Nichts ist verjährt. Horst Bosetzky
ging er zum Kaminsaal, um sich einen Platz ganz hinten in der letzten Reihe zu sichern. Oybin starrte ihm hinterher, das merkte Mannhardt, ohne dass er sich umdrehen musste. Und wenn er wirklich der Mörder war, musste er sich ganz schön verunsichert fühlen.
Langsam füllte sich der Raum, der vielleicht sechzig Gästen Platz bot, wenn man die Stühle eng genug stellte. Mannhardt musterte die Gesichter. Die meisten sahen nach alten Kadern aus. Jetzt hatten sie doch noch den Kudamm erobert. Die Jüngeren und die Journalisten schienen gekommen zu sein, weil sie eine Sensation erwarteten. Würde die Szene zum Tribunal werden und jemand Oybin so in die Enge treiben, dass er ein Geständnis ablegte? Dies war Mannhardts große Hoffnung, aus diesem Grund war er hier.
Wie bei solchen Veranstaltungen üblich, begann man mit einer Verspätung von mehr als zehn Minuten. Man wartete noch auf die Literaturwissenschaftlerin, die man eingeladen hatte, um Biographisches zu Bernhard Oybin zu sagen. Endlich erschien sie und wurde neben ihm platziert, dann trat der Vorsitzende an den Tisch, um die Begrüßungsworte zu sprechen. Er wies darauf hin, dass dies heute eine ganz besondere Veranstaltung sei.
«Normalerweise beginne ich ja immer mit dem Brecht-Wort: Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt, heute aber muss ich anders beginnen, denn der Kollege, der diesmal im Mittelpunkt steht, ist ja, wie wir alle sehen, noch höchst lebendig. Über sein Leben und Schaffen und seine gesellschaftliche Wirkung wird uns Frau Dr. Renate Riebensahm Auskunft geben, die über ihn promoviert hat. Im Westen, so viel sei schon vorweggenommen, ist Bernhard Oybin für das breite Publikum ein Unbekannter, während er in der DDR jedem Schulkind vertraut war. Das kommt in Deutschland öfter vor, auch umgekehrt. Auch um diesem Mangel etwas abzuhelfen, haben wir Bernhard Oybin zu dieser Veranstaltung eingeladen. Obwohl es ihm gesundheitlich nicht gut geht – kein Wunder nach den Aufregungen der letzten Tage –, wird er selber das tun, wozu wir sonst immer einen Schauspieler einladen: nämlich aus den Werken Bernhard Oybins vorlesen. Dazu wünsche ich Ihnen allen ein hohes Maß an intellektuellem Vergnügen.»
Nachdem gebührend geklatscht worden war, begann Renate Riebensahm mit ihren Ausführungen. Mannhardt kannte ja Oybins Lebenslauf und hatte schnell mit Langeweile und Müdigkeit zu kämpfen. Um wach zu bleiben, starrte er auf die Knie der Referentin, die unter dem Tisch hervorschauten, aber libidinöse Gedanken wollten sich partout nicht einstellen. Zu dürr war die Dame, zu sehr Oberlehrerin. Er wendete den Kopf nach links, um jemanden zu entdecken, der so aussah, als wäre er gekommen, um Oybin in die Pfanne zu hauen. Auf den ersten Blick war keiner auszumachen. Er entschloss sich zuzuhören.
«… was Bernhard Oybin war, das hatte er der Partei zu verdanken, und er war jung und idealistisch genug, um zu wissen, dass er ihr dies alles zurückzugeben hatte – mit seiner gesellschaftlichen Tätigkeit, vor allem aber mit seinen Romanen. Wir hören dazu eine Passage aus dem Fährmann von Ketzin, wo Martin, der hochbegabte Textilingenieur, der in den Westen gegangen war, voller Enttäuschung und reumütig in die DDR zurückgekehrt, um im Kreise seiner wahren Freunde am Aufbau eines menschlichen Sozialismus mitzuwirken.»
Mannhardt murmelte, dass er eine Kotztüte brauche, wurde dann aber, als Oybin zu lesen begann, mit jedem Satz es ergriff ihn, weil Martins Träume auch seine Träume gewesen waren, und leise summte er vor sich hin, was Linda Perry von den 4 Non Blondes immer sang: « Twenty-five years and my life is still/Trying to get up that great big hill of hope/For a destination … And I pray, oh my god do I pray/I pray every single day/For a revolution.»
Bernhard Oybins Meisterschaft hatte zweifellos darin bestanden, die Menschen auf diesen wunderbaren großen Berg der Hoffnung mitzunehmen, der Hoffnung auf eine friedliche und glückliche Gesellschaft, in der jeder gebraucht und geschätzt wurde.
Mannhardt, zu Tränen gerührt und in den Tiefen seines Herzens immer irgendwie Sozialist geblieben, verzieh Bernhard Oybin in diesem Augenblick all seine Verfehlungen. Er hasste die DDR und bejubelte ihren Untergang, doch er konnte auch verstehen, warum Menschen sich voll auf sie eingelassen hatten. Wer hätte 1945/46 auch ahnen können, wie alles einmal enden würde? Das Experiment hatte gewagt werden müssen.
