Beutewelt V. Bürgerkrieg 2038. Alexander Merow
Uljanin schritt hochnäsig vor seinen KKG-Offizieren im neu eingerichteten Hauptquartier der KVSG in Moskau auf und ab und sah sie mit seinen listigen, kleinen Augen an.
„Männer, wir ändern unsere Strategie! Schluss mit den halbherzigen Scharmützeln. Ich habe mir vorgenommen, eine riesige Armee aufzustellen und sie konzentriert gegen Tschistokjow zu führen. Es wird ein gewaltiger Hammerschlag, der alles zermalmen wird, was uns noch im Wege steht. Wir werden die schwarz-rote Fahne im Herzen von Minsk hissen und die Revolution damit endgültig zum Sieg führen!“
„Aber es läuft doch alles gut, Herr KVSG-Vorsitzender!“, bemerkte einer der Offiziere. „Überall gewinnen unsere Truppen an Boden.“
Uljanin fletschte die Zähne und warf dem unaufgefordert dazwischen redenden Mann einen verärgerten Blick zu.
„Ich bin dieses Geplänkel leid! Es geht mir mit dem Vormarsch definitiv zu langsam! Wenn wir endlich eine große Streitmacht ausheben, dann überspülen wir Westrussland, Weißrussland und das Baltikum innerhalb kürzester Zeit und können uns im Anschluss den Japanern in Sibirien zuwenden!“, donnerte Uljanin.
Die übrigen KKG-Offiziere schwiegen und schlugen die Hacken zusammen. Der Kollektivistenführer befahl ihnen eine noch intensivere Rekrutierungsarbeit in allen russischen Städten, wobei er von einer mehrere Millionen Mann umfassenden Streitmacht redete.
„Hat uns die Weltregierung denn überhaupt schon ausreichend Infanteriewaffen geliefert, um so viele Soldaten aufstellen zu können?“, wollte einer der Anwesenden wissen.
„Von mir aus drücken Sie den Soldaten ein Küchenmesser in die Hand. Es kommen doch täglich neue Lieferungen aus Europa-Mitte und Nordamerika. Außerdem haben wir selbst schon eine große Zahl an Waffen herstellen lassen. Und wenn der eine oder andere eben nicht so gut ausgerüstet ist, dann interessiert mich das auch nicht weiter. Im Gegensatz zu Tschistokjow haben wir ausreichend Menschenmaterial in Reserve, verstehen Sie?“, gab der spitzbärtige KVSG-Chef zynisch zurück.
„Zu Befehl!“, riefen seine Offiziere und verschwanden. Uljanin verschränkte seine knochigen Arme vor der Brust und sah ihnen mit versteinerter Miene nach.
Anfang April 2039 brachen in Nordamerika schwere Rassenunruhen in den Großstädten aus. Der bei der hispanischen Bevölkerung sehr einflussreiche Politiker Antonio Ramirez hatte mit seiner Forderung eines eigenen Staates für den mexikanischen Bevölkerungsanteil auf dem Gebiet des ehemaligen US-Bundesstaates New Mexico eine wahre Sturmflut ausgelöst, die nun in gewalttätigen Ausschreitungen gipfelte.
Vor allem in Los Angeles und den anderen Großstädten der amerikanischen Westküste gingen Schwarze, Latinos und die überall zur Minderheit gewordenen Weißen aufeinander los. Außerdem hatte Ramirez seine Landsleute aufgefordert, sich trotz behördlichem Befehl keinesfalls mit den implantierten Scanchips registrieren zu lassen. Die Weltregierung hatte zu Beginn des Jahres 2039 die staatliche Zwangsregistrierung der restlichen Bevölkerung im Verwaltungssektor Amerika-Nord angeordnet. Antonio Ramirez sprach in diesem Kontext öffentlich von „Unterdrückungsmaßnahmen“, „Staatsterror“ und sogar „Tierhaltungsmethoden“.
Am 10.04.2039 erlitt der bei vielen Latinos äußerst populäre Mann einen tödlichen Autounfall. Schnell kursierten Gerüchte über einen Mordanschlag durch die GSA und Ramirez Anhänger organisierten einen landesweiten Streik der hispanischen Billiglohnarbeiter, der ganze Industriezweige lahm legte.
Die Unruhen in den Großstädten verwandelten sich innerhalb weniger Tage in bürgerkriegsähnliche Zustände. Die seit Jahrzehnten schwelenden Animositäten zwischen den verschiedenen Ethnien entluden sich in blutigen Krawallen. Am Ende schossen GCF-Soldaten dazwischen.
Die Augen der Weltöffentlichkeit und der Mächtigen wandten sich jetzt ganz den Ausschreitungen in Nordamerika zu und tagelang zeigten die Medien nur Bilder von brennenden Straßenzügen und aufgebrachten Massen. Das Interesse an den Vorgängen in Russland nahm für eine Weile spürbar ab, denn der reibungslose Verlauf der Massenregistrierungen hatte für den Rat der 13 oberste Priorität. Als die Unruhen gegen Ende des Monats schließlich auch Washington und New York erschütterten, wurde die übrige Welt in den Medien fast gar nicht mehr beachtet. Die Mächtigen beorderten etwa 100.000 GCF-Soldaten aus allen Teilen der Welt nach Nordamerika, um die öffentliche Ordnung in den Städten mit brutaler Gewalt wiederherzustellen.
