Markus Blume führt dich durch die Zeit. Lüerß Werner
kommst du nicht heil zur Arbeit!“
In die Stiefel und weg war ich, mit großen Sätzen die Treppe runter auf die Straße, dabei riss ich fast zwei Leute um. Ich rief gerade noch „Entschuldigung“, dann war ich schon um die Ecke. Noch hundert Meter, Markus, dann hast du den Bus erreicht!
An der Haltestelle war kein Mensch mehr da. Ein Blick auf die Uhr sagte warum: fünf Minuten zu spät! Verdammt, warum war die Zeit seit einigen Tagen so gegen mich? Was ich auch machte, immer kam ich zu spät!
Der Schneesturm rüttelte mich, als wollte er mich für meine schlampige Tageseinteilung bestrafen. Ach, was sollte das ganze Gejammer? Mit hängendem Kopf machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum U-Bahnhof Residenzstraße. Die Minuten vergingen im Schneesturm wie Stunden; dreißig Minuten brauchte ich, um den kurzen Weg zurückzulegen. Einmal war ich kurz davor, mich auf die Nase zu legen. Beim Rutschen und Schlittern tastete ich nach etwas zum Festhalten: Mal war es der Briefkasten am Straßenrand, mal der Arm einer Person, die ich nicht kannte, im Sturm blind unterwegs wie ich. Ich hörte noch ihr Fluchen: „Pass doch auf, du alter Sack!“ Ich tat so, als würde es nicht mich treffen. Markus, nur weiter, noch ein paar Schritte, machte ich mir Mut.
Bevor ich das Ziel erreichte, riss mich das unaufhörlich fauchende Sturmschneegemisch wieder von den Beinen. Vor mir sah ich etwas Dunkles. Ich griff mit beiden Händen danach – eine Laterne. Ich rutschte bis auf die Knie an ihr runter. So ein blöder Tag! So langsam reichte es mir. In mir kochte es; am liebsten wäre ich den Weg zurückgeflogen: rein ins Bett und schlafen bis zum Frühling! Der Verzweiflung folgte auf den Fuß die Ermahnung meiner inneren Stimme: Aber nicht doch, Markus, ab zur Arbeit und kein Weg zurück!
Bei diesem Gedankenspiel meines Seelenfreundes lachte ich aus ganzem Herzen. Ich raffte mich auf, noch ein paar Meter, endlich war mein Ziel, die U-Bahn, erreicht! Ich fühlte schon die Wärme, die mir aus dem Schacht lockend entgegenkam, rannte die Treppe runter. Der Zug stand gerade noch, der Schaffner rief: „Einsteigen, bitte!“
Ein, zwei, drei große Schritte – im letzten Moment geschafft! Ich blickte mich um. Scheibenkleister, der Pöbel hat sich hier breit gemacht, keiner denkt an mich! Einen Platz bekam ich nicht, alles voller Menschen. Markus, ist doch egal, du bist noch jung, hast ja noch Kraft, sprach ich mir Mut zu.
In meinem morgendlichen Durcheinander fiel mir nicht auf, welch schöner vorweihnachtlicher Duft aus den Wohnungen bei mir im Haus in meine Nase drang.
„Komisch, ich stehe hier unter Menschen und spüre meine Nase nach Mandel und Pfefferkuchen suchen“, stehe mit meinen Gedankenbeinen im Treppenhaus.
Der Zug raste von einer Station zur nächsten. Nach der vierten verließen viele die Bahn. Ich sicherte mir erst einmal einen guten Platz. Meinen Nachbarn links musste ich ein bisschen beiseiteschieben – der hatte seine Tageszeitung mit beiden Armen ausgebreitet, als gehöre ihm der ganze Sitz. Er schaute mich grimmig an, als würde er sagen: Das ist mein Platz!
„Widerlicher alter Sack, dachte ich, du solltest dich lieber mal rasieren und deine Wäsche wechseln, hier riecht’s streng!“ Über meine inneren Worte bog ich mich innerlich vor Lachen, ich schmunzelte vor mich hin. Das hatte zur Folge, dass die Dame mir gegenüber, sie war so um die vierzig, mir freundlich zulächelte. Na, geht doch, Markus, lass die Aggressionen anderer nicht an dich ran, und der Tag wird gut! Zu diesem Zeitpunkt war mir noch nicht klar, was für ereignisreiche Tage vor mir liegen sollten.
Wie jeden Tag musste ich mehrfach umsteigen. Diese Prozedur spielte sich in meinem Inneren fast automatisch ab: Hier die Rolltreppen runter, da die Treppen wieder rauf, um den nächsten Zug zu erreichen. So kam ich immer, wenn auch mit etwas Glück, pünktlich an.
„Manchen Weg ging ich morgens schnell, ohne ihn zu kennen“. An anderen Tagen rannte ich wie irre, als würde eine Horde wilder Hunde mich durch die Stadt jagen. „Ja, ich hatte meinen Termin beim Grundbuchamt vergessen!“
Manchmal traf mich das, was mit meinen Aufträgen zusammen hing, wie eine Keule.
