degenerama. Jek Hyde

degenerama - Jek Hyde


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ihre Wangenmuskeln nicht gebrauchte, den perfekt geformten, strahlend blauen Augen und dem von Natur aus so perfekten Blond. Sie wäre so, wie sich ihre Eltern eine perfekte Tochter vorstellen, einfach makellos und schön, ohne jeden Eingriff. Glatte Haut, frei von jeder Spur eines Leberflecks. Keinen einzigen Pickel hatte sie in ihrem ganzen Leben gehabt, nicht einmal Mitesser während der Pubertät. Die Nase war, wie ein Maler sie nicht besser hätte malen können. Sie hatte straffe Brüste mit dem Hauch einer Tropfenform. Selbst die Form ihrer Vagina war sicher vorgeplant.

      Unverwandt griff sie in ihre Tasche und zog den Schlüsselbund heraus, an dem ein Barbiekopf baumelte. Er hatte einen Irokesenschnitt wie sie und die gleichen Narben, die sie mit einem Messer in das glatte Plastik geritzt, geradezu gemeißelt hatte. Sie wollte wissen, wie sie aussehen würde.

      Fast träumerisch dachte sie an den Tag, an dem sie ihre Narben mit einem roten Filzstift vorgezeichnet hatte, fast wie ein echter Chirurg vor der Operation. Wie sie nackt vor dem Spiegel gestanden hatte und das Blut über ihr Gesicht gelaufen war. Wie sie es immer wieder abgewaschen hatte, um die feinen und nach dem dritten Waschen verblassenden Filzstiftlinien zu sehen. Wie schmerzhaft, aber auch befriedigend es gewesen war. Wie ihr ganzes Bad voller Blutspritzer gewesen war.

      Geburten sind immer schmerzhaft, hatte Pia gedacht. Und gerade eben habe ich mich selbst neu geboren. Ich habe mich entschieden, niemand sonst.

      Kann man bei einem Spermium, das immer in Richtung Eizelle strebt, von einem unbedingten Willen zum Leben ausgehen oder muss man es als natürlichen Reflex sehen?

      Pia fuhr ihre Narben mit den Fingern nach, sie kamen ihr noch so groß vor, dabei waren sie fast verheilt und bald würden sie kaum noch zu sehen sein, so, als würde sich ihr Gesicht, egal was sie damit anstellte, immer zu dem Barbiegesicht zurückverwandeln.

      Zufällig sah sie zur Tür, wo ein asiatisches Mädchen, das ungefähr in ihrem Alter war, hineingelaufen kam – Pia vermutete ganz richtig, dass es die Tochter der beiden war –, gefolgt von einem dünnen Mann mit ausdruckslosem Gesicht, der etwas von dem berechnenden Wesen eines entlassenen Mathelehrers hatte.

      Noch während genau diese Gedanken hinter ihrem vernarbten Gesicht entlangglitten, rief Frau Wo: „Doktor Steinmann ist jetzt da!“

      Pia stopfte ihren Schlüssel im Gehen in die Tasche zurück und ging auf David zu. „Sie sind Doktor Steinmann?“, fragte sie etwas nervös.

      Er sah sie abschätzend an und Pia konnte nicht sagen, was in seinem Kopf vorging, dann sagte er ruhig: „Ja. Was kann ich für Sie tun?“

      „Ich habe gehört, dass Sie hier Ihre Praxis haben“, erwiderte Pia leise.

      „Ja, ich nehme an, Sie wollen sie sehen?“

      „Ja.“

      „Kommen Sie mit“, meinte David und zog an ihr vorüber.

      Pia durchströmte eine gewisse Vorfreude, während sie ihm durch die Hintertür folgte, wo sie in einem dunklen Treppenhaus mit einer alten Holztreppe landeten. Obwohl die Wände weiß gestrichen waren, wirkte es durch die klobige, dunkle Treppe finster. Sie gingen an ihr vorüber und David schloss die hinterste Tür auf. Dahinter befand sich ein einfacher, weiß gefliester Raum. Die Fliesen wirkten alt, als würden sie hier schon lange hängen. Im Boden war ein eingelassener Abfluss und ein alter Zahnarztstuhl stand in der Mitte mit einem runden Hocker daneben. Ein kleiner, alter Schrank befand sich an der Wand und auf der mit dem Stuhl verbundenen Ablage lagen Instrumente, die von einem grünen Tuch bedeckt waren.

      „Das ist es“, meinte er. „Ich nehme an, Sie wissen bereits, was Sie wollen?“

      „Woher wissen Sie, dass ich kein Bulle bin?“, meinte Pia; es war ihr einfach in den Sinn gekommen.

