Hygienearzt in zwei Gesellschaften. Dietrich Loeff

Hygienearzt in zwei Gesellschaften - Dietrich Loeff


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im riesigen anatomischen Hörsaal wurden die FDJ-Funktionäre mit Fragen in die Enge getrieben. Kam ein politisch besonders raffinierter Vorschlag von einem Studenten, schwenkten wir blitzschnell darauf ein, auch wenn wir vorher anderen Rednern applaudiert hatten. Wir hatten in dieser Situation ein Gespür für das im Moment Wirksamste, gemeinsam Durchsetzbare, wie ich es später nie mehr erlebt habe, nicht einmal in der politischen Wende 1989–1990.

      Die Revolutionstheorie nach Marx beziehungsweise Lenin behauptet, dass politische Vorgänge und Lernprozesse in revolutionären Situationen viel schneller verlaufen, als in ruhigen Zeiten. Obwohl es sich bei uns nicht um eine Revolution handelte, hat sich aber diese Aussage der kommunistischen Klassiker hier völlig bewahrheitet. Es wurde entschieden, aus jeder Seminargruppe zwei Sprecher zu wählen, was schon dadurch den Alleinvertretungsanspruch der FDJ tangierte. Wir hatten 28 Seminargruppen, was 56 gewählte Sprecher ergab. So hieß diese Versammlung 56er-Rat, was mehr mit der Teilnehmerzahl, als mit der Jahreszahl im Kalender zu tun hatte. In den Hörsälen und Foyers tauchten aber gleichzeitig viele bis dahin unbekannte Gesichter auf, Leute die teilweise älter als wir waren, um die Diskutantengruppen kreisten, gut zuhörten, nicht mitredeten und möglichst unauffällig wieder verschwanden: Der DDR-Staatssicherheitsdienst war unter uns!

      Wir standen mit unseren Protesten nicht allein. Die Veterinärmediziner, deren Hörsäle dicht bei unseren lagen, stellten Forderungen; ich weiß nicht welche. Von einer Versammlung wurde Aufregendes erzählt: Ein Polizist erschien, um die Versammlung zu verbieten. Darauf soll er die Antwort erhalten haben: „Wir sind hier dicht an der Grenze zu Westberlin. Sie spielen mit dem Feuer, denn hier kann jede Kleinigkeit ernst werden.“ Angeblich ging er dann unverrichteter Dinge davon. Einen Beleg für den Vorfall habe ich nicht und ich fragte mich damals leise und frage mich heute deutlich, ob eine derartige Zuspitzung der Situation – sowohl durch das versuchte Versammlungsverbot, wie auch durch diese drohende Antwort – der Sachlage angemessen war.

      Die Frage stand schon kurz danach direkt vor mir. Als der Ungarn-Aufstand schon halb zusammengeschossen war und unsere Forderungen nicht durchdrangen, standen abends Studienfreunde am Ausgang des Geländes und flüsterten uns allen zu: „Morgen trifft sich die gesamte Medizinische Fakultät am Chemie-Hörsaal – weitersagen.“ Meine sofortige Gegenfrage: „Seid ihr verrückt, da passen die gar nicht alle rein und der Rest steht auf der Straße – fast in Sichtweite des Westsektors?“, wurde von den Mitstudenten bewusst überhört und die Nachricht ohne mich weitergeflüstert.

      Aber über Nacht muss sich Besonnenheit durchgesetzt haben. Niemand traf sich dort. Der Hörsaal hatte, wie schon erwähnt, 400 Plätze, alle Jahrgänge von Medizinstudenten umfassten ungefähr 2 000 Personen. Die hätten, wenige auf Treppen und Gängen abgerechnet, zumeist auf der Hannoverschen und der Invalidenstraße gestanden und wenige Minuten danach hätten wir westliche Kameras und östliche Polizei reichlich auf dem Hals gehabt. Was das parallel zur Ungarnkrise bedeuten konnte, mag man sich heute vielleicht in manchen Gehirnen nicht ganz ausmalen. Damals jedenfalls mussten wir alle viel öfter die weltpolitische Situation und mögliche Auswirkungen auf sie „mitdenken“. Der Kalte Krieg war nicht nur ein Schlagwort!

      Gleichzeitig mit der Welle der Gegenargumente lief in den Betrieben eine Propaganda-Kampagne an. Tenor: „Was wollen die eigentlich noch? Der Staat gibt ihnen zum Studium alles, was er nur geben kann.“ Dazu wurde halblaut über Kampfgruppeneinsätze nachgedacht. Doch dazu kam es nicht, ebenso nicht zu den angedrohten „Bewährungen in der sozialistischen Produktion“. Die DDR machte bald die Erfahrung, dass rebellische Studenten, unter die Arbeiter gebracht, dort mehr Sympathie als Ablehnung erwarben und sah von solchen Maßnahmen ab.

