Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff
menschliches Zusammenleben unmöglich ist. Immerhin hat Brecht (im „Leben des Galilei“) einen analogen Eid für Physiker vorgeschlagen.
Wir bewunderten die Größe und Ausstattung der Hörsäle. Der bis 1955 neu erbaute Anatomie-Hörsaal hatte ungefähr 650 Plätze, alle damals moderne Darstellungstechnik, wie große Glastafeln, die aufklappbar waren und mit Schemata und Folien sowie weißer Grundierung hinterlegt werden konnten. Die Glastafeln waren angeraut und so konnte man auf ihnen mit allen Farben schreiben und malen, auch mit Schwarz, im Unterschied zu den uns bis dahin geläufigen, gewöhnlichen Schultafeln. Natürlich fuhren diese riesigen Platten elektrisch auf und ab, natürlich gab es einen Saaldiener, der sie sorgfältig, Streifen für Streifen säuberte und trocknete. Hörsaalverdunklung, Leinwand, Diaprojektion und die damals relativ neue episkopische Projektion waren selbstverständlich. Auch einen Polylux-Projektor (damals auch Belsazar-Gerät, heute meist Overheadprojektor genannt) sahen wir hier erstmalig.
Anatomie heißt Formen und Strukturen kennen und wiedererkennen. Die optische Ausstattung des Auditoriums war daher wichtig, ebenso exzellente Abbildungen in den Lehrbüchern und anatomischen Atlanten, die daher entsprechend teuer waren. Deswegen kaufte man gern bei höheren Semestern zu ermäßigten Preisen und sah über Gebrauchsspuren hinweg.
Die akademischen Lehrer, Anton Waldeyer
Nach einigen Wochen wurden die ersten anatomischen Präparate vom Menschen gezeigt, zuerst ein sauber abpräpariertes, einzelnes Bein. Wer nicht Medizin studiert hat, macht sich manchmal gruselige Vorstellungen von diesem Lehrabschnitt. Soweit ich sehen konnte, fiel niemand in Ohnmacht. Die meisten von uns erfasste aber eine bis dahin ungekannte Traurigkeit. „Das war also einmal ein Mensch“, dachten und fühlten wir.
Absolut nicht geduldet wurden auf den Präpariersälen auch nur die mindesten Ansätze unpassenden Benehmens. Als eine Studentin dort mit grell lackierten Fingernägeln arbeitete, war beim Direktor der Anatomie, Prof. Anton Waldeyer, das Maß voll. Die junge Dame musste die Gummihandschuhe ausziehen, eine Nagelfeile wurde herbeigeholt und Waldeyer selbst feilte ihr unter dem Beifall der Mitstudenten den nach seiner und unserer Meinung absolut ungehörigen Fingerschmuck herunter. Damit waren die strengen Maßstäbe klargestellt, an denen ich bis heute festhalte.
Es gab keine Wiederholungen. Kein Mensch hätte auch nur entfernt an Widerspruch gedacht. Viele unserer Professoren und Dozenten waren aus Westberlin und äußerten sich kaum zu politischen Themen. Sie orientierten sich offenbar am Leitbild des unpolitischen Arztes. Dem DDR-Regime gegenüber waren sie vermutlich distanziert, gaben aber für ihre wissenschaftliche Arbeit und Lehrtätigkeit alle Kraft. Die DDR konnte froh sein, diese teils international bekannten Kapazitäten als Lehrstuhlinhaber gewonnen zu haben. Keine Universitätsleitung hätte einem Studenten Recht gegeben, der sich über zu strenge Behandlung durch eine Lehrkraft beschwert hätte. Auch die große Mehrzahl von uns selbst, begrüßte klare Regeln, die auch eingehalten wurden. Unbeständigkeit konnten wir nicht gebrauchen, denn das Medizinstudium ist in dieser Etappe in hohem Maße ein Fleiß- und Büffelstudium, das keine Verschwommenheiten verträgt. Und die akademischen Lehrer aus Westberlin waren tatsächlich oft eindrucksvolle Vorbilder und genossen den Respekt ihres Auditoriums mit vollem Recht.
Ein Problem verursachte allerdings die westliche Herkunft von Waldeyer. Wir brauchten das von ihm verfasste Anatomie-Lehrbuch. Das war natürlich beim westdeutschen Verlag de Gruyter erschienen, kostete daher Westgeld, das wir nicht hatten. Das Buch musste – sicher gegen Devisen – in die DDR importiert werden, um es für uns erreichbar zu machen. Jedes Jahr musste Waldeyer einen monatelangen Kampf mit den DDR-Behörden um den Import seines Werkes ausfechten. Das kostete Zeit, aber er gewann ihn immer. Waldeyer war übrigens absolut kein Kind von Traurigkeit. Als gebürtiger Rheinländer, war der Karneval für ihn der Jahreshöhepunkt. Er wurde von uns Studenten zweimal zum Karnevalsprinzen gekürt und mit den Namen „Anton der Erste“ und im Folgejahr „Prinz Antonius Waldivarius – der Gleiche“ beehrt. Natürlich konnten wir nicht drei tolle Tage feiern, aber er plädierte dafür, das Zeitdefizit durch Intensität in acht vergnügten Stunden hereinzuholen. Er präsidierte der abendlichen Tanzveranstaltung mit einer großen Tafel, an der seine ungefähr 30 Assistenten saßen. Dort wurde stramm getafelt und Waldeyer bezahlte die Zeche allein. Das war noch nicht alles: Fand sich in seinem näheren Blickfeld im Laufe des Abends ein Pärchen zusammen, brachte der Ober bald eine Flasche Sekt auf Rechnung unseres Karnevalsprinzen. Natürlich setzte sich manches Pärchen absichtlich in sein Blickfeld, aber ob er die Absicht bemerkte oder nicht, seine Börse stand Verliebten offen.