Schmutz und Dreck war meine tägliche Arbeit, sie begleiteten mich immer, Argwohn und Intoleranz waren meine Widersacher, auf Ämtern und Behörden vor allem.
„Hilfsbereitschaft war für diese Gattung Mensch ein Fremdwort.“
Als ich vor Jahren mit diesem Job angefangen hatte, wollte ich nach ein paar Tagen alles hinwerfen. Dann habe mich so langsam daran gewöhnt. So manches Mal versuchte ich, die Rätsel der Vergangenheit aufzudecken, um meinen Job gut zu machen, ein schweres Unterfangen an Tagen wie diesem! Momentan ging es mir ganz gut von der Hand; ich war wie ein Entdecker in einem fernen Land, der neue Wege sucht. Die ihm neues Wissen bringen, aber auch neue Fragen stellen – hier in meiner, ja, meiner Stadt Berlin. Hier treffen Wellen und Wogen aus allen Teilen des Erdballes aufeinander, keine Welle gleicht der anderen, mal leiser, dann wieder lauter brausen sie dahin, ja es ist gut so …
Der Weckruf der U-Bahn riss mich aus dem Land der Träume: Kochstraße. Ich stürzte aus dem Zug, rannte die Treppe rauf, die Zeit drängte! Nur noch ein paar Straßen bis zu meinem Arbeitsplatz, die Wohnungsgesellschaft BLW. Seit einigen Jahren war ich hier als Wohnungsbetreuer tätig – Hausverwerter, wie meine Arbeit intern genannt wurde.
Im siebten Stock angekommen, entledigte ich mich im Büro erst einmal meiner Sachen. Ich griff den Besprechungs-Aktenordner und ging ins Nebenzimmer. Dort saß mein alter Kollege Ralf Marloff, ihn kannte ich schon seit unserer Betriebs-Wirtschaftslehre, BWL, ein trockenes Studium. Er hatte die Aufgabe, sich um den Verkauf sanierter Wohnungen zu kümmern. Wie er mir mal verriet, auch nicht gerade sein Traumberuf, aber was sollte er machen? Er brauchte halt die Kohle, früh geheiratet, seine Frau war schon schwanger und gleich noch Zwillinge!
Eine schwierige Aufgabe also, aber Ralf ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Seit einem dreiviertel Jahr hatten wir einen neuen Vorgesetzten, Herr Jansen. Ich mochte den Typen nicht. Seine ganze Art war mir zuwider. Auf freier Wildbahn ging ich solchen Menschen aus dem Weg. Ich wollte mir doch nicht den Tag versauen! Aber hier im Job ging es eben nicht, ich versuchte, mich halbwegs auf ihn einzustellen – Augen zu und durch. Auch wenn die Angriffe Jansens manchmal ein wenig weit gingen – Ralf und ich blieben immer gelassen.
Täglich um zehn war Besprechung im zehnten Stock bei Jansen – der ließ vielleicht den Chef raushängen! Er guckte immer in die Runde, als wolle er unsere armen Seelen fragen: „Seid Ihr auch alle fleißig gewesen, habt Ihr für mich brav die heißen Eisen aus den Kohlen geangelt?“
Kein Lächeln lag dabei auf seinem Mund, seine stahlgrauen Augen schauten uns nur grimmig an. Ralf sagte einmal zu mir: „Entweder hat er einen großen Drachen zu Hause oder er verstellt sich nur, um seine Schwächen nicht ans Tageslicht gelangen zu lassen!“
Ich antwortete: „Was er macht oder nicht, ist mir egal, mit dem Typen will ich außerhalb meiner Arbeitszeit nie was zu tun haben!“
*
Ralf und ich betraten das Sitzungszimmer, die anderen Kollegen waren schon da. Ich hörte Jansen von vorn rufen: „Meine Damen und Herrn, es muss besser werden, nehmen Sie Platz!“
Dann ging das Ganze fast eine Stunde, so wie dieses Frage-Antwort-Spiel aus der Grundschule: „Wie weit sind Sie? Was haben Sie gemacht? Welche Strategie verfolgen Sie?“
Ralf fragte er: „Wie sieht Ihre Prognose für die nächsten Tage aus, Herr Marloff?“
„Ganz gut, Herr Jansen“, antwortete Ralf, „ich habe die drei Dachgeschosswohnungen fast verkauft! Notarbedingte Bereiche sind noch abzuklären, aber in zwei Tagen ist die Sache dann erledigt.“
„Mal was Erfreuliches an so einem Tag“, knurrte Jansen lakonisch.
So ging es weiter, ein Kollege nach dem anderen kam an die Reihe. Manch einer hatte einen roten Kopf und Schweißperlen auf der Stirn. Warum sie schwitzten, konnte ich nur zu gut verstehen: Jansen war ein Arsch, er nutzte wirklich jede Schwäche aus. In Gedanken versunken, hatte ich nicht mitbekommen, dass ich selbst längst dran war. Jansen hatte mich angesprochen. Ralf zupfte mich am Ärmel: „He, Markus, du bist dran!“