Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff


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einem diagnostischen Verfahren, das billig und überall anwendbar ist sowie keine Nebenwirkungen hat.

      In zwei Famulaturen spiegelten sich Besonderheiten der damaligen Zeit. Eine Famulatur machte ich im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain unter Professor Klose, einem bekannten Schilddrüsenchirurgen. Ich konnte ihm einige Kniffe bei der Untersuchung dieser Patienten abgucken. Aber auch andere chirurgisch zu behandelnde Patienten lagen auf der Station. Einer litt unter den Spätfolgen einer Schussverletzung. Anamnese: Er war auf der Seite der Nazitruppen im spanischen Bürgerkrieg 1936–1939 bei Ibiza in eine Maschinengewehrgarbe der republikanischen Verteidiger geraten.

      Auch im Nachbarzimmer litt ein Mann unter alten Kriegsverletzungen, ebenfalls im spanischen Bürgerkrieg empfangen, allerdings auf der anderen, der republikanischen Seite. Beide hatten feste Bettruhe, konnten sich also nicht begegnen. Der spanische Bürgerkrieg lag damals erst 20 Jahre zurück, da war es noch nicht ausgeschlossen, dass alter Streit erwachen könnte.

      Eine weitere Famulatur absolvierte ich im kleinen katholischen Krankenhaus Hedwigshöhe, bei Berlin-Grünau, einer Zweigstelle des bekannteren Hedwigskrankenhauses im Berliner Zentrum. Ich hatte mich dort beworben, weil ich, obwohl damals selbst nur noch Christ pro forma, christliche Menschlichkeit aus der Nähe kennen lernen wollte. Schon die Anmeldung bot eine Überraschung. Frage der Anmeldeschwester: „Religion?“ Ich stutzte – diese Frage war in der DDR unzulässig und unüblich. Sie sah mein verdutztes Gesicht und entschied kühl: „Also evangelisch“ und traf es damit. Offenbar wurden die Ergebnisse dieser Befragung nicht nur notiert. Als wir Famuli – wir waren im ganzen Hause wohl drei – eines Tages in unseren Aufenthaltsraum kamen, lag kommentarlos ein großer Bildband auf dem Tisch. Er zeigte in ausgezeichneten Fotos mit Erläuterungen Prozessionen zum katholischen Fronleichnamsfest. Das Vorwort widmete den Prachtband ausdrücklich den Menschen nicht-katholischen Glaubens. Sie sollten bildhaft sehen, welche seelisch erhebenden Feiern Katholiken begehen und wie große Menschenmassen die Kirche mobilisieren konnte. Wir blätterten das Buch sorgsam durch und damit war die Sache erledigt. Niemand sagte uns, er habe es hingelegt, niemand fragte uns, ob es uns gefiele. Einige Tage später war der Band wieder fort. Da wir in keiner Weise bedrängt wurden, nahmen wir die Sache als faires geistliches Angebot, das uns zu nichts verpflichtete.

      Im Krankenhaus Hedwigshöhe begegnete ich zum ersten Mal im Leben Nonnen, Krankenschwestern, die dem Boromäer-Orden angehörten. Ihre große, klapperhart gestärkte Haube war hinderlich beim Telefonieren, denn sie konnten den Hörer nur außen an die Haube halten. Wer das wusste, sprach am Telefon etwas laut mit ihnen. Das Telefon in ihrer Hand, dazu meist die moderne Armbanduhr am Handgelenk bildeten zur mittelalterlichen Tracht einen seltsamen Kontrast, der ihnen aber nicht mehr bewusst war. Trotz ihres Verzichts auf Sexualität, Ehe, Familie, Kinder fand ich in ihnen überwiegend lebensfrohe Naturen, die vielleicht zufriedener mit sich und der Welt waren, als andere Menschen, die sich weniger Verzicht auferlegten – für mich ist das bis heute erstaunlich aber unverständlich und keinesfalls nachzuahmen.

      Eines Tages fiel vor den Ohren einer Krankenschwester der alltägliche Satz: „Wenn ich sterbe, dann möglichst rasch, am besten im Schlaf.“ Das galt damals wie auch meist heute als oft geäußerter Wunsch. Die Schwester aber protestierte lebhaft: „Das ist Sterben wie ein Hund! Ich will mich richtig und ordentlich von der Welt verabschieden, ehe ich gehe.“ Ich war beeindruckt, wenn auch nicht überzeugt: so hatte ich das nie gesehen. Sehr bald erlebte ich das Gesagte in der Praxis. Eine tief gläubige Patientin wusste, dass sie nur noch wenige Stunden zu leben hatte. Sie empfing die Tröstungen des Hausgeistlichen und auch die besonders liebevollen Worte und Pflegemaßnahmen der Schwestern. Dann starb sie gefasst. Kommentar der Schwestern: „So kann man nur im festen Glauben an Gott sterben. Wir haben hier schon manchen Parteifunktionär sterben sehen. Sie alle verloren beim unausweichlichen Ende die Beherrschung und starben elend und in Angst“.