Rienäcker
Faszinierend waren auch die Chemievorlesungen bei Professor Rienäcker. Im Hörsaal mit etwa 400 Plätzen hinter dem Experimentiertisch stehend, der fast ebenso lang, wie der Hörsaal breit war, also mindestens zehn Meter, versprach Rienäcker uns, in jeder Vorlesung würde es mindestens einmal knallen. Das hielt er ein. Dennoch warnte er seine Hörer eindringlich vor Spielereien mit den unberechenbaren Chloratverbindungen, die bei Explosionen im Labor meist den ahnungslosen Nachbarn des Leichtsinnigen verletzen.
Er sagte, dass sich die Chemie-Ordinarien in Ost, West, Österreich und deutschsprachiger Schweiz einig seien: Wer bei Chloratspielereien erwischt wird, kann an keiner Universität im deutschen Sprachraum mehr Chemie oder eine Wissenschaft, die das einschließt, studieren. In den Westen zu gehen, würde daher nichts nützen. Wir fanden es eindrucksvoll, dass sich Wissenschaftler über solch ein Thema grenzüberschreitend einigen konnten.
Ich hatte mit den hohen Anforderungen im Fach Chemie weniger Schwierigkeiten, als die meisten Mitstudenten, weil ich an der Klement-Gottwald-Oberschule beim blutjungen Chemielehrer Rolf Gapp eine ausgezeichnete Vorbildung genossen hatte. Nicht wenige meiner Mitschüler sind nach dem Abitur übrigens gute Chemiker geworden, wie sich bei einem Klassentreffen 2005 herausstellte.
Tembrock im Vorphysikum
Nach dem ersten Studienjahr folgte das Vorphysikum, die erste große mündliche Zwischenprüfung, in den Fächern Chemie, Physik, Botanik und Zoologie. Aus den drei erstgenannten Prüfungsteilen ist mir nichts mehr erinnerlich, sie liefen jedenfalls problemlos ab. In Zoologie trat ein Mini-Problem auf. Ich hatte für die vorangehende Botanikprüfung besonders Vererbungslehre gepaukt, weil der Prüfer, Professor Noack, viel danach fragte. Dazu hatte ich mir natürlich botanische Beispiele eingeprägt, beliebtes Demonstrationsbeispiel waren damals in verschiedenen Farben blühende Erbsen.
Aber in Botanik prüfte ein Assistent über andere Themen. Dafür fragte mich Dr. Tembrock in Zoologie nach Vererbungsregeln. Seelenruhig spulte ich meine eingetrichterten Erbsenbeispiele ab, unterbrach mich erschrocken und ging auf Florfliegen mit unterschiedlichen Augenfarben über, wie das zum Thema Zoologie besser passte. Das hielt aber nicht lange und wieder blühten meine Erbsen. Wieder riss ich mich zurück, bis Tembrock abwinkte: „Wenn Sie das am botanischen Beispiel gelernt haben, bleiben Sie ruhig dabei, die Vererbungsgesetze sind dieselben.“ Für den Prüfer war das eine Lappalie, die er sofort wieder vergessen konnte, für mich eine Hilfe, an die ich mich heute noch dankbar erinnere.
Später – Tembrock war indessen Professor geworden – sah ich ihn in vielen Fernseh-Interviews über das Verhalten der Tiere (Ethologie) sprechen. Er tat das, wie in seinen Vorlesungen auch: kenntnisreich, mit souveränem Überblick über die vielfältigen Problemlösungsstrategien der belebten Natur und gelegentlich mit einem Schuss distanzierter Ironie.
Rapoport
Nicht alle akademischen Lehrer, denen ich dankbar bin, kann ich hier würdigen. Ein Professor muss aber noch beschrieben werden: Professor Samuel Mitja Rapoport, Institutsleiter und Lehrstuhlinhaber für Physiologische Chemie, heute meist Biochemie genannt.
Er hatte in seiner Jugend als Jude und Kommunist vor den Nazis aus seiner Heimat Österreich fliehen müssen, sich in den USA als Biochemiker etabliert und großes Prestige erworben, bevor er wegen seiner linken Gesinnung dort gehen musste.
So hatte ihn sein Weg in die DDR geführt. In politischen Fragen war er aus seiner eigenen