Lords of the Left-Hand Path. Stephen Flowers
religiösen und magischen Traditionen ausgeübt. Aus diesen Systemen sind religionsgeschichtlich so wichtige Vorstellungen erwachsen wie die strenge Dualität zwischen den Mächten des Guten und denen des Bösen, der Glaube an die Ankunft eines Welterlösers (Saoshyant) am Ende des linearen Zeitstrahls, die Vorstellung, dass alle Seelen gerichtet werden (wobei die Guten ins Paradies78 gelangen und die Bösen in ein Reich der Strafe), und die Idee von der Wiederauferstehung (oder Wiederherstellung und Neubelebung) der physischen Körper der Toten in einer erneuerten Welt. Eigentlich sind viele der wesentlichen jüdisch-christlichen Mythen iranischen Ursprungs: gewisse Aspekte von Eden (Genesis 1 - 2), die Geburt Jesu (Matthäus 2 : 1 - 12) und verschiedene Einzelheiten der Apokalypse.
Die Symbolik des ersten Mannes und der ersten Frau (zusammen mit einer böswilligen weiblichen Figur) im Judentum (und daher auch im Christentum) sowie der mit einer Schlange verbundene Baum im Paradies scheinen definitiv aus iranischen Quellen zu stammen.79 Da diese Symbole im Nahen Osten jahrtausendelang präsent waren, ist es sehr wahrscheinlich, dass sie nach der jüdischen Befreiung von Babylon 539 v.u. Z. in die hebräische Mythologie eingeflossen sind. Seit dieser Zeit war Israel bis zur Eroberung durch Alexander 332 v.u. Z. Teil des Persischen Reiches.
Noch offenkundiger iranischen (insbesondere „magianischen“ oder mithraischen) Ursprungs ist der Mythos von der Geburt Jesu Christi. In der iranischen (mithraischen) Überlieferung glaubte man, dass der zukünftige Erlöser-König der Welt in einer Höhle geboren werde und dass dies von einem „Stern oder einer Lichtsäule“ über der Höhle angekündigt werde. Dies erklärt auch, warum es in den Darstellungen des Matthäusevangeliums heißt, drei Magoi (Magus) hätten das Christkind besucht.80
Manche Gelehrte haben ebensoeine frappierende Ähnlichkeit zwischen Einzelheiten der biblischen Darstellung der Apokalypse und anderen eschatologischen Szenarien aus der indoiranischen Welt (und schließlich der ganzen indoeuropäischen Tradition) festgestellt. Dazu gehört offenbar eine Reihe von Parallelen mit monströsen Geschöpfen, einer gewaltigen letzten Schlacht und einer letztendlichen Erneuerung.81
Von den Jesiden, einer im Irak, in der Türkei und in Syrien lebenden Volksgruppe, wird oft behauptet, sie hätten eine Verbindung zum linkshändigen Pfad. Es ist wohl wahrscheinlich, dass der ursprüngliche Impetus und das Wesen dieser Sekte iranisch sind (die Jesiden sind Kurden, ein iranisches Volk). Auch die augenscheinliche Tatsache, dass sie dem Gott, der üblicherweise mit dem Bösen assoziiert wird, eine gewisse Ehre erweisen und dass ihm – bereits in der Vergangenheit oder künftig – von Gott vergeben wird, stimmt mit heterodoxen iranischen Glaubensvorstellungen überein.82 In Kapitel 4 werde ich noch näher auf die Jesiden eingehen.
In einer abschließenden Analyse erscheint es nahezu unmöglich, nach den Kriterien dieser Untersuchung irgendeines der iranischen Denksysteme als dem rechtshändigen oder dem linkshändigen Pfad zugehörig zu klassifizieren. Obwohl in diesen Systemen gewöhnlich eine starke Polarität zwischen Gut und Böse vorherrscht, ist das Gute keine Frage der Befolgung von „Gottes Gesetz“ oder dem Streben nach Selbstauflösung – sei es im wörtlichen Sinn oder als Nebenprodukt der „Erfüllung von Gottes Willen“ –; eher geht es darum, das Gute zu tun oder zu wählen, das der Gott ebenso zu wählen erstreben muss. Der Gott scheint ein objektives Konstrukt zu sein, vergleichbar mit Platons Agathôn. Die Individualität der Guten wird nicht aufgelöst, sondern stattdessen bewahrt, ja sie ersteht sogar physisch wieder auf. In einer Prämisse des Zoroastrismus wird festgelegt, dass allen Menschen die Erlösung bestimmt ist, denn ihre Anwesenheit in der Welt ist ein Zeichen, dass ihre Fravashis – oder Seelen – sich im Himmel dafür entschieden haben, auf die Erde zu gehen und für das Gute zu kämpfen.
