Wenn alle Stricke reißen. Beate Vera

Wenn alle Stricke reißen - Beate Vera


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Er wies sich aus. »Sind Sie Louise Schneider?«

      »Ja, das bin ich. Was ist denn passiert?« Plötzlich riss sie Augen und Mund weit auf. »O Gott, ist was mit Tara? Ich versuche schon den ganzen Tag, sie zu erreichen, aber sie meldet sich nicht.«

      »Warum sind Sie nicht einfach nach oben gegangen? Taras Mutter versucht seit gestern Abend, mit Ihnen Kontakt aufzunehmen.«

      Louise blickte die Treppe hinauf, und ihre Miene verdunkelte sich. »Taras Eltern mögen mich nicht. Frau Berthold hat keine Nachricht hinterlassen, deshalb habe ich nicht zurückgerufen. Ich dachte, es sei nicht wichtig. Gestern Abend bin ich mit meinen Kopfhörern eingeschlafen und habe nichts an der Tür gehört, unsere Klingel ist schon lange kaputt. Kommen Sie doch bitte herein! Mein Vater ist in seinem Zimmer, ich sage ihm Bescheid. Gerade durch geht es ins Wohnzimmer.«

      Glander durchquerte den Flur und trat in einen freundlichen, in Terracottatönen gehaltenen Raum. Kurz darauf betrat Louise das Wohnzimmer, dicht gefolgt von einem stämmigen, untersetzten Mann um die fünfzig, dessen Haare zu lang waren für seine auffallenden Geheimratsecken.

      Er stellte sich Glander vor. »Jürgen Schneider. Bitte setzen Sie sich doch! Kann ich Ihnen etwas anbieten?«

      »Danke, nein, das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich will Sie nicht länger aufhalten als nötig. Zuerst muss ich Sie ersuchen, dieses Gespräch für sich zu behalten. Taras Eltern ist an größtmöglicher Diskretion gelegen. Ihre Tochter ist verschwunden.«

      Louise blickte auf den Boden, ihr Vater legte schützend seinen Arm um ihre Schulter und nickte, als er antwortete. »Selbstverständlich, Herr Glander. Wie können wir Ihnen helfen?«

      »Louise«, Glander wandte sich zu dem Mädchen, »Taras Mutter sagt, Sie haben gestern mit der Theater-AG in der Schule geprobt.«

      »Das stimmt. Die AG findet jeden Freitag zwischen siebzehn und neunzehn Uhr statt. Wir proben gerade Der zerbrochne Krug von Kleist. Tara ist die Eve, ich gebe die Brigitte. Nach der Probe sind wir zum Pavillon in den Bäkepark und haben alle ein bisschen was getrunken. Tara verträgt keinen Alkohol. Ich glaube, das liegt an so einem seltenen Enzymmangel. Sie trinkt einen Schluck und ist gleich richtig hacke … Entschuldigung, ich meine betrunken. Max hatte was besorgt.« Das Mädchen zögerte.

      Glander sprang ein. »Max? Ist das Taras Schwarm?«

      »Ja, Max Kleinert aus dem dritten Semester. Tara steht total auf ihn, aber der kriegt das nicht mit, obwohl es wirklich nicht zu übersehen ist. Max ist ein lässiger Typ, der macht immer sein eigenes Ding.«

      »Max hatte also was zu trinken besorgt.« Glander tippte Max’ vollständigen Namen in sein Handy ein und schickte ihn an Merve.

      »Wodka und Energy Drinks. Die Jungs haben die Flasche ziemlich schnell leer gemacht. Ich mag keinen Alkohol und habe nur einen Anstandsschluck getrunken. Dann wollte ich gehen.« Louise sah ihren Vater an, der ihr liebevoll zulächelte.

      Glander konzentrierte das Gespräch wieder auf das Wesentliche. »Was genau ist im Park passiert, Louise? Wer war noch alles dabei?«

      »Tobi Verheugen und Leander Horten, beide aus dem dritten Semester. Sie hängen immer zusammen mit Max ab. Annalisa war auch da, Annalisa Gebauer. Sie, Tara und ich sind zusammen im Deutschleistungskurs.«

      Glander schickte auch die Namen der anderen Jugendlichen an Merve.

