Wenn alle Stricke reißen. Beate Vera

Wenn alle Stricke reißen - Beate Vera


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Sie hätte doch eine Nachricht erhalten haben müssen, die sie dazu veranlasst hätte. Und wenn es so gewesen wäre, dann hätte sie sicher ihr Handy mitgenommen. Glander fand das Ladekabel in der Schreibtischschublade, verband es mit dem iPhone und schaute sich die eingegangenen Nachrichten an, nachdem das Handy ohne Passwortsicherung wieder angegangen war. Taras Mutter hatte im Laufe der letzten 24 Stunden acht Sprachnachrichten hinterlassen und zehnmal angerufen, ohne etwas auf die Mailbox zu sprechen. Es gab außerdem sechs SMS von Louise, die von Mal zu Mal mehr Ausrufezeichen hinter ihre Aufforderung an Tara setzte, sich bei ihr zu melden.

      Glander ging noch einmal nach unten zu Louise, die sofort an der Tür war. »Louise, hatte Tara ihr Handy gestern bei sich?«

      »Nein, ich glaube nicht. Ich habe sie jedenfalls nicht damit gesehen. Sie vergisst ihr iPhone aber öfter auf dem Bett, wenn sie beim Surfen oder Chatten einschläft.«

      »Danke, Louise.«

      Wenn Tara ihr Handy nicht dabeigehabt hatte, dann hatte sie unmöglich durch eine Nachricht dazu gebracht worden sein können, das Haus wieder zu verlassen. Tara Berthold hatte es offenbar nicht bis in die Wohnung geschafft. Also musste jemand sie im Hausflur abgefangen haben.

      Als Glander gegen sechzehn Uhr wieder in das Wohnzimmer der Bertholds trat, erwartete ihn dort Prof. Dr. Berthold.

      Heinz Berthold, ein drahtiger Mann Anfang sechzig mit graumeliertem kurzgeschnittenem Haar und einer schmalen, spitzen Nase, hatte ein hageres Gesicht und unruhige Augen, die ihm den Anschein verliehen, ständig auf der Hut zu sein. Oder auf der Suche nach einem besseren Investment. Er streckte Glander die Hand entgegen, ohne die Spur eines Lächelns auf seinen schmalen Lippen.

      Glander schüttelte die Hand mit einem gewissen Unwohlsein.

      »Ich bin Professor Doktor Heinz Berthold. Was haben Sie bis jetzt in Erfahrung bringen können?«

      »Es ist gut, dass Sie da sind, Professor Berthold. Ich möchte Sie bitten, Ihrer Frau noch einmal dringend zu raten, den Fall der Polizei zu übergeben.«

      Berthold sah ihn interessiert an. »Möchten Sie etwa kein Geld an uns verdienen, Herr Glander?«

      Glander widerte diese Frage an. Er hatte größte Mühe, die Abneigung, die er unwillkürlich gegen diesen Mann empfand, für den Moment zu verdrängen. Betont sachlich antwortete er: »Die Polizei hat erheblich mehr Personal als unsere Agentur, was den entscheidenden Unterschied ausmachen kann.«

      Bertholds Antwort war deutlich. »Es tut mir leid, aber Maria wünscht keine Polizei, und auch ich werde ihre Meinung nicht ändern können. Mir ist im Übrigen wie ihr an einem Höchstmaß an Diskretion gelegen. Die Öffentlichkeit darf auf keinen Fall etwas erfahren. Sie werden sich also um die Suche nach Marias Tochter kümmern!«

      Glander nickte. Er erkannte Granit, wenn er darauf biss. »Professor Berthold, gab es Probleme mit Tara? Hatten Sie öfter Streit? Mädchen in dem Alter können ja ganz schön schwierig sein.«

      Berthold dachte nicht im Traum daran, die Brücke zu betreten, die Glander ihm gebaut hatte. »Tara ist nicht wie andere Mädchen in ihrem Alter. Sie ist klug und fokussiert. Sie wird ein ausgezeichnetes Abitur machen und etwas Ordentliches studieren.«

      »Was ist mit ihrer Liebe zum Tennis?«

      »Was soll damit sein? Das Tennisspiel ist ein Hobby, mehr nicht. Wenn sie studiert, wird sie zwangsläufig damit aufhören. Ich sagte ja bereits, sie ist sehr fokussiert.«

      Papa saß bei Taras Turnieren mit Sicherheit nicht in der ersten Reihe. Glanders Eindruck stimmte bislang mit Louise Schneiders Beschreibung ihres Vermieters vollkommen überein. »Professor Berthold, können Sie mir etwas über Ihre Nachbarn erzählen?«

      Dem Mann gelang es tatsächlich, seine unsympathische Art noch zu steigern. »Was sollen unsere Nachbarn damit zu tun haben? Meinen Sie etwa, einer von denen versteckt Tara in seinem Schlafzimmerschrank?«

      »Ich meine gar nichts, ich möchte mir nur einen Eindruck von Taras Umfeld verschaffen, und dazu gehören die Mitbewohner dieses Hauses. Louise und ihren Vater habe ich bereits kennengelernt.«

      »Ein schönes Paar, finden Sie nicht?«, erwiderte Berthold abschätzig. »Die beiden wohnen seit neun Jahren im Souterrain. Sie kommen aus dem Wedding.« Berthold sah aus, als wische er sich gerade Dreck von der Schuhsohle.

