Nichts ist verjährt. Horst Bosetzky
in der DDR immer einen sehr niedrigen Stellenwert gehabt, obwohl es in der Blaulicht -Reihe sogar ein Heft von Erich Loest gegeben hat.»
Während sie Martin Mutsch in sein Wohnzimmer folgten und Platz nahmen, fiel Mannhardt noch etwas zur Blaulicht -Reihe ein. «Ist die nicht anfangs vom Ministerium des Innern herausgegeben worden?»
Martin Mutsch war erstaunt, dass ein West-Berliner so etwas wusste. «In der Tat. Die Arbeit der Volkspolizei sollte ebenso wohlwollend wie realistisch dargestellt werden. Unsere Hochliteraten haben immer gelästert, die Blaulicht- Hefte seien nötig, weil es in der DDR keine BILD -Zeitung gab. Aber als ich einmal Ärger mit der SED hatte, hat Bernhard Oybin zu mir gesagt, ich solle doch Krimis schreiben, weil ich da ein wenig frecher sein dürfe.»
«Was Sie dann ja auch getan haben.» Mannhardt wies auf die Bände der DIE -Reihe, auf denen der Name Martin Mutsch zu lesen war.
«Ja, sicher. Schließlich gab es 1500 Mark für das kleine und 2500 Mark für das doppelte Heft, was bei den niedrigen Preisen bei uns eine Menge Geld war. Und bei einer Auflage von vielleicht 175 000 Exemplaren war man schnell im ganzen Land bekannt. Das hat mir damals sehr geholfen, meine Arbeit bei der Volkspolizei aufzugeben. Aber das Schreiben ist eben eine Sucht.»
«Und Oybin hat Ihnen dabei kräftig geholfen?», fragte Schönbier, der das Referat über den Krimi in der DDR nur langweilig fand.
«Bernhard, ja … Er ist eine Seele von Mensch und hatte eine Unmenge an Freunden aus aller Welt. Immer und überall hat er geholfen.»
Klar, dachte Mannhardt, je mehr Leute Oybin kannte, desto mehr konnte er seinem Führungsoffizier erzählen und der Stasi eine Freude machen.
«Sie wissen, warum wir hier sind?», fragte Schönbier.
«Noch kann ich Zeitung lesen», antwortete Martin Mutsch. «Noch sind meine Augen gut genug.»
«Und?»
Martin Mutsch lachte. «Von Kollege zu Kollege: Ich an Ihrer Stelle würde aufgeben, bevor ich angefangen habe, denn ich will nicht sagen, dass die halbe DDR als Täter in Frage kommt, aber in der fraglichen Zeit werden Hunderte von Freunden und Freundinnen im Haus am Imkerweg gewesen sein – und zwar in Bernhards Abwesenheit.»
«Wie das?», fragte Schönbier.
«Im Sommer war er fast immer in seinem Ferienhaus in Baabe, auf Rügen also, und hat das Haus in Schmöckwitz gern anderen zur Verfügung gestellt, wenn die in Berlin waren. Und Katja war nie da, die hat den Imkerweg gehasst. Sein Motorboot hat hinten am Zeuthener See gelegen, auch das hat viele angelockt. Der eine hat den Schlüssel an den anderen weitergegeben, und es hat x Schlüssel gegeben. Viele von seinen verheirateten Freunden haben Schmöckwitz auch als Liebesnest benutzt, um es da mit ihren Freundinnen zu treiben. Ich habe auch einmal einen Freund mitgenommen … Sie wissen ja, dass wir Schwulen es in der DDR nicht leicht hatten. Aber es geht ja hier um eine tote Frau. Nun, ich will das einmal so formulieren: Dass Sie da bei Oybin am Imkerweg nur eine skelettierte Leiche gefunden haben, ist eigentlich erstaunlich.»
Mannhardt fand es überhaupt erstaunlich, dass man nicht eher auf den Mord am Imkerweg gekommen war.
«Bei der lückenlosen Kontrolle, die das Ministerium für Staatssicherheit über alles hatte, und bei der ausgezeichneten Kriminalpolizei bei Ihnen drüben …?»
«Nun, bei der Nomenklatura schaute man nicht immer so ganz genau hin, und Bernhard Oybin war ja zu seinen besten Zeiten so etwas wie ein Heiliger bei uns. Und offenbar ist die Frau, die da in Schmöckwitz gefunden wurde, von niemandem vermisst worden.»
«Im fraglichen Zeitraum hat es Hunderte von Vermisstenmeldungen gegeben», sagte Schönbier. «Im Westen wie im Osten, und ehe wir uns da durch alle durchgearbeitet haben …»
Mannhardt fixierte Martin Mutsch. «Dass Sie Ihrem Freund und Gönner aus der Bredouille helfen wollen, ist sicherlich verständlich und ja durchaus auch ehrenhaft, aber für uns ist er nun einmal ganz automatisch der Tatverdächtige Nummer eins.»
«Ich würde eher von einer Tatverdächtigen sprechen», sagte Martin Mutsch.