      „Weiß ich nicht“, meinte David. „Sie sehen nicht aus wie ein verdeckter Ermittler.“

      „Wie sehe ich denn aus?“, lächelte Pia.

      „Wie jemand, der sehr unzufrieden mit seinem Gesicht ist.“

      „Und aus dem Grund bin ich hier. Könnten Sie mir die Cuttings professionell nachziehen? Ich meine so, dass sie vernarbt bleiben?“ Spielerisch zeichnete sie mit dem Finger eine ihrer Narben nach.

      „Sicher“, sagte er.

      Es war ein Gedanke, mit dem Pia schon lange gespielt hatte, aber dessen Selbstdurchführung sie einfach zu sehr ängstigte, und nun sprach sie ihn einfach aus: „Sagen Sie, könnten Sie dafür sorgen, dass die Narben hier offen bleiben?“ Sie deutete mit beiden Zeigefingern auf ihr verlängertes Lächeln.

      „Definieren Sie ‚offen blieben‘“, forderte er Pia auf.

      „Na ja, dass mein Mund so groß wie die Narben ist?“

      „Nein“, meinte David.

      „Weil?“, fragte Pia energisch nach.

      „Weil ich dabei Muskeln durchtrennen müsste, die ihren Kiefer halten. Er würde Ihnen einfach auf die Brust sacken. Ich bin hier, um Gesichter nach Wünschen zu verändern, nicht sie unbrauchbar zu machen. Es ist wichtig, dass jede Ihrer Eigenschaften erhalten bleibt. Es gibt kein Gesetz gegen das, was ich tue, nicht, solange alle Gesichter nutzbar bleiben.“

      „Haben Sie viele Kunden?“

      „Hält sich in Grenzen. Vielleicht steht eine neue hier vor mir.“

      Amüsiert kicherte Pia. „Sie haben kein Problem damit, Schönheit zu zerstören?“

      „Ich verändere. Schönheit ist ein dehnbarer Begriff.“ Pia musste einfach grinsen. Es war, als wäre hier einfach ein Messias ihrer Generation aufgetaucht, der ihnen das abnahm, was sie sonst selbst taten. Ein Künstler in Selbstzerstörung an Fremden.

      „Aber die Narben würden Sie nachziehen?“

      „Scarifizierung ist einfach. Es ist keine Übung des Könnens, sondern der Ausdauer“, meinte David.

      Wenn ihr Vater das wüsste. Wenn er wüsste, dass hinter seinem Rücken ein anderer Chirurg das Gegenteil von ihm tat, Gesichter in Fratzen zu verwandeln, während er so eifrig damit beschäftigt war, Fratzen in Gesichter zu verwandeln. Wenn ihr Vater Gott wäre, dann wäre Doktor Steinmann der Teufel. In ihr brodelte eine tiefe innere Freude, geboren aus der Verehrung einer Leitfigur ihrer Generation.

      „Wahnsinn“, sagte Pia.

      „Kann gut sein“, erwiderte David.

      „Sie verstehen nicht, oder?“

      „Nein.“

      „Das ist einfach total irre. Sie sind eine Ikone unserer Subkultur, die noch kaum jemand kennt. Sie zerstören Gesichter für uns, das ist einfach irre.“

      David regte keine Miene. „Dreißig Euro“, meinte er.

      Pia schüttelte den Kopf und lächelte in sich hinein. Sie stand hier jemandem gegenüber, den bald vielleicht viele Amateurchirurgen imitieren würden. Sie war ergriffen von der gleichen Euphorie, die Spade so erfüllt hatte.

      Vielleicht war es eine dumme Idee, vielleicht war es die übertriebene Verehrung einer noch unbekannten Ikone, doch so, wie sie die Entscheidung zu ihren Narben innerhalb eines Tages getroffen und auch ihr Haar innerhalb eines Tages abgeschnitten hatte, so sagte sie nun einfach: „Ich gebe Ihnen was Besseres.“

      „Ich nehme nur Bares. Ich bin kein Hehler“, gab David kühl von sich.

      „Ich kenne keinen Hehler, der mich annimmt.“

      Abschätzend sah David sie an. Wahrscheinlich ahnte er, worauf sie hinauswollte.

      „Fick mich.“

      David sah sie noch einen Moment kühl an und fragte schließlich: „Warum sollte ich?“

      Pia lachte und drückte ihre Hände gegen ihre Brust: „Ich bin ein Groupie!“ Sie musste einfach lachen, da diese Situation zu irre war.

      „Nein“, sagte David. „Ich nehme nur Bares.“


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