekannt, darum will ich die Kleinstadt vorstellen. Wer von Berlin mit der Eisenbahn nach Stralsund fährt, kennt es als Eisenbahnstation nördlich von Neubrandenburg, zwischen Altentreptow und Grimmen. Befährt er mit dem Auto die B 96 nordwärts, müsste nördlich von Altentreptow, bei Burow, die Abzweigung nach schräg links ausgewiesen sein, die nach Demmin führt. Die Ostsee liegt circa 40 Kilometer entfernt. Demmin hatte 1960 etwa 17 000 Einwohner und war Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises, der ungefähr 730 Quadratkilometer umfasste und in dem 57 000 Einwohner lebten, die meisten von der Landwirtschaft.

      Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt zu Pommern gezählt. Demmin war Garnisonstadt für Ulanen (leichte Lanzenreiter), denen die teilweise landwirtschaftlich nicht nutzbaren Wiesen entlang der Peene gute Übungsmöglichkeiten boten. Aus dieser Zeit blieb in der Stadt nach 1945 zwar kein Militär, aber eine Reitertradition zurück, was zu sehr guten Springreiterturnieren führte. In der DDR gehörte Demmin nach Auflösung der Länder (1952) zum agrarisch geprägten Bezirk Neubrandenburg. Die DDR war seit dieser Zeit in 14 Bezirke unterteilt. Jetzt zählt die Kreisstadt Demmin mit einem wesentlich vergrößerten zugehörigen Kreis zum Bundesland Mecklenburg-Vorpommern. Demmin hatte ein Krankenhaus, das die Grundversorgung der Patienten gewährleistete und einen guten Ruf genoss. Patienten mit spezielleren Diagnosen wurden von den Universitätskliniken Greifswald in guter Zusammenarbeit übernommen. Ebenfalls war eine Erweiterte Oberschule (EOS) am Ort. Die Stadt ist Treffpunkt der Flüsse Tollense, die von Süden (aus dem Tollensesee bei Neubrandenburg) und der Trebel, die aus Nordwesten kommt. Beide strömen hier in die Peene, die vorher den Kummerower See durchfließt. So kann man die Stadt nur nach Osten verlassen, ohne eine Flussbrücke zu passieren. Das trug 1945 zu ihrem Verhängnis bei.

      Am 30. April 1945 erreichten sowjetische Truppen gleichzeitig mit Greifswald die Stadt Demmin. Greifswald wurde durch Oberst Petershagen entgegen den Befehlen der faschistischen Wehrmachtsführung kampflos und unbeschädigt übergeben, wofür die Einwohnerschaft lange sehr dankbar war. Auch in Demmin wurde versucht, die Stadt und Menschenleben auf gleiche Weise zu schonen. Aber unbelehrbare Fanatiker verhinderten das. Sie sprengten, als die Sowjetarmee bereits in der Stadt war, alle Brücken, einzelne Unbelehrbare schossen aus Gewehren und gerüchteweise versuchte die Apothekerfrau sogar noch, Sowjetsoldaten zu vergiften. Die saßen nun in der Stadt fest, wie in einer Falle. Daraufhin wurde Demmin den getäuschten und gereizten Truppen für drei Tage zur Plünderung freigegeben. Ich kenne das alles nur aus mündlichen Berichten, aber es muss entsetzlich zugegangen sein, mit Großbränden, vielen Toten und Grausamkeiten aller Art. Und das Misstrauen der sowjetischen Militärführung blieb wach, wie wir noch sehen werden.