Als sowohl die Lesung wie auch die wissenschaftliche Kommentierung zu Ende waren und die Diskussion begann, fürchtete Mannhardt das, was er anfangs so erhofft hatte, dass nämlich jemand vortrat und Oybin des Mordes überführte. Und in der Tat, das Tribunal ließ sich nicht aufhalten.
«Werden Sie denn nun auch einen Roman über den Mord am Imkerweg schreiben?», lautete die erste Frage.
Oybin versuchte, gelassen zu bleiben. «Warum sollte ich?»
«Um auch auf dem westlichen Markt Erfolg zu haben. Jetzt, wo Sie unter Mordverdacht stehen, reißt sich doch die Presse um Sie.»
«Ich habe mein Leben gelebt, ich brauche keine Erfolge mehr», erwiderte Oybin. «Man hat mir alles genommen: erst mein Land, dann mein Haus und mein Grundstück und nun auch noch meine Ehre. Ein Mörder soll ich sein?!»
Da sprang Professor Schwellnuss auf, der so saß, dass Mannhardt ihn vorher gar nicht wahrgenommen hatte.
«Sie Lügner!», schrie Schwellnuss. «Das Grundstück am Imkerweg hat, seit Schmöckwitz parzelliert worden ist, meinen Verwandten gehört, und als meine Tante, weil die Stasi hinter ihr her war, nach West-Berlin geflüchtet ist, hat es ihr das DDR-Regime geraubt und Sie, Herr Oybin, damit belohnt. Das war von Anfang an widerrechtlich, und wenn Sie im letzten Jahr gehen mussten, dann allein deswegen, weil das Recht es so wollte.»
«Das Recht der Sieger!», warf Oybins Biographin ein.
«Das Recht eines demokratischen Rechtsstaates!», rief Schwellnuss. «Und wenn Sie, Herr Oybin, noch etwas Ehre im Leib hätten, dann würden Sie jetzt für all die Jahre, die Sie am Imkerweg gesessen haben, die Pacht zahlen. Nicht an mich, sondern an die Opfer des Stalinismus und des DDR-Unrechtregimes. Aber das tun Sie ja nicht. Wie heißt es doch so schön in einem DEFA-Film: Die Mörder sind unter uns!»
In diesem Augenblick fasste sich Bernhard Oybin ans Herz und sackte in sich zusammen.
Kirsten Klinkhammer saß mit ihrem Mann im Restaurant des Fernsehturms und genoss die Aussicht auf ihre Heimatstadt. Da sie sich langsam drehten, bekamen sie nacheinander alles zu sehen – Ost wie West.
Planetarium, da habe ich die ersten fünf Jahre meines Lebens verbracht, in der Stargarder Straße. Die geht von der Prenzlauer Allee ab. In der Nähe war auch ein großer Park. Dann sind meine Eltern in den Westen rüber, zwei Monate vor der Mauer.»
Ihr Mann nahm ihre Hand. «Gut, dass die das getan haben, sonst wären wir uns nie über den Weg gelaufen. Eine Frau aus der DDR hätte ich ja nie heiraten können.» Sie lachte. «Als Amerikaner schon. Gegen einen Haufen Devisen wäre das sicher gegangen.»
«Damals war ich ja noch kein Amerikaner.»
Dr. Matthias Klinkhammer kam aus Karlsruhe, hatte an der TU Berlin Physik studiert und war dann als Forscher in die USA gegangen. Vorher hatte er Kirsten kennengelernt, bei einer Ferienreise mit ARTU nach Griechenland. Ende 1980 war sie mit ihm nach Kalifornien gegangen. «Bloß raus aus Deutschland, bevor es hier zum großen Knall kommt!» Die BRD wie auch die DDR als großes atomares Schlachtfeld.
Jetzt kamen sie alle fünf Jahre nach Deutschland und staunten. Insbesondere über Berlin. Die Stadt war aufregender als alles andere.
«Auch die Zeitungen machen sich langsam», sagte ihr Mann.
«Zu Kaisers Zeiten hatten die Berliner Zeitungen noch eine Liste mit prominenten Gästen. Im Adlon abgestiegen sind … Schade, da würdest du heute auch aufgeführt werden.»
«Du aber auch. Wegen deiner Verdienste um die deutsche Sprache.»
Kirsten Klinkhammer war Deutschlehrerin an einem College in Berkeley und versuchte heroisch, gegen die Übermacht des Spanischen und neuerdings auch gegen die des Chinesischen anzukommen.
Während sie auf ihr Essen warteten, warfen sie einen Blick in den Lokalteil der Zeitung, die sie vorhin auf dem Alex gekauft hatten. Plötzlich schrie Kirsten Klinkhammer auf.
«Was ist denn?», fragte ihr Mann.
«Das