Lords of the Left-Hand Path. Stephen Flowers
ist es wahrscheinlich, dass die Vorstellungen des Ostens durch die nordiranischen Nomadenstämme, wie etwa die Skythen und die Sarmaten, die Welt der Hellenen, der Slawen und der Germanen mitbeeinflusst haben. Diese Verbindungen bestanden seit der Zeit um 700 v.u. Z. bis in das sechste Jahrhundert unserer Zeit. Indoiranische Einflüsse strömten nach Europa und, während der hellenistischen Periode von etwa 300 v.u. Z. bis 200 u. Z., auch in Regionen des Nahen Ostens ein.
Die Gemeinsamkeiten zwischen den westlichen und den östlichen Wurzeln der indoeuropäischen Welt machen deutlich, dass wir, hätte die westliche Wurzel ihre Entwicklung entlang ihrer eigenen Linie fortgesetzt, heute eine etablierte Tradition des linkshändigen Pfades im Westen hätten – oder dass der linkshändige Pfad, falls er nicht selbst Teil der etablierten Kultur wäre, von dieser zumindest toleriert, wenn nicht gar unterstützt würde.
Doch die historische Entwicklung der westlichen Welt spiegelt ein gespaltenes Erbe. Die Ideologien des Nahen Ostens – oder die wahre südliche Tradition – drangen in Form des Christentums in den Norden vor und bildeten schließlich eine problembeladene Symbiose mit der ursprünglichen Kultur Europas. Nahezu jede Erscheinungsform „ketzerischen“, „abartigen“ oder „diabolischen“ religiösen Verhaltens in Europa, von den Anfängen des Christentums bis in unsere Zeit hinein, kann auf ursprüngliche Impulse zurückgeführt werden, die aus der vielfältigen vorchristlichen Kultur Europas stammen.
Es versteht sich fast von selbst, dass man, um die Entwicklung des linkshändigen Pfades im Westen verstehen zu können, auch das Wesen der nahöstlichen oder südlichen Tradition in ihren Ausprägungen sowohl des rechtshändigen als auch des linkshändigen Pfades erfassen muss. In diesen Kulturen entwickelten und verbreiteten sich die moderne Geisteshaltung und die Symbolik, die oft mit dem Wort „Satanismus“ umschrieben werden.
Der linkshändige Pfad bei den Semiten
Zum vollen Verständnis dessen, was in Westeuropa als „Satanismus“ bezeichnet wird, ist keine Kultur des Altertums – eventuell mit Ausnahme der iranischen/zoroastrischen – wichtiger als die der Semiten im Allgemeinen und die der Hebräer im Besonderen. Eine vollständige Betrachtung dieses Gebietes ist in diesem Rahmen nicht möglich,36 des Weiteren würde solch eine Untersuchung nur zeigen, dass die hebräische Tradition aus philosophischer Sicht wenig an Ursprünglichem zu bieten hat. Ihre hauptsächliche Bedeutung ist historischer Natur. Die Hebräer schmiedeten eine Synthese aus verschiedenen theologischen und mythischen Strömungen – aus Mesopotamien, Ägypten, Kanaan und dem Iran – und ihrer eigenen, primitiven semitischen Religion.37 Doch da die hebräische Religion, soweit wir Aufzeichnungen darüber haben, relativ monolithisch ist, liefert sie wenige Beweise für die Entwicklung oder Existenz von etwas Autochthonem, das mit dem linkshändigen Pfad verwandt ist. Dennoch hinterlässt die hebräische und später (seit 586 v.u. Z.) jüdische Religion der an sie anknüpfenden christlichen sowie der islamischen Welt und den Gnostikern, bei denen die jüdische Mythologie oft zur Darstellung ihrer (oft dem linkshändigen Pfad zuzuordnenden) Vorstellungen diente, eine genaue Formen- und Begriffslehre für eine gesamte „Symbollehre des Bösen“.
Es wird sich zeigen, dass in der semitischen Weltsicht, obwohl sie ursprünglich keine streng dualistische war, Vorstellungen von Sünde und Errettung oder Befleckung und Reinigung eine überaus große Rolle spielten. Dies führte zu einer Art von De-facto-Dualismus, der sich sogar als beständiger erwies als der zoroastrische, obwohl die semitische Religion sicher nur sekundär von den Mythen und der Theologie des iranischen Mazdaismus beeinflusst worden war.
