Lords of the Left-Hand Path. Stephen Flowers
geht aus einer späteren Version des Mythos hervor, die der attische Tragödiendichter Aischylos (525 - 456 v.u. Z.) präsentierte. Aischylos porträtiert Prometheus als einen tragischen Helden und Retter der Menschheit.
Aischylos schrieb ursprünglich anscheinend eine Prometheus-Trilogie, die aus drei Tragödien bestand, doch nur die erste davon, Der gefesselte Prometheus, ist erhalten. In dieser Version des Mythos verweigert Zeus den Menschen das heilige Feuer einfach, während er gleichzeitig darüber klagt, dass die Menschheit minderwertig und fehlerhaft sei. Zeus plant, die Menschheit zu vernichten und ein neues Geschlecht zu erschaffen. Prometheus widerspricht der Auslöschung der Menschheit und erklärt Zeus, dass die Menschen, um ihr Potential zu erfüllen, das göttliche Feuer benötigen. Zeus weigert sich, ihnen das Feuer zu überlassen, worauf Prometheus es vom Olymp stiehlt und dafür in derselben Weise, wie bei Hesiod beschrieben, bestraft wird. Während Hesiod den Abstieg der Menschheit nach einem „Goldenen Zeitalter“ betont, in dem sie von der Familie der Götter nicht geschieden war, betont Aischylos einen „Fortschrittsmythos“, in dem die menschliche Art beginnt, Bewusstsein zu entwickeln, nachdem sie mit dem Geschenk des göttlichen Feuers in Berührung gekommen ist.
Obwohl der Text von Aischylos’ letzter Tragödie verloren gegangen ist, wissen wir von Darstellungen, in denen Zeus Prometheus freilässt und ihm vergibt. Er tut dies im Grunde, weil sich die Vorhersage des „Vorausdenkers“, was das Potential der Menschheit im Zusammenhang mit dem Besitz der göttlichen Flamme betrifft, als richtig erwies – wobei der Umstand, dass Prometheus’ Mutter Themis ihm das Geheimnis von Zeus’ späterem Niedergang verraten hat, ebenfalls eine Rolle spielt.
Abb. 3.1. Prometheus gefesselt von Thomas Cole
Historisch betrachtet mag diese Versöhnung von Zeus und Prometheus dadurch Auftrieb erhalten haben, dass zu Aischylos’ Zeit – am Ende des Hellenischen Zeitalters – in Athen ein jährliches Fest zu Ehren Prometheus’ abgehalten wurde. Dieses Fest wurde anfangs zwar hauptsächlich von Handwerkern gefeiert, gewann zu Aischylos’ Zeit aber auch unter den Gebildeten an Popularität. Der Kult um diesen „Gott des Bösen“ wurde zu einem weit verbreiteten Phänomen.3 Es kann gut sein, dass die Geschichte von Zeus’ Vergebung eher ersonnen wurde, um für Zeus als einen Gott der Vergebung und Weisheit zu werben, als den Ruf des Prometheus zu rehabilitieren. Es heißt sogar, Zeus habe seinem Vater Kronos vergeben und ihn zum König des Elysiums gemacht.
Prometheus und der linkshändige Pfad
Für die Geschichte der Denkweise, die wir im Westen als linkshändigen Pfad bezeichnen, kann die Bedeutung des Mythos von Prometheus nicht hoch genug eingeschätzt werden. In diesem Mythos haben wir die vielleicht älteste westliche Darstellung in der Geschichte der Menschheit, in der der Überbringer des Geschenks des göttlichen Licht oder Feuers als Schurke dargestellt wird. Der Umstand, dass er letztendlich wieder zu einem Helden aufgewertet wird, ist ebenso ein signifikantes westliches Phänomen, dem wir noch wiederholt begegnen werden. In Anbetracht dessen ist die Feststellung kurios, dass der amerikanische Pionier des modernen Satanismus, Anton LaVey, ein großer Bewunderer der Werke des Soziologen Orrin Klapp und seines Buches Heroes, Villains and Fools [Helden, Schurken und Narren] ist, in dem analysiert wird, wie sich moderne Figuren innerhalb dieser Kategorien in der öffentlichen Wahrnehmung verändert haben.
In der indoeuropäischen Metasprache der Mythen sind die ideologischen Muster des rechtshändigen und des linkshändigen Pfades – obwohl sie offen miteinander konkurrieren und um Bestätigung wetteifern – auf eine gewisse Art miteinander versöhnt und imstande, nebeneinander zu existieren. Dies steht in deutlichem Kontrast zur fanatischen Herangehensweise der Systeme des rechtshändigen Pfades mittelöstlichen (oder südlichen) Ursprungs, in welchen den „Teufeln“ niemals eine Vergebung oder positive Neubewertung zuteil wird.
