Nichts ist verjährt. Horst Bosetzky

Nichts ist verjährt - Horst Bosetzky


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aber man muss ja heutzutage mit allem rechnen.»

      «Sie wissen, warum wir hier sind?», fragte Mannhardt, als sie ins Wohnzimmer traten.

      «Wegen Schmöckwitz, mein Architekt hat mich schon angerufen, der Herr Grauen. Schrecklich alles!» Schwellnuss fiel in einen seiner Sessel. «Aber ich werde Ihnen da auch nicht weiterhelfen können.»

      «Es ist doch aber Ihr Haus?», wollte sich Mannhardt vergewissern.

      «Das schon, aber erst seit Beginn dieses Jahres. Das heißt, eigentlich haben wir es schon 1975 geerbt, also meine Mutter, weil es deren Schwester gehört hat, meiner Tante, aber wir waren ja West-Berliner und damit rechtlos. Wenn ich Ihnen das mal erklären darf …»

      Diese Erklärung dauerte gut zwanzig Minuten, denn wegen einer angeblichen Tätigkeit der Tante für die CIA hatte die DDR Haus und Grundstück in Staatseigentum übergehen lassen. «… und der Einigungsvertrag hat solche Tatbestände außen vor gelassen, so dass wir seit 1990 pausenlos prozessiert haben. Ein Gerichtsverfahren nach dem anderen hat es gegeben, mein Anwalt ist dadurch ein reicher Mann geworden, und erst Anfang dieses Jahres ist es uns gelungen, den üblen Grundstücksbesetzer wieder zu vertreiben und in Besitz zu nehmen, was unserer Familie seit 1924 gehört hat.» Mannhardt rechnete. Die Tat war zwischen 1972 und 1982 begangen worden, also kam Schwellnuss doch noch als Täter in Frage. «Sie sind Jahrgang …?»

      «1955», antwortete der Professor.

      «Danke!» Mannhardt tat sich bei der Rechnung mit Jahreszahlen auch diesmal wieder schwer, und so dauerte es ein paar Sekunden, bis er herausgefunden hatte, dass Schwellnuss im Jahre 1974 alt genug gewesen war, um einen Mord zu begehen oder zumindest im Affekt zum Totschläger zu werden.

      Schwellnuss nutzte die kleine Gesprächspause, um allen ein Glas Mineralwasser einzugießen.

      «Prost!» Er trank so hastig, dass er rülpsen musste.

      «Oh, Pardon! Mal ganz direkt gefragt: Sind Sie eigentlich hier, weil sie mich für den Täter halten?»

      «Wie kommen Sie denn darauf?», fragte Mannhardt zurück.

      «Wozu bin ich Psychologe, ich spüre das.»

      Schönbier lachte. «Wenn Sie wollen, dass Sie dadurch ins Fernsehen kommen, dann gerne.»

      Mannhardt begann, laut zu denken. «Seit 1974 gab es Passierscheine für West-Berliner … Und Sie haben Ihre Tante sicherlich öfter besucht?»

      «Ja, natürlich!», rief Schwellnuss. «Um mich am Imkerweg mit meinen Geliebten aus der DDR zu treffen. Und eine von denen habe ich dann umgebracht und im Garten verbuddelt.»

      «War das schon ein Geständnis?», fragte Schönbier.

      Da fuhr Schwellnuss auf und verlor die Contenance. «Ich verbitte mir das! Da stecken doch die alten SED-Seilschaften dahinter, dieses Arschloch von Oybin. Das ist seine Rache, weil es mir schließlich doch noch gelungen ist, ihn von dem Land zu vertreiben, das er und sein Verbrecherstaat uns geraubt hatten!»

      Mannhardt war geradezu entsetzt über diesen Wutausbruch des Intellektuellen. «Wer bitte ist Oybin?»

      «Bernhard Oybin ist ein gänzlich unbedeutender, aber vom DDR-Regime hochgejubelter Schriftsteller, der dafür, dass er Honecker und Co. in den Arsch gekrochen ist, mit dem Grundstück am Imkerweg belohnt worden war. Er soll ein fürchterlicher Blaubart gewesen sein. Kein Wunder, dass da auch eine Leiche zurückgeblieben ist.»

       2007

      HANS-JÜRGEN MANNHARDT hatte zwar das Abitur gemacht, dann aber nicht studiert, sondern es vorgezogen, die Kommissarslaufbahn einzuschlagen und Beamter des gehobenen Dienstes zu werden. Lilo, seine Ex-Ehefrau, hatte ihm das immer wieder vorgehalten: «Was hätte aus dir nicht alles werden können, wenn du Volljurist geworden wärst!» In der Tat, dann würde er jetzt als Polizeidirektor in den Ruhestand gehen und nicht als Erster Kriminalhauptkommissar.