Um die semitische Mentalität voll verstehen zu können, müssen wir geschichtlich bei einem nichtsemitischen Volk anfangen: bei den Sumerern. Die Ursprünge der bereits heterogenen Sumerer lagen entweder im Norden oder im Osten Mesopotamiens (des heutigen Irak),38 und um 4500 v.u. Z. ließen sie sich in den Regionen um die Flussmündungen von Euphrat und Tigris nieder. Ihre großartige Zivilisation sollte in ihrer authentischen sumerischen Form bis um 1750 v.u. Z. andauern und dann bis nach der Eroberung Babylons 539 v.u. Z. durch Kyros II. von Persien in einer „semitisierten“ Form fortsetzen. Der Frühling der sumerischen Zivilisation war zwischen 3200 und 2360 v.u. Z. Die Sumerer mit ihrem Nachfolger, dem semitischen System, in einen Topf werfen zu wollen, wäre eine grobe Vereinfachung.39 Die Sumerer scheinen in ständiger Furcht vor Naturkatastrophen und gesellschaftlichen Umbrüchen gewesen zu sein. Diese Haltung stand im Gegensatz zu den ägyptischen Vorstellungen von geordneten Abläufen in einer sicheren Umgebung und war zurückzuführen auf die ackerbaulichen Bedingungen in den jeweiligen Flusssystemen: der Nilregion einerseits, die von regelmäßigem Hochwasser geprägt ist, welches das Tal flutet, und Mesopotamien andererseits, das von Sturm und Regen abhängig ist, die Wasser in die Täler von Euphrat und Tigris bringen. Wie dem auch sei: die Sumerer schienen ursprünglich keine echte Vorstellung von einer dem gesamten Kosmos innewohnenden Gottheit gehabt zu haben. Stattdessen glaubten sie, dass alles durch die ME bestimmt sei (eine festgeschriebene göttliche Ordnung).
Das „Böse“ als solches wurde als Störung dieser göttlichen Ordnung verstanden, etwa in Form von Tod und Krankheiten. Die Einführung des Todes geht nicht auf das Konto eines Übeltäters, sondern auf das des Erdgottes En-Ki persönlich, der gewisse Kräuter aß, anstatt ihre Bestimmung festzulegen. Damit hatte En-Ki ein „kosmisches Verbrechen“ begangen, weil er „nicht im Einklang mit dem Prinzip, in das er inkarniert war, gehandelt hatte.“40
In der sumerischen Religion wurden die Götter als Formen oder Prinzipien betrachtet, die innerhalb der göttlichen Ordnung zusammenwirken. Die Aufgabe des Menschen war, „den Göttern zu dienen“, oder in anderen Worten: der göttlichen Ordnung zu dienen. Dennoch war die Vorstellung selbstverständlich, dass die Götter selbst – und nicht der Mensch – ursprünglich für die Störungen der göttlichen Ordnung verantwortlich waren. So wird Gilgamesch (der vermutlich älteste Held in der Literaturgeschichte), als er in seinem Bestreben, Unsterblichkeit zu erlangen, gegen den Tod kämpft, von den Sumerern nicht als jemand gesehen, der gegen die Götter aufbegehrt und daher „böse“ ist, sondern eher als jemand, der versucht, die ursprüngliche göttliche Ordnung wiederherzustellen. Gilgamesch wird im Wesentlichen als ein göttlicher Held und nicht als ein böser Übeltäter betrachtet. Wer sich mit dem ursprünglichen Material der Sumerer und der Religion Mesopotamiens beschäftigt, wird dabei auf eine Ambivalenz stoßen, die an die hinduistische Tradition erinnert.41
Die Kultur der Sumerer machte einen seltsamen Wandel durch. Von etwa 2800 v.u. Z. an sickerten semitische Völker (die später als Akkader identifiziert wurden) von Norden und Westen nach Sumer ein und begannen, Kultur, Sprache und Religion von den unteren gesellschaftlichen Schichten ausgehend zu „semitisieren“.42 Von 2350 bis 2150 v.u. Z. regierten akkadische Könige in Mesopotamien, bis ihre Herrschaft durch das Vordringen der Gutäer aus dem Iran beendet wurde. Die Gutäer beherrschten die Akkader bis 2050 v.u. Z., als die Sumerer eine Renaissance erlebten und die Macht wiedererlangten. Doch um 1950 v.u. Z. erlangte eine andere semitische Volksgruppe, die Assyrer, die Kontrolle über die Region. Die semitische Kultur und Sprache herrschten in Mesopotamien bis zur Eroberung durch die Perser im Jahre 539 v.u. Z. vor.
In hohem Maße wurden die Semiten Mesopotamiens – die Akkader, Assyrer und Babylonier – in ihrer Religions- und Kulturform „sumerisiert“. Sie übernahmen die sumerische Schrift (Keilschrift), äußere kultische Formen und die Mythologie. Die alten sumerischen Mythen wurden gewissermaßen semitisiert. Doch die Semiten waren ein wesentlich anders geartetes Volk, das die sumerischen Formen mit seinen eigenen Begriffsinhalten ausfüllte.
Die optimistische Anthropogenese der Sumerer – nach welcher der Mensch von den Göttern erschaffen wird – wird dahingehend uminterpretiert, dass die Menschheit aus dem Blut einer bösen Wesenheit geschaffen wird: Kingu. So ist der Mensch in der semitischen Version „durch seinen eigenen Ursprung verflucht.“43 Hier haben wir eine Grundidee, die der „Erbsünde“ sehr nahe kommt. Diese eher pessimistische Anthropogenese erfordert eine neue Form des Kultes mit persönlichen Gebeten und Bußpsalmen. Hier hören wir die Büßer um Vergebung der Sünden und Befreiung von Verfehlungen beten.44 Doch wäre es falsch, die Semiten Mesopotamiens nur als Vorläufer der hebräischen Religionsvorstellungen zu sehen. Der babylonische Blickwinkel auf die menschliche