Gefundenes Fressen. Stephan Hähnel

Gefundenes Fressen - Stephan Hähnel


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Finger über ihr Gesicht. Vorsichtig faltete er das Foto seiner Frau zusammen. Dann schob er es sorgfältig zurück in die Brieftasche. Er starrte kurz auf den Wandkalender, um noch einmal das Datum zu prüfen. Nein, er irrte sich nicht. Heute war der letzte Tag, um ihm ein Zeichen zu geben. Schlurfend ging er in die Küche und goss sich einen Kaffee ein. Dann setzte er sich müde an den Küchentisch. Erneut durchblätterte er die aktuelle Ausgabe der Berliner Allgemeinen, ohne die erwartete Kontaktanzeige zu finden. Die Worte Liebe Susi, lass mich dein Strolch sein! fanden sich weder in der entsprechenden Rubrik noch an anderer Stelle.

      Sie nahmen ihn nicht ernst. Sie hielten ihn für einen Spinner, der den Worten keine Taten folgen ließ. Aber jetzt war es mit seiner Geduld vorbei. Ihm lief die Zeit davon. Kaum zwei Monate blieben ihm noch.

      Er stand auf und ging in den Keller. Nachdenklich zog er Gummihandschuhe an und betrachtete den Pappkarton auf dem Fußboden, der wohl zu klein bemessen war. So misslang auch der erste Versuch, den blauen Müllsack samt dem unförmigen Inhalt darin unterzubringen. Egal, wie er ihn drehte und wendete, etwas schaute immer heraus. Schließlich sah er ein, dass er entweder einen größeren Karton besorgen oder den Inhalt anpassen musste.

      Wütend, dass nichts so klappte, wie er es sich gedacht hatte, tastete er mit seinen kräftigen Händen nach jenem sperrigen Ende in dem Müllsack, das nicht passen wollte. Es fühlte sich kalt an. Er atmete tief ein, hielt die Luft an und verdrehte den Hinterlauf des Welpen, bis ein knackendes Geräusch verriet, dass das Gelenk gebrochen war.

       ° ° °

      Linda Mörike saß seit 5 Uhr morgens am Ufer der Spree und angelte. Sie hatte die Abgeschiedenheit eines ehemaligen Firmengeländes im Ostteil Berlins gesucht, um in Ruhe nachdenken zu können. Angeln war das einzige Vergnügen, das sie sich zuweilen leistete, seit sie in die kleine Wohnung im Köpenicker Allende-Viertel gezogen war. Es handelte sich nicht gerade um jene Ecke, die sie sich von der Metropole erträumt hatte, aber die Miete war bezahlbar, und mit dem Fahrrad konnte sie in wenigen Minuten in die Natur radeln. Die Landschaft südöstlich Berlins erinnerte sie an ihre Heimat nahe der holländischen Grenze, das Schwalm-Nette-Gebiet. Die neue Umgebung mit den vielen Seen und stillen Wäldern hatte ihr ein vertrautes Gefühl vermittelt. Seit sie in Köpenick lebte, hatte sie allerdings die meiste Zeit mit Lehrbüchern verbracht.

      Längst war die beißfreudige Zeit vorüber. Die Chance, einen Fisch zu fangen, schien angesichts der strahlenden Sonne ziemlich gering. Lediglich eine mittelgroße Plötze hatte sich von dem Gemisch aus Teig, ein paar Tropfen Rübensirup und zerriebenen Mehlwürmern zum Anbeißen verführen lassen. Eine scheue Katze, die in Lindas Nähe gelauert hatte, machte sich gierig über die unerwartete Mahlzeit her. Trotz freundlicher Worte blieb sie auf Abstand und ließ sich nicht streicheln. Annäherungsversuche beantwortete sie mit einem drohenden Fauchen.

      Obwohl Linda das Anglerglück weiterhin verwehrt blieb, verharrte die Katze in ihrer Nähe. Die Angelpose stand regungslos an der Wasseroberfläche. Berliner Fische interessierten sich offenbar nicht für das Geheimrezept, auf das ihr Vater schwor und mit dem sie in den Flüsschen Schwalm und Nette so erfolgreich gewesen waren.

      Die Katze behielt ihre Gönnerin im Auge. Geduldig wartete sie. Ihretwegen hatte Linda nicht einfach das Angelzeug zusammengepackt und war nach Hause gegangen.

      Seit einem halben Jahr besaß sie den Abschluss als Kommissarin. Sie war nicht Jahrgangsbeste gewesen, aber eine derjenigen Studenten, denen man Biss nachsagte. Die Dozenten trauten ihr eine beeindruckende Karriere zu. Sie hatte in allen Fächern gute bis sehr gute und in ihrem Spezialgebiet – Fallanalytik – hervorragende Noten.

      Die Personalabteilung in Berlin hatte ihr nur eine unbedeutende Stellung im Dezernat für Eigentumsdelikte angeboten. Sie hätte sich also mit Taschendiebstählen, Wohnungseinbrüchen und anderen ermüdenden Vergehen gelangweilt. Eine Stelle bei der Mordkommission war angeblich nicht frei gewesen. Sie solle es noch einmal versuchen, wenn sie mehr berufliche Erfahrung gesammelt habe. Aber das war keine Option für sie. Auf ihre Nachfrage hatte man ihr unverhohlen zu verstehen gegeben, dass die Arbeit im LKA Berlin allzu oft als Sprungbrett genutzt werde, um sich später einen lukrativen Posten in einem anderen Bundesland zu verschaffen.