«Sie meinen seine Ex-Frau?», fragte Schönbier.
«Katja Koschlick, ja. Mit ihren Psychosen und Borderline-Störungen gehört sie eigentlich wieder in die Psychiatrie. Den ganzen Tag hockt sie nur zu Hause und sieht sich alte Filme an … und trinkt dabei. Ihr Hass auf Bernhard ist pathologisch, und ihn jetzt mit einer Mordanklage vor Gericht zu sehen wäre der Höhepunkt ihrer Rache. Dass er halb gelähmt im Rollstuhl sitzt, das reicht ihr nicht.»
Friedrichshagen am Müggelsee war an sich der ideale Ruhesitz für einen Literaten, denn hier hatten Wilhelm Bölsche und Bruno Wille gelebt und 1888/89 ihren Dichterkreis begründet, zu dem unter anderen auch Richard Dehmel, Knut Hamsun, Gerhart Hauptmann, Peter Hille, Erich Mühsam, Frank Wedekind und Else Lasker-Schüler gezählt wurden, doch Mannhardt hatte seine Zweifel, ob Bernhard Oybin mit dem Heim, in dem er lebte, sonderlich zufrieden war. Die Pflegekräfte waren mufflig und schienen demotiviert und überfordert zu sein, in den Fluren roch es nach Urin.
Die Heimleitung hatte Oybin von ihrem Kommen informiert, und so kam er ihnen auf dem Flur mit seinem Rollstuhl entgegen. Mannhardt hatte diesmal Yaiza Teetzmann mitgenommen, weil er hoffte, durch sie, der Ex-DDR-Bürgerin, einen besseren Zugang zu ihm, dem Ex-DDR-Heroen, zu bekommen.
«Wehe den Besiegten!», rief Oybin ihnen zu. «Erst nehmen sie mir die Ehre, die neuen Herren, dann berauben sie mich meines Eigentums, und jetzt schicken sie auch noch den Henker zu mir.»
Halt’s Maul, du altes Stasi-Schwein, dachte Mannhardt bei sich.
«Ich habe Ihre Bücher immer gern gelesen», sagte Yaiza Teetzmann. «Und insbesondere Der Dispatcher ist in meinen Augen ein Meisterwerk.»
Da leuchteten Oybins Augen. «Richtig: Was damals ein Meisterwerk war, kann heute kein Machwerk sein, und was damals Recht war, kann heute kein Unrecht sein.»
Mannhardt fletschte die Zähne. «Das kenne ich doch von Hans Filbinger.» Gab es furchtbare Juristen, so gab es auch furchtbare Schriftsteller.
Oybin hatte es nicht gehört, denn zu sehr war er damit beschäftigt, Yaiza Teetzmanns Figur in sich aufzunehmen.
«Kommen Sie, mein Zimmer ist gleich hier nebenan, lassen Sie uns miteinander plaudern.»
Mannhardt verstand, warum der Mann mit seinem Charme die Frauen reihenweise erobert hatte. Er war einer von denen, die auch mit neunzig noch konnten und immer sagten, ein Mann nähme seine Potenz mit ins Grab. Er ließ Yaiza Teetzmann freie Hand, denn wenn er sich einmischte, lief er nur Gefahr, dass Oybin ihm ein Disziplinarverfahren anhängte.
Oybins kleines Zimmer war eine Zumutung und mit der Würde des Menschen, wie sie im Grundgesetz fixiert war, nicht ganz zu vereinbaren, das musste sich auch Mannhardt eingestehen. Es war eine Aufbewahrungsbox für Abgeschobene, deren baldiges Ableben anzunehmen war. Irgendwie tat er Mannhardt sogar ein wenig leid.
«Ich weiß, wie kränkend es für Sie sein muss, Herr Oybin, aber …» Yaiza Teetzmann zögerte fortzufahren. «Fakt ist nun einmal, dass auf Ihrem Grundstück in Schmöckwitz eine Leiche gefunden worden ist und alles auf einen Mord hindeutet.»
«Und die West-Presse wartet nur darauf, mir den anhängen zu können», sagte Oybin. «Aber da kann ich ihr nur hinterherrufen: Nu pogodi! »
«Das heißt: Na warte!», übersetzte Yaiza Teetzmann für Mannhardt. «Und stammt aus einer legendären sowjetischen Zeichentrickserie bei uns. Da gab es einen freundlichen, wissbegierigen Hasen und einen bösen Wolf. Der verliert zwar alle Duelle mit dem Hasen, steht aber nach jeder Niederlage wieder auf und brüllt dem davonhüpfenden Hasen hinterher: Nu pogodi! »
Mannhardt wollte sich der Sinn dieser Bemerkung nicht ganz erschließen, sah er doch in Oybin nicht den lieben Hasen, sondern den bösen Wolf.
Oybin setzte zu einer längeren Rede an. «Nun, ich hasse abgestandene Redewendungen, aber manche bringen einen Tatbestand wirklich auf den Punkt, zum Beispiel: Jede gute Tat rächt sich