Der wandernde Krieg - Sergej. Michael Schreckenberg
Aber offenbar hatte sein Kumpel ihm jetzt eine Suppe eingebrockt, die auszulöffeln kein Spaß war. Die Suppe war ich.
„Wieso aufgeschlossen? Das ist Sebastian Kant, verdammt.“
„Er hat wohl geschlafen“, murmelte Müller.
„Er hat … aber … und warum ist er nicht wenigstens reingegangen und hat ihn geweckt? Und wieso war er alleine? Ist der … wahnsinnig geworden, oder wie? Was ist eigentlich los in diesem Saftladen hier? Es gibt Vorschriften, die gelten auch, wenn’s brennt, gottverflucht …“
„Das ist vielleicht ein bisschen viel verlangt.“
„Was?“
„Reingehen und wecken, meine ich …“
„Ah. Aber aufschließen und sich still und heimlich aus dem Staub machen ist okay, ja?“
Die Schritte kamen wieder näher. Ich merkte, wie eine angenehme Spannung in meinen Körper kroch. Meine Finger begannen zu flattern. Jagdfieber? Hier? Ich musste in all der Zeit ziemlich degeneriert sein. Ich zog die Tür ein wenig heran.
Sie kamen um die Ecke der Biegung des Gangs und blieben wieder stehen. Jetzt hatten sie wohl die offene Tür gesehen. Sie sprachen leise und kamen wieder näher. Ich hörte ihren Atem. Sie blieben zusammen. Jetzt kam Müller zur Tür. Ich roch seinen Schweiß, der ohne Mühe eine lockere Decke aus altem Deo durchdrang. Ich lauschte auf seine Schritte, sein Keuchen. Er stand an der Tür und zögerte. Lange. Ich rechnete ihn aus. In dem Moment, als er sie öffnen wollte, kam ich vorwärts.
Die Tür schlug heftig gegen den menschlichen Widerstand, der mit einem verwunderten Geräusch zurückwich. Ich sprang durch den Spalt, packte den Tölpel und schleuderte ihn mit der Wucht der Bewegung gegen den Arzt, der nicht mehr ausweichen konnte. Er schrie auf, als Müller ihn traf, und zwei Signalgeber flogen klappernd auf den Boden. Das war das Geräusch, das ich hatte hören wollen.
Müller kam wieder hoch, was er nicht hätte tun sollen. Ich schlug ihm hart in den Solarplexus, rammte ihm, als er zusammensackte, das Knie ins Gesicht und hatte noch Zeit, zweimal zuzuschlagen, bevor er am Boden lag und sich nicht mehr rührte. Ich drehte mich zu seinem Begleiter um. Der krabbelte gerade auf seinen Signalgeber zu.
„Nein!“
Er hörte auf zu krabbeln und drehte sich um.
„Sie“, japste er. „Sie …“
„Ja.“
Er rappelte sich auf und wich sofort zurück. Ich bewegte mich schneller, packte ihn und drückte ihn an die Wand. Es war nicht schwer, er zitterte.
„Und jetzt, Doktor?“
Er schluckte und rang nach Luft. Ich lockerte meinen Griff etwas.
„Sie müssen mit runterkommen“, keuchte er. „Zu den anderen. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“
Ich schaute ihn verwundert an, wie er da so stand, meine Linke an seiner Schulter, meine Rechte an der Kehle.
„Ich muss was?“
„Kommen Sie mit. Wir versammeln uns alle vor dem Hauptportal. Ich glaube, Sie sind der Letzte hier oben. Ich bringe Sie raus.“
Mit seinem Atem kam offenbar auch sein Selbstvertrauen zurück. Ich drückte wieder ein bisschen zu. Er quiekte und wand sich, was ich unterband, indem ich ihm das Knie leicht zwischen die Beine stieß.
„Sie vergessen Ihre Situation“, erklärte ich und legte ihm beide Hände freundschaftlich auf die Schultern, während er sich mit seiner Rechten den Hals rieb und mit der Linken vorsichtig seine Eier betastete. „Ich finde Sie eigentlich ganz nett, aber ich werde natürlich nirgendwo mit Ihnen hingehen. Sie geben mir den Schlüssel.“
Er schüttelte den Kopf. Erstaunlich, es gab doch so etwas wie Mut in diesen Figuren.
„Das geht nicht. Ich kann sie nicht …“
„Haben Sie Familie, Doktor?“
Er starrte mich an. Seine Augen weiteten sich. Ich lächelte und bewunderte mich für meine Geduld. Langsam wurde die Zeit knapp, das roch ich.
