Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

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deutsche Leser nicht hilfreich. Aber es konnte dann doch festgestellt werden, dass ihre dortigen Schulkenntnisse einen nahtlosen Übergang in die DDR-Oberschule zuließen, was sich auch praktisch bestätigte. Auch Sandra war – ausgehend vom Antifaschismus – staatstreu. Kein Wunder, die Nazis hatten 27 Mitglieder ihrer weitläufigen Familie umgebracht. Wohl deshalb verlor sie in der Schule auch kein Wort der Kritik darüber, dass die Sowjetunion ihre Familie jahrelang festgehalten hatte.

      Es war die Zeit des Korea-Krieges (1950–1953). Eines Tages erschien Sandra mit einem seidenen Kopftuch, darauf sah man eine genaue Karte Koreas. In dieser Form wurden den US-Piloten Landkarten des Kriegsgebietes mitgegeben – wetterfest, unempfindlich gegen Knautschen und sehr einfach in die Tasche zu stecken. Wer je bei Regen oder kräftigem Wind im Freien eine hier übliche, papierene Wanderkarte zusammenlegen musste, wäre für solch eine Ausführung dankbar. Sandras Tuch war einem über Nordkorea abgeschossenen, gefangenen US-Piloten abgenommen worden und als Trophäe bis zu ihr gelangt.

      Einen Mitschüler nannten wir wegen seiner Körpergröße meist „der Lange“. Hochintelligent, mit sehr schnellem, kritischem und sicherem Urteil, konnte er es nicht lassen, gelegentlich andere Mitschüler, auch mich, seine geistige Überlegenheit unangenehm fühlen zu lassen. Er war gläubiger Katholik, wovon er aber kein Aufhebens machte.

      Die FDJ war die einzige zugelassene Jugendorganisation der DDR. Entstanden im Exil während der Nazizeit und anfangs überparteilich aber jugendbezogen, wandelte sie sich bald zu einer völlig auf die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) fixierten Nachwuchsorganisation derselben. Man konnte mit 14 Jahren in die FDJ eintreten. Das taten aber in Berlin zu dieser Zeit längst nicht alle Jugendlichen. In meiner Klasse mit ungefähr acht Schülerinnen und 22 Schülern waren bis etwa 1953 nur elf FDJ-Mitglieder, wenn ich mich richtig erinnere. Erst dann traten einige von uns ein, so auch ich.

      1953 war ein ereignisreiches Jahr. Am 5. März starb Stalin und auch an unserer Schule herrschte Trauer, teils echt empfundene, wie bei Annemarie, die leise weinte, teils war sie pro forma. Im Schulfoyer stand ein Stalinbild mit Trauerflor. Als Anzeichen der beginnenden Militarisierung der DDR (parallel zur alten Bundesrepublik!) wurde das Stalin-Bild von zwei Schülern mit Luftdruckgewehren bewacht, was teilweise diskretes Kopfschütteln hervorrief. Wenige Tage später, am 14. März 1953, starb Klement Gottwald und wieder war Trauer in der Schule, die seinen Namen trug, angesagt.

      Am 17. Juni 1953 früh kreuzten in Berlin-Johannisthal am Groß-Berliner Damm Kolonnen von Arbeitern mit Gesang meinen Schulweg. Irgendjemand versuchte anzustimmen: „Wir wollen unsern alten Kaiser Wilhelm wiederhaben“, was ich damals wie heute ziemlich unpassend fand und finde. Aber die meisten Menschenzüge auf den Straßen sangen nicht, sondern schritten still dahin. In der Schule war natürlich unter Schülern und Lehrern große Unruhe. Unsere Blicke gingen aus den Klassenfenstern zur S-Bahn: Fährt sie noch oder streikt sie auch? Noch bessere Sicht auf die Straße und S-Bahn hatten wir aus den Turnhallenfenstern, weil sie näher zur Hauptstraße lagen. Plötzlich ertönte durch unseren Sportlärm hindurch Kettengerassel: Ein einzelner Panzer rollte stadteinwärts. Ihn begleitete unser vielstimmiger, gellender Wutschrei!

      Gegen Mittag endete unser Unterricht. Die S-Bahn fuhr nicht mehr, was wir freudig registrierten. Eine Reihe meiner Mitschüler griff sich ihre Fahrräder und strebte der Innenstadt zu, um sich ein eigenes Bild zu machen. Ich selbst blieb zu Hause, ich weiß nicht mehr, ob ich damals schon ein Rad besaß oder aus Vorsicht den gefährlichen Ereignissen fern blieb. Aber viele zeitgenössische und historische Beschreibungen der Ereignisse berichten über zahlreiche junge Radfahrer, die zwischen den Demonstrationszügen pendelten, Nachrichten zwischen ihnen übermittelten und das Geschehen beobachteten.

      Die vereinzelte Behauptung, das seien westliche Agenten und Rädelsführer gewesen, kann ich insgesamt nicht beurteilen. Jedenfalls waren meine radelnden Klassenkameraden ganz bestimmt keine bewussten Täter, ganz gleich wofür, sondern einfach neugierig und auch jugendgemäß abenteuerlustig. Übrigens gibt es mindestens ein Bild der Novemberrevolution 1918 in Berlin, auf dem ebenfalls Jungen neben der Spitze eines Demonstrationszuges herlaufen (zum Beispiel unter www.preussen-chronik.de), allerdings damals noch ohne die seinerzeit teuren Fahrräder.

      Im RIAS wurde berichtet, dass die Stahlwerker von Hennigsdorf, nordwestlich von Berlin, durch Westberlin hindurch nach Ostberlin gezogen kämen. Gleichzeitig ging aus den Meldungen hervor, dass DDR-Polizei auf Demonstranten schoss, dass der Blockpolitiker Otto Nuschke (DDR-CDU) mit seinem Auto kurzzeitig nach Westberlin abgedrängt wurde, dass unter den Demonstranten plötzlich an vielen Orten Personen auftauchten, die man als SED-gesteuert ansah, weil sie zum Abbruch der Kundgebungen aufforderten. Und die Präsenz von sowjetischen Panzern nahm zu. Es folgte die Verhängung des Ausnahmezustandes mit Versammlungsverbot und nächtlicher Ausgangssperre.

      Er könnte auch gut und gern diese Argumente geliefert haben, einen Aufstand abzubrechen, der bei seiner weiteren Fortsetzung nur noch mehr sinnloses Blutvergießen kosten würde. Falls der RIAS wirklich, wie die DDR-Oberen behaupteten, mit dem US-Geheimdienst verquickt war, benutzte er jedenfalls eine psychologisch geschickte Argumentation, um den Demonstranten den unvermeidlichen Rückzug schmackhaft zu machen.

      Die Nacht zum 18. Juni 1953 war für mich lange schlaflos. Auf der südöstlichen Ausfallstraße durch Grünau, Adlershof, Schöneweide (damals Adlergestell und Grünauer Straße, heute Michael-Brückner-Straße) rollten vom Abend bis in die tiefe Nacht ununterbrochen Panzer. Diese Straße lag von meiner Wohnung vielleicht 1 200 Meter Luftlinie entfernt. In der Stille der Nacht hörte man einen Panzer damaliger Bauart auf befestigter Straße etwa vier bis acht Kilometer weit. An einer bestimmten Stelle erreichten sie anscheinend anderen


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