Winter. Dave Nocturn
Erich spuckte auf den Boden. »Ja, klar. Schuld sind immer die anderen. Dass ich nicht lache! Ihr scheiß Wissenschaftsheinis habt Gott gespielt, und jetzt haben wir die Hölle auf Erden.« Erich trat einen weiteren Schritt an den Zaun heran und zielte sorgfältig mit der Waffe auf das Gesicht des Doktors. »Beweg dich nicht, du Arsch. Dann geht es schnell für dich.«
Erich spannte den Hahn seiner Waffe.
***
»Wo bleiben die bloß alle?« Gora tigerte im Mittelgang des Busses hin und her und murmelte die Frage immer wieder vor sich hin.
»Jetzt setz dich hin, Mensch! Du machst uns alle wahnsinnig.« Eine resolute, ältere Frau sah von ihrem Platz aus böse zu Gora.
Der blieb vor ihr stehen. »Wir wissen nicht, was da draußen ist. Vielleicht sind die vier schon längst Zombies und bereits auf dem Weg hierher, mit ihren neuen Freunden im Schlepptau. Wir sitzen hier wie auf einem Buffettisch. Nur sind wir das Buffet.«
»Getz mach ma halblang, Jungchen«, kam es von Lemmy, der scheinbar dösend auf dem Fahrersitz gesessen hatte. »Wennste mich fragen tust, die Leutz ham wat Interessantes entdeckt und sind beim Erforschen dran. Lass ma’ gut sein un’ hau dich ’nen bisschen aufs Ohr.«
Gora funkelte den ehemaligen Roadie an, doch der starrte nur zurück. Langsam wichen Angst und Wut aus Goras Miene.
»Meinst du, Lemmy? Dass sie auf etwas gestoßen sind? Nahrung oder Unterkunft vielleicht?«
Lemmy hob die Schultern. »Gut möglich. Schau mer mal.«
Gora seufzte und setzte sich auf die letzte Bank des Busses. Er lehnte den Kopf gegen die Scheibe und schloss die Augen. Seit ihrer Flucht aus Schwarmstein hatte er keinen wirklichen Schlaf mehr gehabt, und immer wieder drängten die Bilder der Flucht aus Bonn vor sein inneres Auge. Das Grauen schien kein Ende nehmen zu wollen, und das Gefühl, ständig in Bewegung sein zu müssen, wurde von Tag zu Tag übermächtiger.
»Du hast eine schwere Zeit, was, Jungchen?«
»Wa…«
»Ruhig, Jungchen. Ich bin’s nur, der olle Lemmy. Du machst ganz schön wat durch, odda?«
»Ich … wundert es dich?«
»Nö, geht uns nämlich allen so.«
»Ich weiß. Ich habe das Gefühl, ich muss ständig laufen – weglaufen, irgendwo hin. Ich will hier nicht sein. Ich will die Bilder nicht mehr in meinem Kopf, die Schreie, den Geruch. Ich will doch nur Frieden. Und ich will meine Familie wieder.«
Tränen rannen über Goras Wangen, und Lemmy sah ihn an. Er legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Wir alle haben jemanden oder etwas Kostbares verloren, mein Sohn. Wir alle sind auf der Flucht, und für uns alle gibt es scheinbar keine Hoffnung. Doch der Meister wird uns zur Zuflucht bringen. Wir werden Ruhe finden und Sicherheit.«
»Deine Stimme …«
»… solltest du dir anhören, Gora. Glaube an die Hoffnung. Sie ist alles, was wir noch haben. Glaube daran.«
Goras Tränen versiegten. Lemmys Hand war warm und ihr Gewicht auf Goras Schulter seltsam tröstlich. Die Stimme des grauhaarigen Mannes neben ihm auf der Bank drang viel weiter als nur bis zu Goras Ohren, und die Worte hüllten die Angst und Verzweiflung, die in ihm wütete, in einen Kokon aus Trost. Gora nahm einen tiefen, zitternden Atemzug.
»Geht’s, Jungchen?«
Gora nickte. »Danke.«
Lemmy blickte noch einen Moment lang tief in die Augen des dunkelhäutigen Mannes, dann nickte er ebenfalls und stand auf. »Denk daran, Gora: die Hoffnung.«
Lemmy drehte sich um und ging wieder an seinen Platz. Er setzte sich in den Fahrersitz und lehnte den Kopf zurück. Nach ein paar Sekunden erklang lautes Schnarchen.
Gora sah noch eine Weile aus dem Fenster, dann fielen seine Augen zu.
***
»Erich, nein!«
Der Angesprochene zuckte zurück. Martins durchdringender Schrei ließ die Haare auf Erichs Armen vibrieren.
