Gefundenes Fressen. Stephan Hähnel
langsam aus. Der Name Morgenstern war ihr ein Begriff.
»Wat is’n nu mit Jeld? Ick hab och noch een Joker. Du wirst ma lieben.« Der Punk fingerte in seiner Hosentasche herum und zog einen Zettel heraus. Er legte ihn stolz auf den Tisch. Auf dem Stück Papier stand die Adresse der Familie Eichner. Er hatte den Absender von jenem Brief abgeschrieben, der neben dem Jungen gelegen hatte.
»Hundert! Weil du mein Lieblingspunk bist. Aber die nächste Leiche meldest du zuerst mir! Danach kannst du von mir aus deinen Freund und Helfer anrufen.«
° ° °
Die Frau, die die Tür öffnete, mochte Mitte dreißig sein. Die Sorgen der letzten Nacht hatten Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen.
Die beiden Kriminalbeamten zeigten schweigend ihren Ausweis. »Frau Eichner? Dürfen wir …«
Hinter ihr trat ihr Mann in die Tür. Auch ihm stand die Sorge um den Sohn ins Gesicht geschrieben. Zitternd legte er die Hände auf ihre Schultern. Die Frau nickte den beiden Beamten statt einer Antwort zu. Hans Morgenstern und Linda Mörike gingen langsam den Flur entlang. Sie wurden in die Küche geführt, einen kleinen, gemütlichen Raum, an dessen Wänden Urlaubsfotos und Zeichnungen hingen. Am Türrahmen konnte Morgenstern Striche erkennen, an denen jeweils ein Datum stand. Danach war Sebastian das letzte Mal vor drei Tagen gemessen worden. Morgenstern hätte gern ein Glas Wasser getrunken, aber das war jetzt unwichtig.
»Ich denke, es ist besser, wenn wir uns setzen«, begann er vorsichtig. Im selben Moment wurde ihm bewusst, dass auch jahrelange Erfahrung in einer solchen Situation nicht helfen konnte.
»Haben Sie ihn gefunden?« Die Stimme der Frau sollte fest klingen, was aber nicht gelang.
»Setzen Sie sich bitte!«
Die Frau überhörte seine Aufforderung. »Was ist mit Sebastian?« Ihre Hände umklammerten die Tischplatte. Sie schwankte.
Linda Mörike sah es und trat sicherheitshalber einen Schritt vor. Morgenstern wünschte sich weit weg. Er zögerte, als könnte sich doch noch alles als Irrtum erweisen.
Sebastians Mutter starrte ihn an. Sie wusste es. Ohne dass ein Wort über seine Lippen gekommen war. Nur glauben konnte sie es nicht. Wollte sie es nicht. Jede Faser ihres Körpers weigerte sich, das Unvorstellbare zu akzeptieren.
Morgenstern musste sie über den Tod ihres Kindes informieren. Ein offizieller Vorgang. Sein Job. »Es tut mir leid. Ich muss Ihnen die traurige Mitteilung überbringen, dass Ihr Sohn …«
Die Frau schüttelte energisch den Kopf. Sie griff in die Luft, als versuchte sie sich festzuhalten. Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie schaute ihn an, verstand nicht, wollte nicht verstehen. Ihre Augen starben, und Morgenstern hasste sich plötzlich, hasste seinen Beruf – und beendete dennoch den Satz. »Sebastian ist … er ist … tot.«
Er bemerkte zu spät, dass ihre Beine nachgaben. Linda Mörike griff nach der Frau und verhinderte, dass sie zu Boden ging. Erst jetzt reagierte ihr Mann, nahm sie in den Arm, hilflos, auch er kaum verstehend, was geschehen war. Wut und Verzweiflung ließen den Körper seiner Frau zucken. Mit geballten Fäusten schlug sie um sich, kämpfte gegen einen imaginären Feind, und als dieser nicht zu stellen war, schlug sie auf ihren Mann ein. Sie hämmerte gegen seine Brust. Er hielt sie fest, wartete, bis ihre Kraft nur noch für Tränen reichte. Vorsichtig ließ er sie auf einen Stuhl gleiten und setzte sich daneben.
Morgenstern nickte Linda Mörike dankbar zu. Er ahnte, wie es in der jungen Kollegin aussah. »Es tut uns unendlich leid …«
Die Frau reagierte nicht.
»Was ist passiert?«, fragte Sebastians Vater mechanisch. Er hielt sich tapfer, versuchte, seine Emotionen zu beherrschen und der eigenen Verzweiflung keinen Raum zu geben.
Morgenstern schüttelte den Kopf und antwortete ehrlich: »Wir wissen es nicht. Alles deutet darauf hin, dass Sebastian durch Gift zu Tode kam. Eine Obduktion wird die offenen Fragen beantworten.«
»Gift?« Der Mann schaute die beiden Beamten ratlos an.
