Markus Blume führt dich durch die Zeit. Lüerß Werner
nicht, befand ich mich in einer anderen Welt?
Ich stand da und zu mir trat ein anderer Mensch. Nein, es war kein anderer, das war wiederum ich selbst, der mir da entgegen trat, und doch war es ein anderer, heiterer, ernster.
Fest von Gestalt und dennoch nicht greifbar.
Aber dieses gegenüber trat zu mir, streckte mir die Hand hin, mit einer fordernden Geste schien es auf mich einzudringen.
Dann verschwand die Gestalt wieder, ich merkte, dass sie eine Traumfigur war, in mir blieb aber der Gedanke haften, dass es wie eine Herausforderung gewirkt hatte.
Wem galt sie, und wenn sie ganz bewusst zu mir getreten sein sollte? Warum aber sollte ich gemeint sein?
Seit diesem Erlebnis beginnt in mir die Frage zu keimen, warum ich herausgefordert war. Es wächst in mir und verfolgt mich der Gedanke, dass nicht einfach nur Neues auf mich wartet, sondern ich eine Haltung gewinnen müsse, die mich neu und anders zu leben zwinge.
Mich bedrängte von Stunde zu Stunde mehr das Bedürfnis, alles zu prüfen, was mir bisher wichtig und womit mein Tag gefüllt war.
Dafür aber müsste ich meinen eigenen Horizont weiten, ganz andere Dimensionen müsste ich in meinem Blick zu bringen versuchen.
Aber ich lebte nun mal hier, konnte mich nicht einfach lösen, wollte auch nicht so tun, als ob ich einfach alles wegwerfen könne.
Zurück aber konnte ich nun nicht mehr, und so musste ich jeden Tag erneut auf die Frage antworten: Ihr Seelen, die mich bedrängen, die meine ganze Existenz neu in Frage stellen, sucht Ihr mich?
Sucht Ihr mich in meiner Zeit, oder wollt Ihr eine Antwort für euch selber? Seid Ihr es, die ihr den Schrei in mir ausgelöst habt, den Schrei auf der Suche nach Leben, nach dem ganzem Leben? Eigentlich war ich ein gelassener Typ, nichts konnte mich mehr erschrecken als ein Schrei.
Ich geriet langsam vom Gleis, was ich alltäglich eigentlich erledigen wollte, wurde unwichtig, Gedankenwelten, ihr habt euch in meinen Vordergrund geschoben.
Die Begegnung mit meinem Doppelgänger geriet immer wieder in meine Vorstellung, sie schien mir zu sagen, dass ich mich gefälligst auf die Suche begeben müsse, nicht warten dürfe, sonst würde ich mich selbst verlieren. Immer stärker spürte ich den Zwang in mir, jeden Schritt zu fixieren, ihn festzuhalten, um sodann weiter gehen zu können – nur säumen durfte ich nicht.
Der Bruch mit allem, was bisher mein Leben bestimmt und ausgefüllt hatte, wurde mit der Zeit immer deutlicher; ich wusste immer besser, dass ich nicht mehr zurück konnte, sondern die Schritte nach vorn wagen müsste.
Aufzuschreiben, was dann geschah, schien mir von Tag zu Tag mehr die einzige Lösung zu sein. Dieser Weg war auch geeignet, mich zum Tatsächlichen in dieser Welt zu führen, mir zu sagen, was nötig sein musste, um das Rechte zu tun.
Es ist uns Menschen eigen, unsere Gedanken und Empfindungen, unsere Hoffnungen, Träume und Taten an das Schicksal von Menschen zu binden.
So tauchte Miri in der Welt meiner Vorstellungen und Ideen auf.
Ich sah sie, als sie jung war und ich sah sie als einen reifen Menschen, mit einem Schicksal voller Wandlungen.
Das wiederum gab mir die Chance, mich selbst zu neuen Ansichten und Handlungen bewegen zu lassen.
Wie eine Vision leuchtete sie in der Ferne, wie ein Irrlicht geisterte sie durch die Räume der Zeiten.
Weniger genau als Miri vermochte ich eine Gestalt zu fassen, die ich nur als die Wanderin der Nacht bezeichnen kann.
War sie es, die alle Fäden in der Hand zu halten schien und mit unsichtbarer Macht alles lenkte und leitete?
Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass sie zu jeder Zeit und an jedem Ort plötzlich erscheinen konnte:
Einmal sah ich Sie mit einem ratternden Einkaufswagen durch die Straßen rollen, dann schien sie zu wägen, zu richten und zu werten.