„Was?“
„Noch mal: Sie geben mir den Schlüssel. Dann nehmen Sie diesen Trottel da und vergessen einfach, dass wir uns getroffen haben.“
Er sagte gar nichts. Ich schaute ihn – wie ich hoffte – ernst und freundschaftlich an. Seine Unterlippe begann zu zittern, er versuchte, meinem Blick auszuweichen, aber ich drehte seinen Kopf zurück.
„Ich komme hier alleine raus“, sagte ich leise. „Das wissen Sie, oder? Also ersparen Sie sich das und geben Sie mir den Schlüssel. Dann verschwinden Sie durch den Notausgang dahinten und Sie sind mich los. Haben Sie das verstanden?“
Er versuchte zu nicken. Ich ließ sein Kinn los und streckte meine Hand aus. Er legte seinen Generalschlüssel hinein.
„Gut. Und jetzt weg. Schnell!“
Er drehte sich mit einem Wimmern um, stolperte zu dem immer noch träumenden Pfleger, zog ihn sich halb auf die Schulter und taumelte durch den Gang davon. Ich schaute ihm lächelnd nach.
Ich lief schnell um die Biegung, den Flur entlang zum Treppenhaus und nach unten. Das Feuer war jetzt sehr nah, aber ich wollte nicht völlig unvorbereitet nach draußen, und vor allem nicht durch die Haupttür. Also lief ich zum Aufenthaltsraum der Pfleger. Irgendein umsichtiger Mensch hatte ihn verschlossen, als das Personal evakuiert wurde, aber ich hatte ja meinen Generalschlüssel. Ich war auf Ärger gefasst, aber hier war niemand mehr. Gut, ich hatte nicht mehr viel Zeit zu verschwenden. Die nächste Diskussion wäre kürzer verlaufen. Ich sah mich schnell in dem Raum um und fand, was ich suchte – die Kaffeekasse, ein geblümtes Sparschwein, schlecht versteckt in einem offenen Schrank. Viel konnte nicht drin sein, wenn sie sich nicht die Zeit genommen hatten, es mitzunehmen. Ich zerschlug es an einer Ecke des großen Tisches und schalt mich im nächsten Moment einen Idioten, als das Geld auf den Boden fiel. Ich trug nur Shorts und T-Shirt, kein Platz für Münzen, ich hätte besser die ganze Kasse mitgenommen. Auf meine Dummheit fluchend suchte ich auf Händen und Knien nach Scheinen und fand fünfzig Euro. Ich stopfte sie unter den Bund der Shorts, besser als nichts. Die Fenster hier unten waren die einzigen, die nicht aus Sicherheitsglas bestanden. Ich nahm einen Besen, schlug die Scheibe ein, stieg aus dem Fenster, lief ein kurzes Stück, verbarg mich in einem Gebüsch und sah mich um. Gut, dass ich nicht durch die Tür gegangen war, dort standen Menschen. Die hätten wieder Zeit gekostet.
Ich hörte Sirenen, Blaulicht flackerte ganz in der Nähe. Der Rauch zog näher, aus einigen Fenstern des Südflügels schlugen Flammen. Von dort hörte ich auch Stimmengewirr. Ich setzte mich vorsichtig in die entgegengesetzte Richtung ab, bis ich zu einem kleinen Parkplatz kam, der einen Teil des Nordflügels abgrenzte. Im zweiten Stock sah ich eine offene Tür über der Feuertreppe, der gute Doktor hatte meinen Rat offenbar beherzigt. Ich hoffte, dass mein kleiner Hinweis auf seine Lieben genügt hatte, ihm die Idee, mich zu suchen, zu vergällen. Immerhin – hier war kein Mensch zu sehen, und nichts deutete darauf hin, dass irgendjemand sich im Moment für mich und meinen Verbleib interessierte.
Ich überquerte schnell den Parkplatz. Wenige Autos standen hier, vermutlich nur Personal. Ich kletterte auf das Dach eines Mondeo, der direkt unter der Mauer stand, sprang hoch, bekam die Mauerkrone zu fassen, zog mich hinauf, schwang mich auf der anderen Seite wieder hinunter und sah mich noch einmal um – nichts als das Blaulicht der Feuerwehrwagen in beruhigender Entfernung. Ich setzte über die Straße, ließ mich in den Straßengraben fallen und wunderte mich, dass es so einfach gegangen war.
2
Unter der Mauer, im Schatten eines Gebüsches, standen zwei kleine Gestalten. Der Flüchtende hatte sie nicht bemerkt, obwohl er nur wenige Meter von ihnen entfernt hinuntergesprungen war. Sie sahen ihm nach, wie er aus dem Graben krabbelte und in der Dunkelheit der angrenzenden Bäume verschwand.
„Nun