Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff
HO = Handelsorganisation, eine staatliche Handelsgesellschaft, die in anfänglich geringem Umfang Lebensmittel und andere Waren zu sehr hohen Preisen frei verkaufte.
5 Es gibt auch Darstellungen, zum Beispiel des Historikers Siegfried Prokop, die einen Anteil des Geheimdienstes der UdSSR an dieser Demo vermuten. Es war angeblich aufgefallen, wie neu die Bauarbeiterkleidung der ersten Demonstranten aussah. Nach Prokops Annahme (selbst gehörtes Interview mit ihm) wollte die UdSSR Alleingänge der DDR-Führung in Sachen Wiedervereinigung durch einen kleinen Aufstand diskreditieren, zu dessen Niederschlagung die DDR-Obrigkeit dann von sowjetischer Hilfe abhängig wurde. Ich will diese Hypothese hier weder werten noch unterschlagen. Auch sei erwähnt, dass immer wieder eine entscheidende westliche Einflussnahme behauptet wurde, natürlich schob die DDR-Regierung die Ereignisse insgesamt darauf.
6 Rundfunk im amerikanischen Sektor; an leitenden Stellen saßen in ihm US-Bürger, in der DDR wurde er als Organ des Geheimdienstes der USA bezeichnet.
7 In einer Sendung „Am Tage als“ des ORB, (jetzt rbb); das Datum kann ich nicht mehr angeben.
8 Gregor Mendel hat wissenschaftlich zwingend bewiesen, dass Eigenschaften hochgradig konstant vererbt werden. Siehe dazu auch im Kapitel über das Medizinstudium, Absatz über Prof. Rapoport.
Lob des Lernens
Lerne das Einfachste! Für die,
Deren Zeit gekommen ist,
Ist es nie zu spät!
Lerne das Abc, es genügt nicht, aber
Lerne es! Lass es dich nicht verdrießen!
Fang an! Du musst alles wissen!
Du musst die Führung übernehmen.
Lerne, Mann im Asyl!
Lerne, Mann im Gefängnis!
Lerne, Frau in der Küche!
Lerne, Sechzigjährige!
Du musst die Führung übernehmen.
Suche die Schule auf, Obdachloser!
Verschaffe dir Wissen, Frierender!
Hungriger, greif nach dem Buch:
Es ist eine Waffe.
Du musst die Führung übernehmen.
Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!
Lass dir nichts einreden,
Sieh selber nach!
Was du nicht selber weißt,
Weißt du nicht.
Prüfe die Rechnung,
Du musst sie bezahlen.
Lege den Finger auf jeden Posten,
Frage: Wie kommt er hierher?
Du musst die Führung übernehmen.
Bertolt Brecht
Kapitel 2
Ein ereignisreiches Medizinstudium
Einen Studienplatz bekommen
Nun standen allerlei Entscheidungen an. Wo studieren? Ich wollte zur Humboldt-Universität in Berlin. Mein Hausarzt riet mir zur Militärmedizinischen Fakultät der Universität Greifswald, weil die Aussichten auf einen Studienplatz viel besser waren und die Karrierechancen wohl auch. Meine Mutter fragte ihn ganz erstaunt: „Sie raten dazu“? Er war bekennender Katholik und stand dem DDR-Regime mindestens distanziert gegenüber, soweit er das erkennen ließ. „Ja, Frau Loeff, nur wenn wir drin sind, können wir etwas verändern“, erwiderte er sinngemäß. Sowohl meine Mutter wie auch ich haben uns dennoch auf dieses Doppelspiel nicht eingelassen, erstens schien es uns nicht sehr ehrlich und zweitens sind die Möglichkeiten, aus einer Armee heraus etwas von innen zu ändern, von Ausnahmen abgesehen, meist gering. Auch waren weder meine Mutter noch ich allem Militärischen besonders gewogen. Es blieb bei meiner Bewerbung an der Humboldt-Universität.