      «Aber ob du damit glücklicher sein würdest?», wurde er immer wieder gefragt.

      «Ja, sicher.»

      Je höher jemand in einer Hierarchie nach oben stieg, desto näher war er dem Himmel.

      Zu wissen, dass er aus seinem Leben nicht das gemacht hatte, was möglich gewesen wäre, schmerzte umso mehr, je älter er wurde. Am besten verstanden alte Skatspieler, was er meinte: «Da hast du das Blatt für einen Grand in der Hand und spielst aus lauter Angst nur Karo.» Das brachte achtzehn Punkte ein, ein gewonnener Grand aber sechzig.

      Was seine Allgemeinbildung anging, da konnte er es mit Leuten aufnehmen, die ein Prof. Dr. vor dem Namen stehen hatten, und beim Trivial Pursuit galt er als unschlagbar. Das lag daran, dass man sich als Kriminalkommissar pausenlos in andere Lebens- und Wissensbereiche hineinfinden musste, wenn man Erfolg haben wollte. Diesmal war es die Literatur der DDR. Als West-Berliner hatte er von Anna Seghers Das siebte Kreuz gelesen, von Hermann Kant Die Aula, ebenso ein, zwei Werke von Stefan Heym, und auch die Namen Christa Wolf, Christoph Hein und Jurek Becker kannte er, aber damit hörte es auch schon auf. Wer um Himmels willen war nur Bernhard Oybin?

      Bevor sie sich näher mit ihm befassten, gab er den Namen bei Google ein und erfuhr immerhin einiges.

      Bernhard Oybin war 1929 in Rathenow als Sohn eines Anstreichers geboren worden und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen. Sein Vater hatte der KPD angehört und mehrere Jahre im KZ gesessen. Das bewog den jungen Bernhard Oybin dazu, in die SED einzutreten. Nachdem man ihm ermöglicht hatte, das Abitur an der ABF, der Arbeiter- und Bauernfakultät, in Greifswald nachzuholen, studierte er Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin und promovierte mit einer Arbeit zum Thema Der Erste Weltkrieg im Spiegel deutscher Romane. Schon während seiner Studienzeit hatte er zu schreiben begonnen und mit seinem ersten Roman Der Fährmann von Ketzin einiges an Aufsehen erregt. Sein größter Erfolg aber sei Der Dispatcher gewesen, der von der DEFA auch verfilmt wurde. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hatte Oybin als Redakteur bei verschiedenen Zeitschriften gearbeitet, gefürchtete Kritiken geschrieben und der Volkskammer der DDR angehört. Die Liste seiner Preise war lang. Bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns und dem Ausschluss von Jurek Becker, Erich Loest und Stefan Heym aus dem Schriftstellerverband der DDR hatte er auf der Seite der Herrschenden gestanden. Laut Unterlagen der Gauck-Behörde hatte er als IM, also Inoffizieller Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, Berliner Schriftsteller ausgeforscht.

      Nachfragen bei den verschiedenen Berliner Behörden ergaben, dass Oybin in einem Altenheim in Friedrichshagen untergebracht war. Sein Sohn lebte auf Kuba, seine Ex-Ehefrau, die Schauspielerin Katja Koschlick, in Karolinenhof. Mannhardt hielt es für besser, erst mit ihr zu sprechen, denn je mehr Informationen er im Vorfeld bekam, desto größere Chancen hatte er, Oybins Aussagen kritisch zu durchleuchten und ihn gegebenenfalls zu Fehlern zu verleiten. Der Sohn wäre auch nicht schlecht gewesen, aber … Mannhardt rief seinen Vorgesetzten an und fragte, ob der ihm eine kleine Dienstreise nach Havanna genehmigen würde.

      «Nicht mal eine Havanna!»

      «Aber einen Dienstfahrschein nach Karolinenhof bekommen wir doch bewilligt?»

      «Dafür sperrt der Finanzsenator mich ein. Lasst die Dame doch zu euch kommen, das spart uns Kosten.» Mannhardt murrte. «Ich bin ein altmodischer Mensch, ich sehe mir gerne das Ambiente an, in dem die Leute leben.»

      «Na schön, fahrt hin, seht aber zu, dass ihr einen Billigflug bekommt.»

      «Einen Billigflug nach Kuba?», fragte Mannhardt, denn Hartnäckigkeit war ja eine große Tugend seines Berufsstandes.

      «Einen Stehplatz in der Straßenbahn nach Karolinenhof. Bei unserem ausgeknautschten Etat sind keine Platzkarten mehr drin.»

      «Soll ich allein zu der Koschlick fahren oder Rico mitnehmen?», fragte Mannhardt.

      «Nimm ihn mit, er soll sich schließlich einarbeiten. Und euch beide wird ja die Diva nicht vernaschen, bei einem alleine aber hätte ich da größte Bedenken, nach allem, was man


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