Weil der „Osten“ historisch in der Lage war, die ganze Bandbreite religiöser Pfade, die Menschen erschaut und praktiziert hatten, mehr oder weniger intakt zu erhalten und weil Weise und Magier diese Methoden in einer Atmosphäre relativer philosophischer Toleranz bewusst ausarbeiten konnten, erscheinen Methoden und Vokabular beider Pfade dort klarer umrissen. Vieles von dem Zwiespalt zwischen den Methoden und Zielen, die wir in dieser Untersuchung dem rechtshändigen oder dem linkshändigen Pfad zugeordnet haben, entwickelte sich ursprünglich in einem östlichen (indoiranischen) Kontext. Im dritten Kapitel werden wir, wenn wir die ältesten Grundlagen der europäischen Kultur im Westen betrachten, einen auffallenden Gegensatz zu den Pfaden feststellen, die verhältnismäßig frei von der Zweiteilung sind, die zu der Etikettierung „linkshändiger versus rechtshändiger Pfad“ geführt hat.
Wurzeln des westlichen linkshändigen Pfades
Mit unterschiedlicher Angemessenheit wurde der Begriff „linkshändiger Pfad“ in der europäischen Kultur zunehmend für Satanismus verwendet. Dies ist sowohl richtig als auch falsch. Es ist insofern richtig, als in der Auffassung des jüdischchristlichen Religionssystems – das den Namen „Satan“ geprägt hat (vom Hebräischen śãtãn, „Gegner, Widersacher“) – vom Bösen viele Eigenschaften und Merkmale der Philosophie und Religion des linkshändigen Pfades zu finden sind. Das hat zur Folge, dass Praktizierenden des linkshändigen Pfades, wenn sie die orthodoxen jüdischen und christlichen Systeme betrachten, der Teufel in hohem Maße sympathisch erscheinen mag. So schien es auch vielen gnostischen Sekten ergangen zu sein.
Die Gleichsetzung des westlichen linkshändigen Pfades mit Satanismus ist allerdings insofern falsch, als die Praxis des linkshändigen Pfades der aufgezwungenen jüdisch-christlichen Ideologie in Europa zeitlich vorausgeht. Es gab – und gibt heute noch – die philosophische Praxis des linkshändigen Pfades in einem rein heidnischen (d. h. vorchristlichen) Kontext, der überhaupt nicht nötig hat, sich auf Satan oder Luzifer zu beziehen, um verständlich zu sein. Der linkshändige Pfad hätte in Europa auch ohne das Aufkommen des Christentums existiert (wie es in Indien der Fall war und heute noch der Fall ist). Doch als das Christentum kam, stempelte es nicht nur die einheimischen heidnischen Praktiken des linkshändigen Pfades als teuflisch ab, sondern die des rechtshändigen Pfades ebenso. Doch waren es die Anhänger des linkshändigen Pfades, die so klug (und vielleicht mutig genug) waren, ihre Wege gewissermaßen als Gegenpart zu denen der Christen des rechtshändigen Pfades zu identifizieren.
Die heidnischen Wurzeln in Europa
Die großen kulturellen und sprachlichen Wanderungsbewegungen der Indogermanen, die um 4000 v.u. Z. begannen, enthüllen anschaulich die wahre Wurzel der „westlichen“ Kultur. Die kulturellen Wurzeln der Völker, die später keltische, italische, germanische, slawische oder hellenische (griechische) Sprachen sprechen, liegen wahrscheinlich irgendwo nordöstlich des Schwarzen Meeres.1 Die nationalen Mythologien und religiös-philosophischen Systeme dieser Volksgruppen sind mit ihrem gemeinsamen Ursprung eng verknüpft. Ebenso belegen diese Wanderungsrouten den gemeinsamen Ursprung des westlichen Zweiges dieser Völkerfamilie mit einer östlichen Linie, der indoiranischen Tradition, die wir im zweiten Kapitel behandelt haben.
So wie sich die Philosophie des linkshändigen Pfades im Osten entwickelte, können wir gleichermaßen auch eine Entwicklung im Westen erwarten. In der Tat haben die philosophischen Grundlagen des linkshändigen Pfades im Westen scheinbar die gleiche Basis wie jene des rechtshändigen Pfades. In den nördlichen Teilen Europas waren diese anscheinend sogar vorherrschend.
Bei der indoeuropäischen Kosmologie ist wichtig zu bedenken, dass diese eine göttliche Ordnung voraussetzt, welche Teil einer höheren oder beständigeren Ebene der Realität ist, und dass die menschliche Ordnung eine Spiegelung der göttlichen darstellt. Die menschliche Seele, psyche, ist ein Geschenk der Götter, und die menschliche Gesellschaftsordnung spiegelt die Anordnung der verschiedenen Pantheons der Götter. Dieses ursprüngliche Verständnis wurde von Plato im „Westen“ zu einer sehr komplexen Philosophie weiterentwickelt – wie es auch in den Schulen der indischen Weisen geschehen ist, die im „Osten“ die Brahmanas und die Upanishaden hervorgebracht haben.
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