      Chef des Hauses Hedwigshöhe und gleichzeitig Chefchirurg war ein Dr. Pochhammer, selbst natürlich gläubiger aber in diesem Punkte schweigsamer Katholik. Er war durch die Ehe mit der Tochter eines großen Pharma-Betriebsinhabers zu viel mehr Geld gekommen, als er im Beruf je verdienen konnte. Man munkelte von Millionen, was damals noch mehr als heute bedeutete. Für seinen Lebensunterhalt brauchte er sich die Belastungen des Chefchirurgen keineswegs aufzuladen. Aber er war der Meinung, dass ein Mann im besten Leistungsalter nicht faulenzen dürfe. An ihm war zweierlei zu beobachten: Sein Geld beruhigte ihn spürbar und seine aufreibende Arbeit machte ihn offenbar zufrieden.

      Eines Abends sollten wir während einer FDJ-Versammlung wohl überrumpelt werden. Soweit ich mich erinnere, war die Tagesordnung vorher nicht bekannt gegeben worden, obwohl das FDJ-Statut das vorsah. In der Beratung wurden wir dann plötzlich und ziemlich dringlich aufgefordert, uns zur vormilitärischen Ausbildung bereit zu finden. Zwar hatte ich, wie schon beschrieben, vor Studienbeginn eine Ausbildung in der GST durchgemacht, die ebenfalls mit Waffen zu tun hatte. Aber indessen kannten wir ein wenig die Genfer Konvention, die dem Sanitätspersonal allenfalls die Selbstverteidigung bei Übergriffen gegnerischer Truppen gestattet. Genau damit wurde die Aufforderung zur Ausbildung auch begründet.

      Aber allzu viel Ausbildung und die drängende Art der Aufforderung waren uns verdächtig. Was steckte wirklich dahinter? So herrschte betretenes Schweigen. Ich brach trotz meiner Furcht vor den Folgen die Stille und erklärte, das sei mit meinem Gewissen unvereinbar, auch weil unter Realbedingungen keine Garantie bestünde, dass es bei Selbstverteidigung bliebe. Ich hatte kaum gesprochen, da brachen die Dämme. Die Masse der Studierenden lehnte die Ausbildung ab. Der vorbereitete Beschluss konnte nicht durchgesetzt werden. Die Versammlung endete ohne Ergebnis und der Verlauf war am nächsten Tag im ganzen Studienjahr bekannt.

      Natürlich drängten die staatlichen Oberen und die der FDJ weiter. Allerdings habe ich später erfahren, dass es auch in der Hochschulgruppenleitung der FDJ Widerspruch gegeben hatte, darunter durch eine Studentin, die wir später noch näher kennenlernen werden. Aber auch ohne diese Kenntnis wehrten wir uns weiter, zitierten die Genfer Konvention und manches weitere Argument. Ein Student bemerkte öffentlich: „Ich bin kein Held und will auch keiner werden.“ Andere, mit denen ich mich am Biertisch beriet, waren raffinierter. Einige verstanden angeblich ein wenig von militärischen Dingen. Sie argumentierten genau anders herum. Der militärisch Halbgebildete gefährdet sich bei Waffengebrauch nur unnütz. Er sollte sich besser ergeben. Aus dieser Logik heraus verlangten sie eine komplette Ausbildung, die nur so Sinn hätte. Die war natürlich neben dem Medizinstudium nicht möglich und eine Studienunterbrechung angesichts des Ärztemangels stand nie zur Diskussion. Also liefen diese schlitzohrigen Argumente ebenfalls auf eine Ablehnung hinaus, ohne dass sich die Vertreter dieser Richtung besonders exponierten. Solche aalglatte Taktik hat mir selbst nie gelegen. Ich ging die Dinge immer frontal und dabei oft unklug an. Daran hat sich bis heute wenig geändert.

      Es gab in dieser Zeit eine Zwischenprüfung in Gesellschaftswissenschaften. Die Prüfungsfragen waren für mich leicht, da sie sich mit der Geschichte des Dritten Reiches befassten und ich meinen sehr guten Schulunterricht voll anwenden konnte. So steuerte schon alles auf die Note Eins hin, da kam der Schlag: Der Prüfer erwartete nicht nur Kenntnisse, sondern Zustimmung zur Staatspolitik und forderte meine Unterschrift zur vormilitärischen Ausbildung. Sonst wären meine gute Zensur und damit das Leistungsstipendium dahin. Damit wäre das Studium insgesamt in sehr ernste Gefahr geraten.


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