Mit ihr entstand und verband sich mein Verlangen, hinter die Erscheinungen dieser Welt zu schauen, ihre geheimen Zusammenhänge zu erkunden und für mich erlebbar zu machen.
Ich begann zu ahnen, wie zerrissen diese Welt war und ist, in der wir zu Hause sind. Die Kraft des Lebens „Miteinander und Füreinander“ schien verlorengegangen zu sein.
Ich spürte plötzlich, welcher Hass in allem steckte, wie es uns sehr schwer nur gelingen wollte, selbst zu einer gestaltenden Kraft zu werden.
Ich suchte mit Miri nach den Sinn des Lebens in der Vergangenheit und wollte so die Spur zum Leben in der Gegenwart finden.
Ich lernte, nicht mehr hilflos und blind durch die Ereignisse zu treiben, nicht mehr ohnmächtig und ohne Halt und Ziel zu existieren, sondern einen neuen Haltepunkt zu suchen und zu finden.
Die Zeitenreise wurde zur Erkenntnisreise. Ich sah, dass Diktaturen das Leben verwüsten konnten, aber ich sah auch, dass sie bezwingbar waren. Miri war es, die zu mir sagte: ``Markus`` schau, sieh dort den ``Völkischen Beobachter`` vom 9. November 1938 vom Winde getrieben durch die Müllerstrasse in Berlin wehen.
Die Menschen treten ihn achtlos beiseite. ``Das Vergängliche`` erkannte ich und das Bleibende, und ich fand im Ansatz den Weg, der es mir ermöglichte, selbst bestimmt und glücklich zu leben.
Gutes zu fühlen und zu tun im richtigen Moment, das verhieß mir die Wanderin der Nacht, sei ein Weg, den ich gehen könnte.
Wie ich zu dieser Einsicht gelangte, das will ich nun erzählen.
1
Der 21. Dezember 1991 begann mit der gleichen Gewalt wie der Vortag. Noch immer tobte über der Stadt ein Schneesturm. Die Menschen auf den Straßen waren schleichende Schatten.
Für mich ein Tag, an dem ich lieber im Bett geblieben wäre. Allein die Vorstellung, dass ich noch bis zum 24. Dezember arbeiten musste, machte mir das Aufstehen nicht gerade leicht.
Meine Wohnung war dunkel, trist. Ich hatte keine Lust auf Weihnachtsdekoration. In den Jahren davor war mein Wohnzimmerfenster immer festlich geschmückt gewesen. Dieses Jahr hatte ich dazu keine Stimmung. Ich fühlte mich leer, ausgelaugt.
„He, alter Junge, was ist mit dir los? Du bist schon fünfunddreißig Jahre auf dieser Welt, und deine Gefühlswelt ist die eines alternden Teenagers, dem gerade sein Idol gestorben ist! Verdammt noch mal, Markus, reiß dich zusammen, lass dich nicht hängen!“ Verschwinde, kümmere dich um deinen eigenen Kram. „Ich kann dich wirklich nicht verstehen, Markus!“ Schön, mein Herr. Ich musste selbst lachen bei diesem Gedankenspiel. Ist schon gut, ich werde mich bessern! „Na, geht doch, alter Junge!“
Zurück aus meinem Ich, führten meine Gedanken mich zu meinem Nachbarn – Jochen Lampe. Der hatte es besser als ich, seit sechs Wochen war er jetzt Rentner, seine Frau Gerda schmückte alles festlich. Sicher, ich mochte die leuchtende Pracht in den Fenstern. Aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, es selbst zu tun.
In unserem Haus lebten noch zwei andere Mieter: im Erdgeschoss Heinz Grahn mit seiner Frau Wilhelmine und im zweiten Obergeschoss unsere alte Dame, Fräulein Erika Grüneberg, schon seit 1932 hier ansässig. Ich glaube, sie war die erste Mieterin, die schon als Kind hierhergezogen war. Damals war es noch ein Neubau. Wir pflegten einen guten nachbarschaftlichen Kontakt zueinander. Jeder war für den anderen da, wenn es mal eng wurde.
Es wurde langsam Zeit, dass ich mich fertig machte. Es war schon wieder sieben nach acht, mein Bus fuhr in fünfzehn Minuten an der Ecke Lampesteig, Richtung U-Bahnhof Residenzstraße.
In den letzten Tagen war ich vergesslich. Beim Rausgehen ließ ich meinen Hut liegen, vergaß meine Handschuhe. Am Schlimmsten war es vor vier Tagen gewesen, da hatte ich meine Hausschuhe noch angehabt, als ich das Haus verlassen wollte. Heinz hatte hinter mir hergerufen: „Markus, du hast ja noch deine Hausschuhe an!“
Ich schaute auf meine