Ich wurde noch vor Studienzulassung und Studienbeginn über die FDJ zu einem vormilitärischen Lehrgang der GST(1) nach Prerow auf dem Darß einberufen. Der Lehrgangsbesuch war mit der Zusage auf einen Studienplatz verbunden. So trat ich ihn an. Dort traf ich auf Medizinstudenten höherer Studienjahre, die mich durch ihre Abgeklärtheit teilweise ziemlich beeindruckten. Im Lehrgang wurde viel exerziert und Sturmangriffe im Gelände geübt, wobei die Gegner sich mit Grasbatzen bewarfen. Die technischen Feinheiten eines Karabiners, einer Maschinenpistole und des Maschinengewehrs wurden uns durch Auseinandernehmen und Zusammensetzen beigebracht.
Bei dieser Ausbildung gab es, wie bei fast jeder militärischen Veranstaltung, nach der bekannten Redensart ‚Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens‘ viel Leerlauf. Den füllte sehr klug ein Politoffizier mit musikalischer Begabung und einem riesigen Schatz an Arbeiter- und Kampfliedern aus vielen Ländern. Er stellte sich einfach in unsere Nähe, ließ sein Akkordeon erklingen und wenn wir uns neugierig um ihn scharten, brachte er uns das intonierte Lied bei. Es waren Texte aus der Zeit der nachrevolutionären Kämpfe in Deutschland 1918–1919, von der Münchener Räterepublik und der „Kleine Trompeter“ sowieso. Besonders hatten es uns die italienischen Melodien angetan: „Avanti populo“ (Bandiera rossa) und „Bella ciao“, die ich heute noch singen kann und gern höre.
Wieder zu Hause erreichte mich ein Brief mit einer Ablehnung für das Studium. Das war anders zugesagt und ich beschwerte mich bei der FDJ-Leitung der Medizinischen Fakultät. Schleunigst wurde ich noch angenommen.
Eintritt ins Studentenleben
In jeder Hinsicht eindrucksvoll war die Immatrikulationsfeier der Universität im September 1955. An Selbstständigkeit wurden wir dabei auch gleich gewöhnt: Es war durch Aushang bekannt gegeben: „Anatomie, Hannoversche Straße, neuer Hörsaal“. Wo der genau war, sagte uns Neulingen kein Mensch dazu! So suchten Hunderte von Studenten ziemlich lange auf dem weiträumigen Gelände und die Mehrzahl fand sich nur langsam am Ort ein.
Die Festansprache hielt der bekannte Berliner Gynäkologe Prof. Helmut Kraatz(2), der gleichzeitig ein brillanter Redner war und besonders die große Geste beherrschte. Er beschrieb uns die akademische Freiheit als „die Freiheit, alles zu lernen“ und als Fähigkeit zur Verantwortung ohne Zucht- und Zügellosigkeit. Von einem ausschweifenden Studentenleben konnte also keine Rede sein und die Berliner Uni war immer dafür bekannt, viel zu arbeiten und wenig zu feiern. Den Arztberuf verband Kraatz mit hohen moralischen Anforderungen und gestaltete unsere Verpflichtung auf den Eid des Hippokrates zum Höhepunkt der Veranstaltung.
Dieser Eid, der tatsächlich nie so unverrückbar war, wie man ihn darstellte, und der auch heute einem gewissen Wandel unterliegt, wurde zeitweise belächelt und manche Ärzte gerieten in das schiefe Licht, Moralapostel zu sein und sich hinter dem hippokratischen Eid vor unbequemen Entscheidungen zu verstecken.
Ich bin dennoch bis heute dankbar, damals zuerst in meinem Leben meine zukünftigen Verpflichtungen so einprägsam erfahren zu haben. Besonders berührte mich der Satz: „Ich werde unterlassen alle Werke der Wollust an den Leibern meiner Patienten, Freien wie Sklaven.“ Dass selbst Sklaven, über deren Körper und sogar Leben der Besitzer in der Antike sonst willkürlich bestimmen konnte, vor lüsternen Begierden des Arztes geschützt sein sollten, fand und finde ich eine beachtliche humane Haltung. Sie respektiert doch wenigstens bei der medizinischen Behandlung den Sklaven als Menschen.