Artur Tschistokjow kamen diese Zustände zu Gute, denn kurzzeitig schwoll die ständige Medienhetze gegen ihn ab und man ließ ihn in Ruhe. Etwa 10.000 GCF-Soldaten wurden aus Russland abgezogen und nach Kanada und in den Norden der ehemaligen USA verlegt. Allerdings hatte sich die militärische Situation dadurch nicht merklich verändert. Noch immer waren die Kollektivisten in Westrussland auf dem Vormarsch, auch wenn ihre Popularität bei Millionen Russen schon spürbar abgenommen hatte. Uljanins Versprechungen waren bisher nicht eingehalten worden und die soziale Lage in den von ihm kontrollierten Regionen hatte sich extrem verschlechtert.
Große Teile des russischen Volkes waren durch die Zwangsenteignungen und Kollektivierungen vollkommen mittellos geworden und nagten am Hungertuch. Der Kollektivistenführer beschuldigte die Rus, dass sie seine „Revolution zum Wohle aller“ aufhielten, und machte sie allein für das soziale Elend und den Bürgerkrieg verantwortlich. Doch seine Worte wurden von immer weniger Russen geglaubt. Viele begannen allmählich ernsthaft am Kollektivismus zu zweifeln und stellten die Lehren Mardochows in Frage.
Innerhalb der Arbeiterschaft und bei den noch ärmeren Bevölkerungsteilen breitete sich die Unzufriedenheit am schnellsten aus, denn längst herrschten chaotische Zustände. Die Stillegung von Betrieben infolge von Rohstoff- oder Brennstoffmangel bedeutete den Ausfall von Lohn.
Mancher sah sich gezwungen, anderweitig, oft in den ländlichen Gebieten, Arbeit zu suchen. Hier griff jedoch der staatliche Zwang ein und es wurde schnell deutlich, dass an die Stelle des Unternehmers nicht die „Armen und Entrechteten“, sondern Uljanin und seine Elite aus kollektivistischen Funktionären getreten waren. Ihnen fielen jetzt sämtliche Profite der Betriebe zu. Die Chefs der KVSG herrschten über die erzielten Gewinne mit eiserner Faust, versetzten Arbeiter oder warfen sie einfach hinaus, wenn sie unnötig erschienen. Letztendlich erreichte wenig des Erwirtschafteten das russische Volk selbst. Der größte Teil blieb „beim Staat“ und wurde von den Kollektivistenführern - angeblich im Sinne des Allgemeinwohls - selbstherrlich vereinnahmt und verwaltet.
Auch der Handel innerhalb des Landes war zum Erliegen gekommen, Privathandel wurde sogar verboten. Häuser und Grundstücke wurden ihren Besitzern zum „Wohle des Volkes“ weggenommen und die Geldbeträge auf sämtlichen Scanchip-Konten durch die kollektivistische Führung eingezogen, um sie „neu verwalten“ zu können.
Viele Funktionäre der kollektivistischen Bewegung und vor allem Uljanin selbst, schienen hingegen deutlich wohlhabender geworden zu sein. Wer sich im schwarz-roten System als treuer Diener hervorgetan hatte, der durfte ausnahmsweise doch Privateigentum besitzen und erhielt zahlreiche andere Privilegien. Oft zogen die Funktionäre der KVSG in die schönsten Häuser und fuhren Karossen, von denen die von ihnen angeblich vertretenen Entrechteten nur träumen konnten.
Viele der Unzufriedenen blickten in dieser Zeit nach Weißrussland und ins Baltikum und sahen wesentlich glücklichere Völker, welchen es, trotz Bürgerkrieg, deutlich besser als ihnen ging. Aber noch waren die Anhänger Uljanins zahlreich genug und prügelten mit brennendem Fanatismus jede öffentliche Kritik am Kollektivismus nieder. Ihr Terror gegen das russische Volk nahm derart zu, dass sich dank eines ausgeklügelten Systems von Überwachungen und Liquidierungen kaum noch Widerstand regte.
Als einige Tausend halb verhungerte Werktätige in Kazan schließlich doch einen Streik als Protest gegen die brutalen Zwangsmaßnahmen organisierten, wurden sie von KKG-Trupps zusammengeschossen und ihre Rädelsführer als „Arbeiterverräter“ hingerichtet.
Die Rus versuchten derweil wieder verstärkt, den Kampf gegen den Kollektivismus auf geistiger Ebene fortzuführen und rüsteten ihre Kampfverbände mit Flugblättern, Datendisks und anderem Werbematerial aus. Das weißrussische Fernsehen beteiligte sich an der Werbeoffensive und forderte alle unzufriedenen Russen auf, sich dem Kampf gegen den „kollektivistischen Massenterror“