»Was … was soll das?«, fragte er völlig verdattert.
Martin trat an den Zaun und stellte sich so davor, dass kein freies Schussfeld auf den Doktor mehr möglich war. »Wir sollten Dr. Steins zu Ende anhören. Ich glaube, er hat uns etwas sehr Wichtiges zu sagen.«
»In der Tat. Es gibt da etwas, dass für Sie von größtem Interesse sein wird.«
»Machen Sie es nicht so spannend!«, fauchte Sandra.
»Wir erschießen ihn und sprengen das Schloss auf. Der hält uns doch nur hin«, grollte Erich.
»Nein, Herr Kraft, wirklich nicht.« Steins hatte abwehrend beide Hände erhoben. »Sie müssen wissen, es gibt Hoffnung auf ein Heilmittel!«
Kapitel III
Gibt es ein Leben vor dem Tod?
Gabi und Frank waren mit dreihundert der am besten erhaltenen Exemplare ihrer reanimierten Gefolgschaft aufgebrochen, um der immer schwächer werdenden Spur, die Gabi noch mit ihren alten Freunden verband, zu folgen.
Die Aktion in dem gut erhaltenen Dorf hatte zwar für viel Nachwuchs unter den Zombiesoldaten gesorgt, aber der Preis war hoch gewesen. Die Präsenz, die Gabi bisher immer genau spürte, solange Sandra und ihre sogenannten Pilger nicht allzu weit entfernt waren, begann zu verfliegen. Sie hatten viel Zeit benötigt, um das Dorf zu erreichen und dort erst einmal reinen Tisch zu machen. Am Ende hatte sich Frank allerdings gefragt, wie es diese lausigen Dörfler so lange geschafft hatten, die ständigen Attacken der umherstreunenden Zombies zu überstehen.
Ihm kam die Aufgabe, die ihm Gabriel gestellt hatte, in den Sinn: »Bring mir so viele Seelen, wie du kannst. Vergrößere deine Armee« Genau das hatte er sehr erfolgreich in diesem kleinen spießigen Kaff Schwarmstein getan – und davor auch schon. Die Marodeure, die so plötzlich aufgetaucht waren und sich hatten einen Spaß aus dem Gemetzel an Reanimierten machen wollen, waren ihren speziellen Fähigkeiten natürlich nicht gewachsen gewesen. Nun schritten Graf Vlad, der ehemalige Anführer der Russen-Mafia-Gang, und sein Fahrer Alfred direkt hinter den beiden Totlebenden an der Spitze der eigenartigen Truppe aus verfaulten und kürzlich reanimierten Zombies. Frank spürte bei Vlad, dass er, ähnlich wie Hausmeister Krause damals in Köln, noch etwas mehr Grips in seinem toten Hirn bewahrt hatte. Es konnte nicht schaden, wenn ihre Toten ein wenig mitdachten.
Bei dem Gedanken musste Frank grinsen.
Innerlich verfluchte er seinen doch nicht so mächtigen Körper. Sicher, er hatte Macht über die echten toten Zombies, egal wie agil ihre Murmel noch war. Doch er hatte auch erfahren müssen, dass er nicht alles konnte. Nur ungern erinnerte er sich daran.
Natürlich hatte er versucht, nachdem Vladimirs Truppe aufgerieben war, mit Hilfe der erbeuteten und nun eigentlich nutzlosen Fahrzeuge ihre Marschgeschwindigkeit zu erhöhen. Immerhin waren er und Gabi ja bei vollem Bewusstsein. Also setzte er sich ans Steuer eines Jeeps und befahl einem Haufen seiner Soldaten aufzusitzen. Wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht immer noch von seinem Hass auf Sandra angestachelt worden wäre, hätte er sich bei den folgenden Szenen totgelacht. Die Ghoule staksten zum Wagen und schienen einfach in ihn hineinlaufen zu wollen. Stumpf stampften sie auf der Stelle, ihre Körper drückten gegen das Fahrzeug. Und da zu diesem Zeitpunkt deutlich mehr auf der Fahrerseite versuchten, dem Befehl zu folgen, geriet der Jeep in Gefahr, umgekippt zu werden. Im letzten Moment griff Frank ein und stoppte den Versuch.
Da ahnte er bereits, dass es schwierig werden würde, denn komplexe Vorgänge bedurften anscheinend auch komplexer Befehle. Aber die hatte er bisher nicht geben müssen. Doch nach kurzer Überlegung kam ihm die Erleuchtung. »Wir machen den Weg frei!«
Gabi nickte nur, mehr ahnend als wissend, was er wohl damit meinen könnte.
Frank