      Und was wurde aus der Russischprüfung? Es wurden, als alle Proteste vorüber waren, dafür zwei ziemlich nahe beieinander liegende Seminarräume genutzt, in denen ein Russisch-Dozent die Aufsicht führte. Dazu ging er zwischen beiden Räumen sehr langsam und in berechenbarem Rhythmus hin und her. Hier bedurfte es nicht der Kunst meines Klassenkameraden Norbert, um mit den Nachbarn beliebig zu kommunizieren. Bestanden haben wir alle.

      Der sogenannte vorklinische Teil des Medizinstudiums endete damals nach zwei Jahren mit dem Physikum, der ärztlichen Vorprüfung. In ihr waren naturwissenschaftliche Grundkenntnisse sowie die gründliche Beherrschung von Anatomie, Physiologie und Biochemie des gesunden Menschen nachzuweisen. Das ist Vorbedingung, um Abweichungen von der Norm und Krankheiten zu verstehen, die im zweiten Studienabschnitt, den klinischen Fächern, behandelt werden.

      Die Uni war trotz ihrer großen Hörsäle mit Studenten überbelegt. Im Anatomie-Hörsaal mussten auf 650 Sitzplätzen anfangs 800 Studenten Platz finden, sodass viele auf Treppenstufen saßen oder im Stehen zu schreiben versuchten. Die Uni war daher im eigenen Interesse und auch dem mancher Studenten selbst bestrebt, schwache, perspektivlose Hörer baldmöglichst aus dem Medizinstudium zu verabschieden. Das verkündete Professor Walter Kirsche (Anatomie der Nerven und des Gehirns) mit ironischer Deutlichkeit: „So viele von Ihnen sitzen und stehen unbequem. Das dauert nicht mehr lange. Wenn wir mit den Testaten [eine Art kurzer, scharfer Leistungskontrollen – d. A.] beginnen, werden bald alle einen guten Sitzplatz haben.“ Und Waldeyer wies vor unseren Ohren seine Assistenten an: „Bei den Testaten muss es Nullen [das heißt nicht bestanden – d. A.] hageln, damit wir endlich sieben.“ So geschah es, und im Hörsaal sah man bald leere Plätze. Die meisten Studenten kämpften bis zuletzt gegen die Schwierigkeiten des Lehrstoffes und der Prüfungen. Dennoch mussten in dieser Phase etwa 30 Prozent das Studium vorzeitig beenden, seltener durch definitiv unzureichende Zensuren, häufiger setzte schwere Erschöpfung den Endpunkt. Auch ich hatte im Fach Anatomie meine Schwierigkeiten, denn mein Handgeschick war fürs Präparieren etwas schwach ausgebildet und mein Formengedächtnis hätte auch besser sein müssen. So wusste ich rechtzeitig, dass chirurgische Fächer später für mich nicht in Frage kamen.

      Wer es also bis zum Physikum und durch diese Prüfung geschafft hatte, war damals erst einmal ziemlich aus dem Gröbsten heraus. Bezeichnend ist, dass man im Hörsaal nach dem Physikum bei etwa der Hälfte der Studenten, die vor und unter einem saßen, vereinzelte graue Haare sah. Wir waren damals meist erst ungefähr 20 Jahre alt. Später verschwanden diese Anzeichen der hohen Belastung dann meist wieder.

      Bei meiner Prüfung ging alles gut. Wegen meiner guten Prüfungsergebnisse erhielt ich weiter mein Leistungsstipendium, einen Zuschlag von 50.- Mark zum Grundstipendium. Da bei uns zu Hause stets Geldmangel herrschte, war ich auf diese Leistungszulage angewiesen, um überhaupt zu studieren. Meine Mutter bestand darauf, dass ich diesen Aufschlag gewinnen musste – wie schon erwähnt, war ich ihre lebende Altersversicherung. Von den Folgen dieser Bedrängnis berichte ich später.

      Nach der Prüfung wollten wir feiern – so richtig einen drauf machen. Dann saßen wir uns beim billigen, extrem süßen bulgarischen Wein gegenüber und schwiegen uns an. So ging das nicht. Also Standortwechsel in eine billige Berliner Kaschemme – das gleiche Ergebnis. Wir waren einfach zu ausgebrannt, um froh zu sein. Zwei Wochen später lagen wir etwas erholt an der Ostsee, konnten nachholen und zusammen mit der bestandenen Prüfung erste Urlaubserlebnisse munter begießen.


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