Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff


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HO = Handelsorganisation, eine staatliche Handelsgesellschaft, die in anfänglich geringem Umfang Lebensmittel und andere Waren zu sehr hohen Preisen frei verkaufte.

      Lob des Lernens

      Lerne das Einfachste! Für die,

      Deren Zeit gekommen ist,

      Ist es nie zu spät!

      Lerne das Abc, es genügt nicht, aber

      Lerne es! Lass es dich nicht verdrießen!

      Fang an! Du musst alles wissen!

      Du musst die Führung übernehmen.

      Lerne, Mann im Asyl!

      Lerne, Mann im Gefängnis!

      Lerne, Frau in der Küche!

      Lerne, Sechzigjährige!

      Du musst die Führung übernehmen.

      Suche die Schule auf, Obdachloser!

      Verschaffe dir Wissen, Frierender!

      Hungriger, greif nach dem Buch:

      Es ist eine Waffe.

      Du musst die Führung übernehmen.

      Scheue dich nicht, zu fragen, Genosse!

      Lass dir nichts einreden,

      Sieh selber nach!

      Was du nicht selber weißt,

      Weißt du nicht.

      Prüfe die Rechnung,

      Du musst sie bezahlen.

      Lege den Finger auf jeden Posten,

      Frage: Wie kommt er hierher?

      Du musst die Führung übernehmen.

      Bertolt Brecht

      Ein ereignisreiches Medizinstudium

      Einen Studienplatz bekommen

      Nun standen allerlei Entscheidungen an. Wo studieren? Ich wollte zur Humboldt-Universität in Berlin. Mein Hausarzt riet mir zur Militärmedizinischen Fakultät der Universität Greifswald, weil die Aussichten auf einen Studienplatz viel besser waren und die Karrierechancen wohl auch. Meine Mutter fragte ihn ganz erstaunt: „Sie raten dazu“? Er war bekennender Katholik und stand dem DDR-Regime mindestens distanziert gegenüber, soweit er das erkennen ließ. „Ja, Frau Loeff, nur wenn wir drin sind, können wir etwas verändern“, erwiderte er sinngemäß. Sowohl meine Mutter wie auch ich haben uns dennoch auf dieses Doppelspiel nicht eingelassen, erstens schien es uns nicht sehr ehrlich und zweitens sind die Möglichkeiten, aus einer Armee heraus etwas von innen zu ändern, von Ausnahmen abgesehen, meist gering. Auch waren weder meine Mutter noch ich allem Militärischen besonders gewogen. Es blieb bei meiner Bewerbung an der Humboldt-Universität.

      Bei dieser Ausbildung gab es, wie bei fast jeder militärischen Veranstaltung, nach der bekannten Redensart ‚Die Hälfte seines Lebens wartet der Soldat vergebens‘ viel Leerlauf. Den füllte sehr klug ein Politoffizier mit musikalischer Begabung und einem riesigen Schatz an Arbeiter- und Kampfliedern aus vielen Ländern. Er stellte sich einfach in unsere Nähe, ließ sein Akkordeon erklingen und wenn wir uns neugierig um ihn scharten, brachte er uns das intonierte Lied bei. Es waren Texte aus der Zeit der nachrevolutionären Kämpfe in Deutschland 1918–1919, von der Münchener Räterepublik und der „Kleine Trompeter“ sowieso. Besonders hatten es uns die italienischen Melodien angetan: „Avanti populo“ (Bandiera rossa) und „Bella ciao“, die ich heute noch singen kann und gern höre.

      Wieder zu Hause erreichte mich ein Brief mit einer Ablehnung für das Studium. Das war anders zugesagt und ich beschwerte mich bei der FDJ-Leitung der Medizinischen Fakultät. Schleunigst wurde ich noch angenommen.

      In jeder Hinsicht eindrucksvoll war die Immatrikulationsfeier der Universität im September 1955. An Selbstständigkeit wurden wir dabei auch gleich gewöhnt: Es war durch Aushang bekannt gegeben: „Anatomie, Hannoversche Straße, neuer Hörsaal“. Wo der genau war, sagte uns Neulingen kein Mensch dazu! So suchten Hunderte von Studenten ziemlich lange auf dem weiträumigen Gelände und die Mehrzahl fand sich nur langsam am Ort ein.

      Dieser Eid, der tatsächlich nie so unverrückbar war, wie man ihn darstellte, und der auch heute einem gewissen Wandel unterliegt, wurde zeitweise belächelt und manche Ärzte gerieten in das schiefe Licht, Moralapostel zu sein und sich hinter dem hippokratischen Eid vor unbequemen Entscheidungen zu verstecken.

      Ich bin dennoch bis heute dankbar, damals zuerst in meinem Leben meine zukünftigen Verpflichtungen so einprägsam erfahren zu haben. Besonders berührte mich der Satz: „Ich werde unterlassen alle Werke der Wollust an den Leibern meiner Patienten, Freien wie Sklaven.“ Dass selbst Sklaven, über deren Körper und sogar Leben der Besitzer in der Antike sonst willkürlich bestimmen konnte, vor lüsternen Begierden des Arztes geschützt sein sollten, fand und finde ich eine beachtliche humane Haltung. Sie respektiert doch wenigstens bei der medizinischen Behandlung den Sklaven als Menschen.


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