Der wandernde Krieg - Sergej. Michael Schreckenberg
Geschäftszeile, sah ich eine Telefonzelle. Ich fischte drei Münzen aus der Tasche, aber es war natürlich ein Kartentelefon. Ich beschloss, die Post zu suchen, dort würde es mehrere Telefone geben, sicher auch eines für Münzen. Ich überquerte einen Parkplatz, der die Ladenzeile begrenzte, und stand an einer breiten Landstraße. Einige Meter weiter sah ich einen gelben Pfeil nach rechts: ‚Langenrath‘ und darunter, weiß abgesetzt, ‚Zentrum‘. Gut – dort würde doch wohl auch die Post zu finden sein. Ich machte mich auf den Weg.
Der Bahnhof war recht weit vom Zentrum entfernt. Ich schlenderte eine Weile die Landstraße entlang, bis ich in etwas gelangte, das mit viel gutem Willen als Stadtkern durchgehen konnte. Offenbar war Langenrath eines dieser Städtchen, die sich aus vielen Dörfern zusammensetzten, und als vor vielen Jahren der Bahnhof gebaut wurde, hatte man den Stadtkern noch woanders vermutet als dort, wo er später entstand. Die Landstraße wurde nach und nach eine Ortsdurchfahrt und Hauptstraße, gesäumt von Geschäften, Restaurants und Mehrfamilienhäusern. Dort, wo sie auf eine weitere Hauptstraße traf, schloss sich links und rechts der Kreuzung eine Fußgängerzone an. Sie war noch menschenleer. Ich bog ein und schritt die leeren Ladenfronten ab, die Hände tief in den Taschen, um die Hose oben zu halten, überquerte eine Brücke, die über einen kleinen Fluss führte, und fand auf der anderen Seite zwar nicht die Post, dafür aber das Redaktionsbüro der örtlichen Zeitung. „Langenrather Neueste Nachrichten“. Die ersten Seiten der aktuellen Ausgabe hingen im Fenster und gaben mir endlich Auskunft darüber, wo im zeitlichen Universum ich mich befand: Samstag, 17. Juli.
In Grübeleien darüber versunken, ob Samstag nun ein guter oder schlechter Tag sei, bemerkte ich die Frau nicht, die aus der Tür des Hauses trat. Ich stieß mit ihr zusammen, sie stolperte, fiel zu Boden, und ich schaffte es gerade, ihr eine Hand anzubieten und gleichzeitig zu verhindern, dass mir die Hose ungebührlich tief nach unten rutschte.
„Tut mir leid. Ich habe gepennt.“
„Nicht schlimm.“ Sie ließ sich aufhelfen und klopfte ihren Rock ab. Sie mochte zehn Jahre jünger sein als ich, Anfang, Mitte zwanzig, unauffällige Figur, nicht groß, nicht klein, nicht dick, nicht dünn. Umso auffälliger war das lange dunkle Haar, das ihr in üppigen Wellen über die Schultern fiel. Sie sah ein wenig zerknittert aus, als wäre sie gerade aus dem Bett gekommen.
„Haben Sie sich wehgetan?“
Sie tastete ihren Ellenbogen ab. „Ist nicht schlimm.“
„Tut mir wirklich leid.“
Sie lachte. „Ich hätte auch nicht so einfach aus der Tür stürmen sollen. Ich bin gestern Abend wohl bei der Arbeit eingeschlafen und dann … Ist auch egal.“
„Sie arbeiten bei der Zeitung?“
Sie nickte und hielt mir eine Hand hin. „Recha Gold.“
Ach du Scheiße. Namen. Ich nahm die Hand und sagte: „Hans Müller.“ Sie schien nicht misstrauisch und lächelte nur freundlich. Mir fiel etwas ein.
„Vielleicht können Sie mir helfen. Ich suche die Post.“
„Die Post? Das ist ganz einfach, gehen Sie einfach diese Straße zurück, über die Brücke und dann die Fußgängerzone ganz bis zum Ende. Dann links über die große Kreuzung. Aber die Post dürfte jetzt wohl noch zu haben.“
„Ich will nur telefonieren. Und ich habe nur Münzen.“
Sie überlegte kurz. „Ja, ich glaube, da ist ein Münztelefon.“
„Danke.“
Sie lächelte. „Schönes Wochenende.“
Sie verschwand im Durchgang zwischen einer Metzgerei und einem Sportgeschäft. Ich wandte mich um und ging den Weg zurück, den ich gekommen war. An der Kreuzung überquerte ich die Straße und fand bald ein modernes Postgebäude. Davor befanden sich – voila – vier Telefonzellen, eine war bereit, meine Münzen anzunehmen. Ich wählte die Nummer der Auskunft, und die freundliche Stimme von Platz 14 wünschte mir einen guten Tag.
