Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff


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die Oberschule auch in Berlin erst mit der neunten Klasse zu beginnen, wie in der gesamten DDR. So wurde uns eröffnet, dass wir gar nicht die Oberschule besucht hätten: „April, April!“ Wir bekamen noch eine Aufnahmeprüfung verordnet, die ich aber ebenfalls überstand. Indessen war die Oberschule ein wenig spezialisiert worden. Der A-Zweig war stärker sprachlich geprägt, der B-Zweig bot etwas mehr Naturwissenschaften, der in Berlin nur am Gymnasium zum Grauen Kloster (das hieß wirklich auch in Ostberlin „Gymnasium“) vertretene C-Zweig war stark altsprachlich ausgerichtet.

      Da ich zunächst mit dem Gedanken spielte, Chemiker zu werden, trat ich in den B-Zweig ein, erkennbar an den Klassenbezeichnungen 9 B2 (es gab zwei parallele B-Klassen an meiner Schule) bis 12 B2. Das kam auch meiner Unlust entgegen, Sprachen zu lernen. Sie ist mir geblieben: Bis heute kann ich nur wenige Brocken Englisch, kläglichste Reste aus dem Unterricht in der 7. bis 8. Klasse. Auch mein Russisch habe ich fast vergessen. Schade! Aber es fand sich später eine unerwartete Abhilfe für mich Sprachmuffel, die mich rettete. Dazu nachher.

      Ab September 1951 begann gleichzeitig auch der gemeinsame Unterricht von Jungen und Mädchen, ein gerade für uns Pubertierende aufregendes Ereignis. Die Jungen unserer Klasse, die noch ein, zwei Jahre vorher verächtlich von „dusslichen Weibern“ gesprochen hatten, begannen eine der neuen Mitschülerinnen vorsichtig zu umwerben. Auch ich schwärmte für diese blonde, temperamentvolle und schlagfertige Schönheit mit den munteren Äuglein, gestand mir das aber nicht einmal selbst ganz ein. Außerdem war mein Vater 1950 gestorben und meine Mutter musste mich als Angestellte der Sozialversicherung mit ihrem recht schmalen Gehalt und meiner kleinen Halbwaisenrente allein durchbringen. Da war Lernen mit voller Konzentration angesagt, denn als einziges Kind war ich die lebende Altersversorgung meiner Mutter. Sie sah einer nicht besonders üppigen Rente entgegen, und ich durfte ihr und mir keine schulischen Pannen zumuten.

      Feste Bindungen entstanden aber zwischen uns Vierzehnjährigen anfangs ohnehin nicht. Die Scheu vor dem unbekannten Reich der Liebe und gar der Sexualität war bei Jungen und Mädchen noch zu groß. Eine andere Mitschülerin hat beim Klassentreffen 2005 von versäumten Gelegenheiten der Schulzeit gesprochen und erhielt Zustimmung. Erst ab ungefähr der 11. Klasse gab es mindestens eine feste Beziehung, die nach der Schulzeit auch in einer Ehe mündete, die allerdings nicht das Leben lang hielt.

      Indessen war mein einstiger Englischlehrer durch Staats- und Parteitreue zum Stellvertretenden Direktor und bald zum obersten Chef der Schule aufgestiegen. Er erteilte einen strikt am historischen Materialismus, das heißt der marxistischen Geschichtsinterpretation orientierten, aber in den Fakten und seiner inneren, glasklaren Logik exzellenten Geschichtsunterricht. Außerdem sorgte er für eine lückenlos staatstreue Orientierung der Schule und schonte sich dabei nicht. Für unsere Entwicklung schuf er auch die dazu nützlichen Verbindungen. Dabei kam ein Zufall gelegen.

      Einige Schüler der 12. Klasse hatten an den tschechischen Schriftsteller deutscher Sprache, F.C. Weiskopf, geschrieben, der sich damals gerade in der Volksrepublik China aufhielt. Weiskopf antwortete und bald hielt er bei uns eine Schriftstellerlesung. Uns alle faszinierte seine Fähigkeit, aus seinem Leben ganz unkompliziert zu berichten und dabei vom freien Plauderton fast unmerklich auf den Text seiner veröffentlichten Erzählungen überzuleiten. Das festigte die Beziehungen zu Weiskopf, den ich heute noch gern lese, und zur Tschechoslowakei (ČSR, später ČSSR). Bald erhielt unsere Schule den ehrenvollen Namen „Klement Gottwald“ (des Staatspräsidenten und Vorsitzenden der KP der ČSR) und sie war „Schule der deutsch-tschechoslowakischen Freundschaft“.