      Louise fuhr inzwischen fort: »Also, Tara war richtig betrunken. Alle dachten aber, sie tue nur so. Das glaubt ja keiner, dass man so schnell blau wird. Die Jungs wurden dann unangenehm, und ich hab mir Tara geschnappt und bin mit ihr nach Hause gegangen.«

      »Inwiefern wurden die Jungs unangenehm?«

      »Ach, die waren einfach blöd! Leander hat die ganze Zeit Annalisa angemacht. Als die nicht darauf eingegangen ist, hat er Tara verarscht, die davon gar nichts mehr mitbekam. Max hat den Wodka nur stumm in sich hineingekippt. Tobi und Leander wurden dann richtig anzüglich, sie wollten Strippoker bei Tobi spielen und so was. Das war mir zu doof, und Tara und ich sind gegangen. Tara hatte ganz schön Schlagseite, wir haben für den Nachhauseweg ewig gebraucht. Ich habe mich im Hausflur von ihr verabschiedet und bin zu uns reingegangen.«

      »Wann war das in etwa?«

      »So gegen zehn, denke ich. Vielleicht auch ein wenig später. Genau kann ich es nicht sagen, meine Uhr braucht eine neue Batterie, und ich hab mich noch nicht darum gekümmert.«

      »War sonst noch jemand im Treppenhaus? Oder hat Tara vielleicht eine Nachricht auf ihrem Handy erhalten?«

      »Nein, ich habe nichts mitbekommen. Ich habe angenommen, dass Tara nach oben in die Wohnung geht. Herr Glander, ich mache mir große Vorwürfe. Ich hätte sie hochbringen müssen, sie war doch so betrunken! Aber sie hat mich weggeschubst und gesagt, sie sei kein kleines Kind und ich solle mich ver …, ich solle sie in Ruhe lassen.«

      »Sie trifft keine Schuld, Louise! Sie haben Tara immerhin sicher nach Hause gebracht, das war doch schon ein ordentlicher Freundschaftsdienst.«

      Louises Vater schaltete sich ein. »Was, denken Sie, ist mit Tara passiert?«

      »Ich kann Ihnen im Moment nicht mehr sagen, als dass sie verschwunden ist. Louise, hat Tara Probleme zu Hause oder in der Schule?«

      Louise zögerte. »Na ja, in der Schule läuft alles super, sie hat die besten Noten und muss sich dafür nicht mal übermäßig anstrengen. Mit ihrer Mutter versteht sie sich sehr gut, aber ihr Vater ist ein echter Kotzbrocken.«

      Jürgen Schneider mischte sich ein. »Lula, das kannst du doch nicht sagen! Professor Berthold war immer sehr gut zu uns.«

      Louise sah ihren Vater an. Für einen kurzen Moment flackerte Zorn in ihren Augen auf. »Klar kann ich das sagen! Er ist total gemein zu Tara. Du weißt doch auch, wie der sein kann!« Wieder zu Glander gewandt, fügte sie an: »Aber deswegen haut man ja nicht gleich von zu Hause ab. Außerdem hätte sie mir das gesagt. Ich bin ihre beste Freundin.«

      »Ist Ihnen in der Nähe des Hauses oder auf dem Schulweg irgendjemand aufgefallen? Ist Ihnen mal jemand gefolgt? Oder hat Sie angesprochen?«

      »Nein, ich habe nichts Ungewöhnliches bemerkt.«

      Glander zog seine Visitenkarte hervor. »Bitte sprechen Sie mit niemandem über die Angelegenheit, solange wir nichts Genaueres wissen! Sollte Ihnen etwas auffallen oder sollte sich Tara bei Ihnen melden, rufen Sie mich bitte an, egal, zu welcher Uhrzeit! Hier ist meine Karte.«

      Louise steckte sie in die Känguruhtasche ihres Sweatshirts, das den Aufdruck einer teuren Marke trug.

      Glander verabschiedete sich und ging wieder hinauf zu Maria Berthold.

      Es kostete Tara große Überwindung, den Eimer zu benutzen, der ihr für ihre Notdurft hingestellt worden war. Sie sehnte sich nach einem heißen Bad mit ihrem Lieblingsbadegel. Tara dachte an ihre Mutter, die sich sicherlich große Sorgen machte, und an ihren Vater, der bestimmt wie immer im Krankenhaus war. Dennoch versuchte sie, ruhig zu bleiben und nicht über ihre Situation nachzudenken. Mit diesem Mechanismus war sie schließlich bestens vertraut. Dinge auszublenden und sich aus der Gegenwart wegzudenken gehörte zu ihrer Überlebensstrategie. Sie griff nach der Taschenlampe und dem Buch und las im Palast der Winde weiter. Dabei dachte sie an Adam, mit dem sie seit einigen Wochen chattete, und fragte sich einmal mehr, wie er wohl aussah. Er war so verständnisvoll. Sie hatte das Gefühl, ihm alles sagen zu können. Vielleicht fände sie ihn sogar noch toller als Max. Tara stellte sich vor, wie einer der beiden zu ihrer Rettung kam, sie in seine Arme nahm und an einen sicheren Ort brachte.

      Glander war unzufrieden mit sich. Er spürte, dass er ein entscheidendes Detail übersehen hatte, kam aber nicht darauf, was es sein konnte. Er ging in Taras Zimmer, um sich selbst darin umzusehen. Der Raum wirkte unpersönlich und stillos im Vergleich zum Rest der eleganten Berthold’schen Wohnung. Als Glander die Kissen auf dem Bett anhob, fand er Taras iPhone. Es steckte zwischen der Matratze und dem Bettrahmen,


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