Der Mythos von Prometheus veranschaulicht die geistige oder intellektuelle Anleitung durch eine Gestalt, die die Menschheit zu ihrem göttlichen Aspekt – dem Intellekt – geführt hat und deshalb der wahre Vater ihres Geistes ist. Prometheus fördert die Absonderung der Menschheit von den Göttern und schickt sie als Geschlecht auf eine heroische Suche, um ihre eigene göttliche Kraft zu entwickeln. So lange die Menschen mit den Göttern eng verbunden waren, konnten sie sich nicht im Einklang mit ihrem eigenen mystischen Weg weiterentwickeln. Prometheus zwang die Menschheit aus ihrem Nest im Olymp heraus und sorgte dafür, dass sie entweder fliegen lernen oder sich selbst zerstören würde. Doch kümmerte er sich auch darum, dass die Spezies mit der einen Sache ausgerüstet war, die für das Fliegen absolut notwendig war: mit dem heiligen Feuer der Götter. Der Mythos platziert den entfesselten Gebrauch des Intellekts – die göttliche Fähigkeit des Bewusstseins – deutlich in die kulturelle Hauptströmung einer Aristokratie des geistigen Verdienstes.
Die prometheische Mythologie hatte einen gewaltigen Einfluss auf den Verlauf der europäischen Kulturgeschichte. Seit Aischylos’ Zeit wurde die Gestalt des Lichtbringers, zumindest in gewissem Ausmaß, als tragischer Held betrachtet. Wahrscheinlich hat der Mythos das Leben gemarterter Philosophen, wie zum Beispiel Sokrates‘ und vielleicht auch des Jesus von Nazareth, stark mitgeprägt oder zumindest die literarischen Darstellungen über diese beeinflusst. Darüber hinaus ist interessant, dass Mary Shelley ihrem Schauerroman Frankenstein den Untertitel „Der moderne Prometheus“ gab, der eine komplexe Metapher (und sogar die Entstehung einer neuen Art von Mythologie) beinhaltet, die eine eigene Untersuchung wert ist.
Der linkshändige Pfad und die griechischen Mysterien
Die ganze Thematik der unterschiedlichen Mysteriensysteme – ihre Ursprünge, ihre Wechselbeziehungen, und besonders, was sie lehrten und wie sie es lehrten – bleibt, wie zu erwarten, mysteriös.4 Die initiatorische Funktion des Mysteriums (griech. Mysterion) ist in vielen religiösen oder magischen Systemen und Einweihungen kraftvoll und tiefgreifend, doch ihre volle Bedeutung ist bisher nicht aufgedeckt.5 Ebenso bleibt im Dunkeln, welche Aspekte der Mysterien dem rechtshändigen und welche dem linkshändigen Pfad zugerechnet wurden, doch hoffe ich, diese Frage etwas erhellen zu können.
Wie Nietzsche Jahrhunderte später ausführte, gab es in der hellenischen (und daraus folgernd in der indoeuropäischen) Kultur im Wesentlichen zwei geistige Vorgehensweisen: die dionysische und die apollinische. Natürlich besteht ein menschlicher, allzumenschlicher Drang, die eine mit dem Guten und die andere mit dem Bösen gleichzusetzen, doch ist dies stets kontraproduktiv. Tatsächlich kann jede philosophische Annäherung, die zur Erkenntnis führt, sowohl für die geistigen Ziele des rechtshändigen als auch für die des linkshändigen Pfades eingesetzt werden – und das Ideal ist vielleicht eine Synthese aus beiden.
Die dionysische Annäherung ist die der Orgia (Orgie), bei der sich das menschliche Bewusstsein mit dem göttlichen vereinigt, indem das alltägliche Bewusstsein soweit reduziert wird, dass das göttliche – oder „das andere“ – es subsumiert. Die dionysische spirituelle Technik nutzt Rhythmen (Trommeln, Tanz etc.), Drogen (z. B. Wein) und vielleicht auch Sex, um die normale Bewusstseinsschwelle mittels Überreizung der physischen Sinne zu senken und dadurch eine Vereinigung mit dem Göttlichen geschehen zu lassen.
Die apollinische Annäherung ist die der Katharsis (Reinigung), durch die das Bewusstsein geläutert wird und sich (mittels geistiger Disziplin und körperlicher Beschränkung) in solchem Maße von Unreinheiten entfernt, dass das Bewusstsein letztlich auf die göttliche Ebene erhoben wird. Die apollinische spirituelle Technik nutzt Verstand und körperliche Mäßigung (wie eine eingeschränkte Ernährung, Vegetarismus usw.), um mittels Unterdrückung der physischen Sinne die Bewusstseinsschwelle anzuheben und so der Seele die Vereinigung mit dem Göttlichen zu erlauben.
Orphismus oder die Orphischen Mysterien (nach dem Mythos von Orpheus benannt) verwenden beide Techniken, wobei anscheinend die apollinische überwiegt. Sowohl die orphische als auch die pythagoreische Mysterienschule – welche möglicherweise einen gemeinsamen Ursprung haben – praktizierten Vegetarismus. Was immer die historischen Ursprünge dieser Praxis waren, mythisch lässt sich ihre Spur zu jenem ersten Tieropfer