      Der Botschafter dieses Landes war bei den meisten Schulfesten freundlicher Ehrengast und man konnte bei uns auch Tschechisch lernen. Die Nationalhymne der Tschechoslowakei mit den damaligen Texten (ein Teil für Tschechien, der die Schönheit der Natur lyrisch besingt, danach eine Passage – der Slowakei gewidmet – die an den antifaschistischen Aufstand der Slowaken 1944 erinnern soll.) kann ich heute noch. Text und Melodie des tschechischen und des jetzt getrennten slowakischen Teils sind gleich geblieben.

      Der Direktor tat noch etwas anderes für unsere Bildung. Aus seiner Jugendzeit kannte er einen Arbeiter des nahen Reichsbahnausbesserungswerkes (RAW) Schöneweide, der jetzt auch ehrenamtlich Rudertrainer war. Dem bot er Gelegenheit, an unserer Schule für seinen Sport zu werben und bald war fast unsere halbe Klasse, auch ich, in der Sektion Rudern der Betriebssportgemeinschaft (BSG) Lokomotive RAW Schöneweide. Das kräftigt die Arme: In dieser Zeit gab es für mich keine klemmenden Schiebetüren der Berliner S-Bahn. Spätestens beim zweiten Versuch waren sie immer offen, auch wenn Tunichtgute sie von innen heimlich zu blockieren versuchten. Die meisten Mitschüler ruderten aber nicht lange. Doch einmal auf den Geschmack gekommen, wechselten einige dann nur die Sportart – ich ging zur Leichtathletik und war ein leidlicher Mittelstreckenläufer – andere wechselten auch bloß den Verein.

      Zweierlei habe ich von da mitgenommen: Erstens, wer im Sommer auf dem Wasser Spaß haben will, muss im Winter bei der Bootspflege mitmachen. Seitdem habe ich was gegen Leute, die im Wald zwar jagen, aber sich vor der winterlichen Wildfütterung und anderen dazu gehörenden Arbeiten drücken wollen. Zweitens habe ich mir etwas Freude bewahrt, die Welt vom Wasser aus zu sehen und verdanke dem einige schöne Bootstouren, zuletzt mit 53 Jahren, mit dem Paddelboot auf den Seen Mecklenburgs.

      Ich möchte den Leserinnen und Lesern nun einige meiner Klassenkameradinnen und -kameraden vorstellen. Um nicht zu viel Persönliches zu verraten, stehen in diesem gesamten Abschnitt keine oder nur veränderte Namen.

      Eine Mitschülerin, nennen wir sie hier Annemarie, verschwand nach vielen Versammlungen der einzigen Jugendorganisation (Freie Deutsche Jugend = FDJ) oft eilig im Direktorzimmer und dieser erwies sich dann am nächsten Tage als wohlinformiert. Das war kein Geheimnis. Sie handelte aber aus fester Überzeugung und war sonst eine unauffällige, aber nicht allgemein beliebte Mitschülerin mit nur mäßigen schulischen Leistungen.

      Ein anderer Mitschüler, Norbert, war findiger Organisator von Klassenfahrten, technisch begabt und hatte Geschick beim Anfertigen von Wandzeitungen. Da wir Fasermaler noch nicht hatten, malte und schrieb Norbert auf großen Flächen mit Tuschpinsel und Stempelfarbe oder Tinte. Norbert hatte auch eine tolle Methode fürs Abschreiben bei angekündigten Klassenarbeiten ersonnen. Unsere Bänke und Tische standen teilweise unmittelbar an der Fensterwand. Die Fensterbretter ragten handbreit in den Raum. Norbert spannte zu Hause ein Blatt Papier in die Schreibmaschine seiner Mutter, legte einen Kohlebogen verkehrt herum dahinter und tippte ohne Farbband einen Spickzettel. Dadurch erschien das Geschriebene auf der Rückseite des Zettels in Spiegelschrift. Das klebte er nun mit der Spiegelschrift nach außen unter das Fensterbrett und ließ auf seinem Tisch wie versehentlich einen Taschenspiegel liegen, in dem er natürlich seinen Spickzettel lesen konnte. So mancher Lehrer nahm ihm misstrauisch kurz den Spiegel ab und untersuchte ihn – ergebnislos, denn der Spickzettel erschien natürlich nur darin, wenn man genau auf Norberts Platz saß und der Spiegel entsprechend lag. Die heutige Pädagogik verurteilt übrigens Spickzettel nur noch bedingt, denn bei der Konzentration der Einträge auf einem kleinen Papierstück muss man den Stoff gut durcharbeiten, um auszuwählen. So tritt ein Lerneffekt ein und an manchen Volkshochschulen wurden die Kursteilnehmer schon aufgefordert, den erarbeiteten Stoff auf einem winzigen Papierstück zusammenzufassen.


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