      Glander musste sich jetzt größte Mühe geben, sich seine Aversion gegen diesen überheblichen Mann nicht anmerken zu lassen.

      Der Professor fuhr fort: »Die Mutter war schwere Alkoholikerin und starb an den Folgen von zu viel schlechtem Fusel. Schneider wollte einen Neuanfang für Louise, eine Verbesserung des Umfelds, wenn Sie so wollen. Das war auch dringend nötig. Louise war eine echte Rotzgöre. Ich war nicht angetan von ihr, als sich ihr Vater und sie hier vorstellten. Tara hat aber so lange gequengelt, bis ich nachgab und den beiden die Wohnung vermietete. Seitdem sind Tara und Louise unzertrennlich. Tara hängt ständig bei den Schneiders herum.«

      »Was macht Herr Schneider beruflich?«

      »Er fährt Taxi. In grauer Vorzeit hat er Philosophie studiert, was ihn sicherlich bestens auf seine jetzige Tätigkeit vorbereitet hat.« Berthold schüttelte den Kopf und sah Glander mit zusammengekniffenen Lippen an. »Es ist mir ein Rätsel, warum Menschen so weltfremdes Zeug studieren und sich dann wundern, dass ihre unnütze Weisheit nicht gefragt ist. Aber Taxis müssen ja auch gefahren werden.«

      »Das können Sie bestimmt besser beurteilen als ich«, konnte sich Glander nicht verkneifen zu erwidern. »Wer wohnt noch im Haus?«

      »Die Obentrauts, ein älteres Ehepaar, beide in Rente. Sie haben die Wohnung im Souterrain gegenüber den Schneiders und wegen der Behinderung von Frau Obentraut einen eigenen Eingang ohne Treppen. Frau Obentraut ist todkrank. Ich kenne Herrn Obentraut aus unserem Corps, weshalb ich ihm und seiner Frau ein wenig unter die Arme greife. Wir selbst bewohnen dieses Stockwerk und das darüber. Ganz oben sind die Gruhner – Sekretärin bei BMW oben in Moabit, arbeitet viel, ist selten hier, verdient extrem gut für eine Tippse – und der Lemke, Lehrer für Deutsch und Geschichte am Albrecht-Berblinger-Gymnasium hier in Lichterfelde. Tara hat bei ihm Deutschleistungskurs. Ein guter Mann, ich kenne ihn wie Herrn Obentraut aus der Prudentia, der schlagenden Verbindung der Uni Heidelberg. Er hat Kultur und ist eine echte Bereicherung für das Haus.«

      Glander war weit davon entfernt, sich von dem zur Schau gestellten Snobismus des Chirurgen beeindrucken zu lassen. Menschen wie Berthold lebten in ihrer eigenen Welt, die von Statusgehabe, Geld und dem Umgang mit Gleichgesinnten bestimmt war. Die Realität gewöhnlicher Menschen konnten sie gar nicht mehr beurteilen, maßten sich aber stets eine Meinung darüber an. Glander beschloss, dem Professor ein wenig den Tag zu versauen. »Doktor Berthold, Ihre Frau hat mir von Ihrem, sagen wir mal, eher unterkühlten Verhältnis zueinander erzählt. Warum lassen Sie sich nicht scheiden?«

      Berthold schwieg und blickte durch das große Fenster hinaus in den Garten. Schwere, dunkle Wolken hingen drohend am Himmel, und die Baumwipfel bogen sich in dem starken Wind, der aufgekommen war. Der Professor wandte sich wieder Glander zu. »Herr Glander, wissen Sie, was ich wert bin? Ich leite seit fast zwanzig Jahren als Chefarzt die Neurochirurgie, ich bin ein international begehrter Redner und Dozent. Letzte Woche war ich in Shanghai, um eine komplizierte Operation durchzuführen. Meine Eltern waren wohlhabende Leute, und ich habe unser Vermögen stetig vermehrt. Seit jeher gehört meiner Familie dieses Haus, ich bin hier aufgewachsen. Außerdem besitze ich weitere Mietshäuser in der ganzen Stadt. Maria lebte mit ihrer Familie in einem Slum in Manila, bevor ihre große Schwester als Katalogbraut nach Deutschland kam und ihre zwölf Jahre jüngere Schwester kurz darauf nachholte. Marias Schwager ermöglichte ihr eine Ausbildung an der Hanns-Eisler-Schule, sie erlernte dort das Cellospiel. Als ich sie auf einem Konzert kennenlernte, verlor ich meinen Verstand vor Lust und Liebe. Sie hätten sie hören müssen! Wir heirateten an ihrem achtzehnten Geburtstag. Einen Ehevertrag haben wir nicht, und ich bin nicht gewillt, ihr die Hälfte meines Vermögens zu überlassen – dafür, dass sie mich so hintergangen und der Lächerlichkeit preisgegeben hat.«

      »Kümmert es Sie gar nicht, dass Tara in solch unterkühlten Verhältnissen


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