Gefundenes Fressen. Stephan Hähnel
geben keine detaillierten Angaben heraus. Ein Kind ist tot aufgefunden worden, die Mordkommission ermittelt in alle Richtungen. Auf Nachfragen die übliche Formulierung: Aus ermittlungstechnischen Gründen und so weiter.«
Auch dazu kritzelte Brenecke etwas in sein Heft.
»Weitere Fragen?«
Biondi schaute kurz in die Runde. »Wer kümmert sich um die Schule und den Freundeskreis?«
»Klärt das untereinander!« Morgenstern drehte vorsichtshalber seinen Zettel um, obwohl er wusste, dass auf der Rückseite nichts notiert stand. Dennoch blieb die Befürchtung, etwas Wichtiges vergessen zu haben.
»Den Besuch bei den Eltern übernehme ich.«
Die Adresse wurde über den Tisch geschoben. Morgenstern überflog die Zeilen. Die Gegend war ihm bekannt. Berliner nannten sie das Schwabenviertel. Von hier kamen die kleinlichsten Anzeigen wegen Ruhestörung, Falschparkens oder ungebührlichen Verhaltens. So richtig hatte die Seele wahrer Prenzelberger aber erst gekocht, als angebliche schwäbische Patrioten mit einer Spätzle-Attacke auf das Käthe-Kollwitz-Denkmal und einer symbolischen Maultaschenmauer unter dem Motto »Free Schabylon« ihren Anspruch auf einen Schwabenbezirk angemeldet hatten. Free Schwabylon! Allerdings hielt Morgenstern es für denkbar, dass die Idee an irgendeinem Stammtisch entstanden war und die Initiatoren sich köstlich über den medialen Aufruhr amüsierten.
»Sie kommen mit!«
Linda Mörike brauchte einen Augenblick, um Morgensterns Anweisung zu verstehen.
Bevor sie sich fragen konnte, ob der Leiter der Mordkommission sie nur mitnahm, damit sie scheiterte, erklärte er: »Ich brauche eine Frau dabei.«
° ° °
Sigrid Lucatelo kochte vor Wut. Nicht grundlos finanzierte die freie Journalistin und Fotografin die Bierkasse ihres Lieblingspunks. Ihr Deal war eindeutig: Gab es etwas Besonderes, dann hatte er gefälligst zuerst sie zu informieren.
»Du findest eine Leiche im Mauerpark«, wiederholte sie fassungslos und gestikulierte wild mit den Händen, »und kommst in deiner bekifften Birne nicht auf die Idee, mich anzurufen! Wozu habe ich dir ein Handy gegeben?«
»Ick dachte, ick muss erst meene Bürjerpflicht erfüllen«, verteidigte sich der Punk.
»Hast du ’ne Schramme, du Arsch?«
Der Punk zog unwillkürlich den Kopf ein. Obwohl Sigrid Lucatelo kleiner war als er, fürchtete er ihre Wut. Auch Bastard hielt es für besser, den Schwanz einzuziehen.
»Hast du eine Ahnung, was Fotoagenturen für exklusive Bilder zahlen?« Lucatelo raufte sich theatralisch die pinkfarbenen Haare, in die sich ein Klecks Violett verirrt hatte. Wütend trat sie gegen den Fressnapf, aus dem Bastard gierig die Reste des gestrigen Abendmahls gefressen hatte. Der Edelstahlbehälter schepperte über die Fliesen und knallte gegen den Türpfosten.
Bastard zuckt ängstlich zusammen und jaulte vorbeugend.
»Bleib ma janz ruhig! Ick hab wat viel Besseres als Fotos.« Der Punk kramte in seinem Rucksack herum und holte eine weiße Plastiktüte heraus, die mit Klebeband verschlossen war. Etwas Goldenes schimmerte durch die Folie. Genau ließ sich nicht erkennen, um was es sich handelte. »Setz dir mal lieber hin! Dit globste sowieso nich. Ick hab die Tatwaffe. Ick weeß, wie der Junge jetötet wurde. Und ick habe och ’ne Theorie. Die Bullen sind eh zu blöd dafür.«
Lucatelo war so erstaunt, dass sie erst einmal schwieg. Was immer der Kerl in der Tüte hatte, ihr Interesse war geweckt.
Die Journalistin zeigte auf den freien Küchenstuhl, nachdem sie sich selbst auf den anderen gesetzt hatte.
»Wat issen dir dit wert?«, fragte der Punk, nun nicht mehr eingeschüchtert, und schaute Lucatelo dabei mit gierigen Augen an.
»Du bist dir schon im Klaren darüber, dass das Entwenden von Beweismaterial strafrechtliche Relevanz hat?«, antwortete die mit Nachdruck und nahm sich eine Zigarette aus ihrer Packung.