Ich fragte nach Mark, nannte seinen Wohnort und hörte sie auf der anderen Seite ein wenig mit dem Computer klackern.
„Förster mit ‚Ö‘?“
„Ja.“
„Hm, da finde ich keinen Eintrag. Wissen Sie vielleicht die Straße?“
„Nein.“
„Tut mir leid, dann finde ich nichts.“
Ich fluchte innerlich. Entweder, er hatte wieder eine Geheimnummer, oder er war weggezogen.
„Was ist mit Park? Sandra Park?“
„Park wie der Park?“
„Ja.“
Klacker, klacker. „Ich habe hier Jin-Ju Park.“
„Nein, Sandra.“
„Sandra Park finde ich nicht.“
Ich seufzte, und sie lachte am anderen Ende der Leitung.
„Tut mir wirklich leid.“
Mir fiel mir noch etwas ein. „Was ist denn mit der Rheinischen Zeitung in Köln? Die gibt’s doch hoffentlich noch, oder?“
„Moment.“ Klacker, klacker, klacker. „Da gibt’s mehrere Nummern.“
„Ich möchte die Redaktion.“
„Die Nummer wird angesagt.“
Mangels Stift prägte ich mir die Zahlen ein und wählte erneut. Die Nummer war richtig, aber ich erreichte nur einen automatischen Anrufbeantworter und legte auf. Pech gehabt. Ich baute mir einige abenteuerliche Eselsbrücken, um die Zahlen zu behalten. Dann begann ich, mich dem Problem, Geld‘ zu widmen.
Die einfachste Lösung wäre gewesen, an einer einsamen Stelle einem Passanten aufzulauern und ihn um seine Brieftasche zu erleichtern, aber das brachte zu viele Unwägbarkeiten mit sich. Passanten waren um die Zeit dünn gesät, und ich konnte nicht wählerisch sein. Das erhöhte nur das Risiko, aufzufallen, also entschied ich mich für einen komplizierteren und langwierigeren, aber letztlich sichereren Weg. Ich begann, Parkplätze abzusuchen, angefangen mit dem bei der Post. Natürlich standen hier um diese Zeit wenige Autos, aber dafür kamen auch wenige störende Zeugen vorbei. Ich musste lange suchen, aber auf dem sechsten Parkplatz, schon wieder etwas außerhalb des Zentrums am Waldrand gelegen, wurde ich fündig. Auf dem Rücksitz eines silbernen Passats lag eine Handtasche. Ich hatte unterwegs einen großen Stein aufgelesen, mit dem schlug ich eine Scheibe ein, klaubte die Tasche heraus, ein widerliches, hellbraunes Monstrum, und setzte mich zwischen die Bäume ab. An einem kleinen Bach tief im Gehölz sitzend, untersuchte ich den Inhalt. Ich fand schnell eine Brieftasche, der ich entnahm, dass meine unfreiwillige Unterstützerin Andrea Gehlog hieß und ein inniges Verhältnis zu mehreren Pudeln hatte, deren Bilder in jedem zweiten Fach steckten. Ich fand im Rahmen der weiteren Inspektion ein Portemonnaie aus rotem Samt, das fast noch scheußlicher war als die Tasche selbst. Aber Andrea war großzügig, sie spendete hundertsechzig Euro. Die nahm ich, warf dann die hässliche Tasche in den Bach und den Inhalt einzeln hinterher.
Als ich wieder bei der Post ankam, war es Vormittag geworden. Wieder versuchte ich, die Rheinische Zeitung zu erreichen. Die Eselsbrücken hielten. Ich fragte mich durch, bis mich jemand mit Mark verbinden konnte. Dachte ich.
„Rheinische Zeitung, Ansgar Halberich.“
„Was?“
„Halberich, Rheinische Zeitung, kann ich Ihnen helfen?“
„Ich wollte mit Mark Förster sprechen. Ist er da?“
„Ja, aber er spricht gerade. Kann er Sie vielleicht zurück …“
„Ich stehe in einer Telefonzelle.“
„Vielleicht kann ich …“
„Ich würde gerne persönlich mit ihm sprechen.“