»Hat Ihr Sohn gern experimentiert? Hatte er einen Chemiebaukasten oder Ähnliches?«
Sebastians Vater schüttelte den Kopf.
»Freunde von ihm vielleicht?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
Mühsam erhob sich Morgenstern. »Können wir uns Sebastians Zimmer ansehen?«
Der Raum war erstaunlich groß. An der linken Wand befand sich ein Hochbett. Darunter eine Arbeitsplatte, auf der Schulhefte und Bücher lagen. Alles war sorgsam aufgeräumt. Rechts neben der Tür stand ein antiker Wäscheschrank. Daneben eine alte Truhe, gefüllt mit Spielzeug. Den Fußboden bedeckte ein Teppich aus einem Wirrwarr gewebter Straßen und Plätze. Auf der anderen Seite drängten sich flache Regale mit Büchern, Spielen und Sportgeräten aneinander. An der Wand klebten einige Bilder, darunter eines von der Tour de France. Ein Mann stand in den Pedalen und kämpfte sich einen Berg hoch. An den Straßenrändern jubelten begeisterte Zuschauer. Im Hintergrund erhob sich der Gebirgszug der Pyrenäen. Es war das typische Zimmer eines Elfjährigen.
Auf der Rückfahrt schwieg Morgenstern. Mit starrem Blick konzentrierte er sich auf den Straßenverkehr. Erst als sie auf dem Hof des Landeskriminalamts anhielten und er den Motor abstellte, bemerkte er: »Sie haben gut reagiert. Es war mein Fehler. Ich hätte damit rechnen müssen, dass Sebastians Mutter zusammenbricht.« Er machte eine Pause und musterte die junge Polizistin genau, bevor er fragte: »Kommen Sie damit klar?«
Statt zu antworten, nickte sie kurz – und zu heftig.
Morgenstern ließ ihr ein paar Sekunden Zeit. Als ihr Schweigen fast unerträglich wurde, ergänzte er: »Normalerweise werden neue Kollegen sukzessive eingearbeitet. Sie wollen sofort das ganze Programm. Ihr Wunsch wurde mir mitgeteilt.«
Er legte erneut eine kurze Pause ein, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Wie auch immer Sie es angestellt haben, den direkten Weg zur Mordkommission zu nehmen – passen Sie auf sich auf! Die Fäden, die einen halten, sind manchmal dünner, als man denkt. Sie sind sehr jung. Bürden Sie sich nicht zu viel auf!«
»Sie klingen wie mein Vater«, antwortete Linda Mörike schließlich und löste den Gurt.
Morgenstern zog den Autoschlüssel, machte aber keine Anstalten auszusteigen. Ohne sie anzuschauen, ergänzte er: »Da Naivität nicht Ihr Problem ist und Selbstüberschätzung offensichtlich auch nicht in Betracht kommt, frage ich mich, warum Sie sofort in die Mordkommission versetzt werden wollten.«
Linda Mörike schwieg wieder. Sie spürte, dass ihr Chef jede ihrer Regungen genau studierte. Was hätte sie antworten sollen? Dass sie den Berliner Polizeipräsidenten mit heruntergelassenen Hosen ertappt und die Gelegenheit genutzt hatte, ihr Anliegen durchzusetzen? Dass persönliche Gründe sie dazu antrieben, im LKA Berlin zu arbeiten? Niemand wusste, was sie hier tatsächlich wollte. Der einzige Mensch, der sie hätte verstehen können, war vor Jahren gestorben. Ihre Mutter. Da war sie kaum sechzehn Jahre alt gewesen. Die Mutter hatte ihr Geheimnis nicht mit in den Tod genommen. »Ich liebe ihn, aber er ist nicht dein Vater.« Aus den letzten blassen Sätzen hatte Linda erfahren, dass ihr richtiger Vater Kommissar einer Mordkommission war, in Berlin. Aber sie hatte keinen Namen, keine Beschreibung, kein Detail, das ihr weiterhelfen konnte.
Linda Mörike öffnete die Wagentür und stieg aus. Morgenstern würde sich mit den Informationen zufriedengeben müssen, die in ihrer Akte standen.
Einen Moment lang starrte sie auf die Fassade des Gebäudes. Hinter einem der Fenster saß ein Mann, der von ihrer Existenz nichts wusste. Sie würde ihn ausfindig machen. Linda hatte sich nach dem Tod der Mutter geschworen, ihren Erzeuger zu finden.
Die erste Meldung in den Nachrichten sprach vorsichtig von einem toten Kind, das im Ortsteil Prenzlauer Berg im Hundeauslaufgebiet des Mauerparks gefunden worden sei. Der Nachrichtensprecher las den Text sachlich vor: »Die Umstände, die zum Tod des Kindes geführt haben, sind derzeit noch unklar. Die Kriminalpolizei hat die Ermittlungen aufgenommen.«
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