»Rele … watt? Dit hab ick jefunden. Finden is doch nich strafrechtlich.«
Neugierig betrachtete Sigrid Lucatelo die Tüte, in der sich ein Gegenstand in der Größe einer Bonbontüte befand. »Okay! Ich gebe dir fünfzig Euro. Und wenn dein Fund wirklich was wert ist, gibt es noch Nachschlag.«
»Unterm Hunni mach ick’s nich. Verstehste?«
Lucatelo lehnte sich zurück und beobachtete den Punk. Bisher hatte er sie nie enttäuscht, und alle Informationen, die er geliefert hatte, waren stets wahr gewesen. Einmal hatte er ihr sogar verraten, wann die nächsten Luxuswagen abgefackelt werden würden. Der Brandstifter stand auf BMWs, 7er Reihe, bevorzugter Jahrgang 2013. »Bei denen züngeln die Flammen so schön in Blautönen«, hatte er geschwärmt, als sie ihn nach dem Grund für seine Vorliebe gefragt hatte. Die Fotos, die sie damals hatte schießen können, waren spektakulär gewesen, und die Bezahlung der Zeitungen hatte ihrem Konto ausgesprochen gutgetan. Aber noch wichtiger war, dass ihr die Szene seitdem einen Riecher nachsagte. Die Fotos hatten ihr sogar die Türen zu jenen Zeitungsredaktionen geöffnet, die bis dahin auf ihre Einsendungen nicht einmal geantwortet hatten.
»Einverstanden! Du bekommst das Geld. Zuerst will ich aber hören, was du liefern kannst.«
Der Punk rutschte aufgeregt auf seinem Stuhl hin und her, dann beugte er sich wichtig über den Tisch. Er flüsterte, als gebe es noch andere Ohren, die neugierig lauschten: »Der Junge is verjiftet worden. Ick weeß nich, warum, aber der hat garantiert von dit Hundefutter jenascht. Hab ick ooch schon mal versucht, is aber nich so meen Ding.«
Lucatelo rieb sich mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand über die Augen. Mit den Fingern der linken Hand klopfte sie auf dem Küchentisch einen bedrohlichen Rhythmus. »Das ist alles?«
»Dit Hundefutter is verjiftet! Kannste globen! Meene Theorie is: So een Scheißhundehasser hat det Zeug verteilt, und der Kleene hat einfach nur Hunger jehabt. Na, wat sachste? Is dit een Hunni wert oder nich?«
Augenblicklich arbeitete es im Kopf der Journalistin. Der Tipp war mehr wert als die einhundert Euro, aber das konnte ihr Informant nicht wissen. Es kam oft vor, dass genervte Bürger sich über Hunde und deren Hinterlassenschaften aufregten. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der so mancher Besitzer seinen Liebling frei durch den Park spazieren ließ, stieß nicht bei allen auf Gegenliebe. Selten ging aber jemand so weit, Giftköder auszulegen, um seiner Abneigung gegen die vierbeinigen Plagen Ausdruck zu verleihen. Lucatelo wusste, dass als Köder gerne mit Rattengift versetzte Fleischklößchen benutzt wurden. Fraßen die Tiere davon, starben sie elend. Ihr waren auch Fälle bekannt, in denen Köder Stecknadeln oder Teile von Rasierklingen enthalten hatten. Für die Boulevardpresse war das stets ein dankbares Thema. Natürlich endete jeder der vor Mitleid triefenden Artikel immer mit der gleichen Spekulation: Was wäre, wenn ein Kleinkind einen präparierten Köder finden und verspeisen würde? Bei der Vorstellung, wie Tausende von gepamperten Babys durch die Berliner Parks robbten, auf der Suche nach der manipulierten Bulette, hatte Sigrid laut lachen müssen. Angst war immer ein guter Berater, wenn man die Meinungsbildung beeinflussen wollte.
Die Möglichkeit, dass ein Kind Opfer eines Hundehassers geworden war, hatte alles, was eine gute Story brauchte. Prenzelberger Kind durch Hundehasser ermordet, formulierte Sigrid Lucatelo in ihrem Kopf eine erste Schlagzeile. In Gedanken sah sie die vereinte Front der Hundeliebhaber und Kollwitzplatz-Mütter die Revolution ausrufen.
»Ein bisschen dünn, deine Geschichte«, presste sie schließlich durch die Lippen und blies den Rauch über den Tisch. Gekonnt legte sie jenes bedauerliche Lächeln auf, das jeden weiteren Verhandlungsversuch im Keim erstickte. »Hat die Polizei dich vernommen?«
»Keen Wort hab ick jesagt. Jedenfalls nich darüber. Der von den Bullen war een komischer Vogel. Wollt mir glatt zum Frühstück einladen, wenn ick wat Zweckdienliches beitragen könnte.«
»Hatte der Mann auch einen Namen?«
»Morjenstern oder so. Is so een Oberkriminaler.«