      Am 13. März 1961 begann ich meine Tätigkeit in der Inneren Abteilung des Kreiskrankenhauses Demmin als Pflichtassistent. Damals durften Ärzte, die erst frisch vom Examen gekommen waren, im ersten Jahr nur unter Aufsicht erfahrener Berufskollegen arbeiten, was im Krankenhaus geschah. In die Arbeit der internistischen Abteilung fand ich mich rasch hinein und mein Studium erwies sich hier als sehr praxistauglich. Gearbeitet wurde täglich, so lange etwas zu tun war, meist über acht Stunden hinaus. Und schon nach einem Monat Arbeit, am 12. April 1961, stand mein erster eigener Bereitschaftsdienst an: notwendige Sofortmaßnahmen bei allen Patienten der gesamten Inneren Abteilung und der Kinderabteilung sowie Notaufnahmen und deren Erstversorgung. Das hieß im Krankenhaus schlafen, soweit und so lange das Telefon am Bett es zuließ. Für ernsthafte Probleme gab es eine zweite Bereitschaft, den sogenannten „Hintergrunddienst“, einen Oberarzt, den man zu Haue anrufen und um Rat fragen oder auch allenfalls bitten konnte, ins Krankenhaus zu kommen. Der Abend ließ sich ernst an. Es war nur ein Bett für Notaufnahmen frei. Nachmittags wurde es noch während der regulären Arbeitszeit mit einer Frau belegt, die einen schwersten Herzinfarkt hatte. Sie verschied – wie der Oberarzt schon vorhergesehen hatte und sie selbst es ahnte – trotz meines vollen Einsatzes nachts gegen 24 Uhr. Sofort danach kam als Notaufnahme ein Mann mit Magenblutung in ihr soeben frei gewordene Bett. Ihn konnte ich lebendig durchbringen und er hat später auch das Haus zunächst gesund verlassen.

      So verbrachte ich jene Nacht, in der weltweit die Menschen an den Radios hingen, um zu hören, wie der erste Mensch im Kosmos die Erde umrundete: Juri Gagarin. Mein Bett blieb ziemlich unberührt. Und am nächsten Tag lief die normale Arbeit ganz selbstverständlich weiter. Diese Zusatzbelastung war etwa alle drei bis vier Tage angesagt. Schwangere und Ärzte über 60 Jahren waren von dieser Aufgabe freigestellt, was nicht dazu beitrug, Frauen bei jenen Kollegen beliebter zu machen, die dann noch mehr Nächte opfern mussten. Die mir vorgesetzte Stationsärztin sprach anfangs nicht über ihre vermutliche Schwangerschaft. Nur wunderten wir uns, warum ihr Ehemann – ebenfalls Arzt, aber nicht im Krankenhaus – ihre Nachtdienste übernahm, bis der Grund seiner Hilfe offenbar wurde.

      Dr. Schwabes Frau war Jüdin und die Nazis verlangten die Scheidung. Er widersetzte sich und wurde im KZ Sachsenhausen eingesperrt. Das war nicht seine letzte Gefangenschaft. Nach 1945 starb ihm die Frau eines sowjetischen Offiziers unter den Händen. Und wieder ging es ab nach Sachsenhausen. Das Misstrauen der sowjetischen Seite über die Zwischenfälle bei der versuchten kampflosen Übergabe Demmins lebte immer noch. Dr. Schwabe erzählte all das gelassen. Er hat Episoden aus seiner zweiten Inhaftierung berichtet, unter anderem dass er seinen Mithäftlingen die Ortskenntnis voraus hatte. Direkte Kritik an seiner Inhaftierung habe ich jedoch von ihm weder bei den Visitenpausen noch am Ärzte-Stammtisch gehört. Die Fakten sprachen für sich.

      Eines Tages zeigte sich im Röntgenbild des Brustkorbes eines Patienten ein unklarer Befund. Stationsarzt, Oberarzt und Chefarzt überlegten. Schwabe entschied: „Herr Loeff, gehen Sie mal damit zu Herrn Kollegen Lange, unserem Kreistuberkulosearzt im Hause.“ Ich wollte noch fragen, ob dieser mir noch unbekannte Kollege denn mehr sehen könne, aber „Sie werden schon sehen“, beschied mich der Chef.

      Bei Dr. Lange angekommen, warf dieser einen Blick auf den Namen des Patienten und rief dann seiner Fürsorgerin zu: „Mal bitte alle Schirmbilder von Herrn … aus …, von Anfang an.“ Im Handumdrehen („Wenn das länger als 30 Sekunden dauert, kann ich ja hier gleich aufhören“, kommentierte er mir gegenüber dieses Tempo.) lagen, sortiert nach Jahrgängen, alle Mikrobilder des Brustkorbes dieses Patienten seit Einführung der Röntgenreihenuntersuchungen in der DDR auf dem Tisch. Und Herr Lange wertete am Lichtkasten für mich aus: „Das ist schon in den Jahren von … bis … zu sehen, im Jahr danach ist er zur Untersuchung nicht erschienen, dann wieder in den Jahren … und immer sieht dieser Befund ganz gleich


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