      Ihr Einspruch war von höchster Stelle mit dem Hinweis abgelehnt worden, dass es ihr freigestellt sei, sich in einem anderen Kriminalamt zu bewerben. Tatsächlich hatte sich die Möglichkeit geboten, in ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen, in einer Stadt namens Viersen, eine Stelle im Bereich Delikte am Menschen zu besetzen. Aber das war für sie ebenfalls nicht in Frage gekommen. Es musste Berlin sein. Sie hatte Gründe, unbedingt im LKA der Hauptstadt arbeiten zu wollen. Gründe, die nur sie kannte und über die sie mit keiner Menschenseele reden wollte.

      Der Zufall hatte es gewollt, dass sie auf ihrer Abschlussfeier der Polizeihochschule vom designierten Polizeipräsidenten einen Gefallen hatte einfordern können. Ralf Kuhnert hatte eine seiner gefürchteten langatmigen Reden gehalten, ein paar Weisheiten über den Reformbedarf der Polizei abgesondert und schließlich pathetisch behauptet, Berlin freue sich auf die künftigen Kriminalbeamten.

      Nachdem der offizielle Teil beendet gewesen war, hatte Linda ihren Vater anrufen wollen, um ihn darüber zu informieren, dass sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte. Sie wusste, dass es ihn nicht wirklich interessierte, zumal er aus seiner Enttäuschung, dass die Tochter nicht wie er Medizin studiert hatte, keinen Hehl machte. Noch immer hielt er ihre Entscheidung, Polizistin zu werden und eine Laufbahn im gehobenen polizeilichen Dienst einzuschlagen, für eine abstruse Kleinmädchenidee. Schließlich hatte sie später einmal seine Kinderarztpraxis übernehmen sollen.

      Zuerst hatte Linda damit geliebäugelt, ihm einen kurzen Brief zu schreiben. Aber das wäre feige gewesen und dem Versuch gleichgekommen, der Wahrheit aus dem Weg zu gehen. Sie hatte seine Stimme hören wollen. Vielleicht war es die Hoffnung gewesen, dass sie ein wenig Stolz enthielt, wenn er von ihrem Abschluss erfuhr.

      Linda hatte allein sein wollen, um mit ihm zu sprechen. Niemand ihrer Kommilitonen oder Dozenten hatte sehen sollen, wie es um sie bestellt war.

      Der aussichtsreichste Kandidat für den Posten des künftigen Berliner Polizeipräsidenten hatte an jenem Abend ebenfalls das Bedürfnis nach einem ruhigen Plätzchen verspürt. Allerdings hatte Ralf Kuhnert nicht telefonieren wollen. Sein Interesse hatte eher einer nonverbalen Konversation mit der Pressesprecherin des LKA gegolten. Die in Auflösung befindliche Kleiderordnung und die stürmischen Küsse der beiden hatten sich beim besten Willen nicht als Diskussion über die Richtlinien der gemeinsamen Zusammenarbeit interpretieren lassen. Der Schreck war groß gewesen, als Linda in das Büro getreten war. Bei der Suche nach einem freien Raum war die Tür zu diesem Raum die einzige unverschlossene gewesen.

      Eigentlich hatte sie sich aus der peinlichen Situation kommentarlos zurückziehen und das Ganze ignorieren wollen. Stattdessen hatte sie auf ihr Smartphone gestarrt, als gebe es eine App, die Nutzer unsichtbar machen konnte.

      Kuhnert hatte seine animalischen Bemühungen unterbrochen und die angehende Kommissarin nachdrücklich gebeten zu warten. Offensichtlich hatte er ihren Blick auf das Smartphone falsch interpretiert und befürchtet, dass die stürmische Einarbeitung der Pressesprecherin gefilmt worden war.

      Der Mann war verheiratet. Seine Frau kümmerte sich liebevoll um die drei Kinder und hielt ihm den Rücken frei. Linda hatte sich gefragt, was für den Kerl schwerer wog – die Angst, dass seine Frau von der ganzen Sache erfuhr, oder der drohende Verlust der vielversprechenden Position, die ihm Parteifreunde verschafft hatten. Sie hatte der zweiten Option den Vorzug gegeben.

      Kuhnert war sich bewusst gewesen, dass ein Film, auf You Tube gestellt, sehr wahrscheinlich das Ende seines politischen Aufstiegs bedeutet hätte. Er war Pragmatiker und stand vor dem wichtigsten Schritt seiner Karriere.

      Linda Mörike hatte ihn, einer Eingebung folgend, in dem Glauben gelassen, aufgenommen worden zu sein, zumal er für die Ablehnung ihrer Bewerbung bei der Mordkommission verantwortlich war.

      Sie hatte amüsiert beobachtet, wie die Pressesprecherin des LKA bemüht gewesen war, Contenance zu wahren. Jede Hektik vermeidend, hatte Greta Engholm ihre Haare gerichtet, mit zittrigen Händen die Knöpfe ihrer Bluse geschlossen und den


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