Winter. Dave Nocturn
Marion ist kein Zombie. Ich werde mal nachsehen, wo sie bleibt.« Mit dieser Ankündigung stand Steins auf und ging auf den Eingang des Bunkers zu.
»Hey, so geht das nicht! Sie können nicht erwarten, dass wir seelenruhig hier sitzen bleiben, damit Sie mit einer Horde lebender Toter zurückkommen und uns überrennen.«
»Herr Weimer, warum bleiben Sie dann nicht hier und schicken Ihre Begleiter zum Bus zurück? Wenn tatsächlich eine ›Horde‹ Zombies aus dem Bunker kommt, flüchten Sie und bringen sich und den Bus in Sicherheit.«
»Er hat recht, Jörg. Wenn er uns täuschen will, hauen wir ab. Wenn er die Wahrheit sagt, haben wir endlich einen Platz, an dem wir mal wieder zur Ruhe kommen können«, sagte Sandra mit einem Flehen in der Stimme, dem sich Jörg nicht widersetzen konnte.
»Also gut.« Er seufzte. »Ihr drei geht zu den Bussen und wendet sie. Entweder ich komme mit Karacho angelaufen oder ich bringe Gäste mit. Bereitet die Leute darauf vor, so oder so.«
Jörg nickte Steins zu, der zum Bunkereingang schlurfte. Sandra, Martin und Erich sahen ihm noch einen Moment nach, bevor sie sich auf den Weg zu den Bussen machten.
Kapitel V
Kindermund tut Wahrheit kund
Liebes Tagebuch, heute wurde mir bewusst, dass die Kinder zu einem Problem werden könnten. Sie sind anders. Nicht nur körperlich. Wenn die übrigen Pilger ihre besonderen Kräfte entdecken, weiß ich nicht, was passieren wird.
»Wir dürfen ihnen nicht trauen«, beharrte Gora auf seinem Standpunkt
»Er macht einen ganz vernünftigen Eindruck, sogar klarer im Kopf als so mancher Überlebender, den ich in letzter Zeit gesehen habe«, hielt ihm Sandra entgegen.
Martin schaltete sich in den Disput mit ein: »Ich glaube Dr. Steins, wenn er sagt, dass er und seine Kumpels harmlos sind. Okay, er sieht aus wie ein Zombie, bewegt sich fast wie einer und riecht auch so. Aber er ist völlig klar in der Birne, und außerdem forscht er an einem Heilmittel.«
»Ja klar. Ein Zombie forscht an einem Antizombiemittel. Das ist so, als würde ein Schotte eine Geldwegwerfmaschine entwickeln«, ätzte ein älterer Mann aus einer der mittleren Sitzreihen.
»Wir wissen einfach zu wenig über Steins und den Bunker hier. Was wir aber wissen, ist, dass es Winter wird. Wir haben kaum noch Nahrung oder Wasser, keinen nennenswerten Treibstoffvorrat mehr, und wir sind körperlich am Ende.«
»Du hast recht, Sandra«, sagte Erich, der bisher schweigsam geblieben war. »Aber du darfst auch nicht vergessen, dass wir alle Bonn und Schwarmstein in den Knochen haben. Es ist doch so: ›Zombie‹ ist gleich ›tot‹. Und du willst mir doch nicht wirklich erzählen, dass du dein Leben riskieren willst, oder?«
Sandra sah eine Weile mit gläsernem Blick vor sich hin. Erich hatte angesprochen, was in den Köpfen aller Pilger nistete: Die Angst vor einem Tod, der keiner war.
»Was sagen denn die Kinder dazu?«, fragte sie schließlich.
Eine Welle sich umdrehender Köpfe lief durch den Bus. Die Augen aller richteten sich auf eine Gruppe von Kindern, die sich auf den Sitzbänken im hinteren Teil des Fahrzeugs gesammelt hatten. Auf einigen der Gesichter, die sie erwartungsvoll ansahen, blitzte kurz ein Ausdruck von Widerwillen und Abscheu auf.
Ein schlaksiger Jugendlicher stand zögerlich auf. Sein Kehlkopf sprang hektisch auf und ab, seine Augen waren unnatürlich groß, und Schweiß stand auf seiner Stirn. »Ich … ich weiß nicht. Wir … sind uns nicht einig.«
»Thilo, sprichst du für alle?«, fragte Martin.
Thilo schluckte vernehmlich. »Ich … denke … schon. Wir haben zwar nicht alle Bonn miterlebt, aber alle waren wir in Schwarmstein.« Er wurde immer hektischer beim Reden, als die Erinnerungen über ihn hereinfluteten. »Wir haben mindestens genauso viel Angst vor den Zombies, wie alle anderen hier. Aber wir … sind auch genauso erschöpft. Wir können einfach nicht weglaufen. Wir brauchen Ruhe.«
Sandra biss sich auf die Unterlippe, während sie überlegte. Thilo hatte ausgesprochen, was sie in den Gesichtern aller Pilger sehen konnte: Sie konnten nicht mehr. Durch die lange Flucht war keine Kraft mehr in ihnen.
Sie räusperte sich. »Hört mir zu! Thilo hat das ausgesprochen, was ihr alle auch wisst. Wir sind am Ende. In diesem Zustand werden wir entweder Opfer des Winters oder Opfer der Zombies. Hier können wir wenigstens die Situation halbwegs kontrollieren.«
Gemurmel setze ein. Martin streckte vorsichtig seine geistigen Fühler nach Thilo und den anderen Kindern aus.
Könntet ihr uns beschützen?
Vielleicht. Wenn es nicht zu viele sind.
Wir können es. Aber wollen wir es auch?
Tom! Was meinst du?
Martin war verwirrt. Tom, der eigentliche Anführer der Kinder, hatte mit seinen Worten Zweifel und etwas sehr Dunkles mitschwingen lassen.
Sieh sie dir an, Martin! Sie haben Angst vor uns. Selbst wenn wir sie beschützen, bleiben wir Monster für sie. Wir müssen ihre Gedanken nicht lesen, um es zu wissen. Und du spürst es auch!
Martin zögerte einen Moment, bevor er nickte. Tom, Thilo und die anderen Kindern waren Begabte. Einige von ihnen waren der Beleg, dass die Natur oft einen Ausgleich schafft. Was ihren schwachen, behinderten Körpern fehlte, machten sie mit mentalen Muskeln wett. Telekinese, Pyrokinese, Telepathie und alle sonstigen Pathien und Kinesen schienen in den schmächtigen Körpern zu stecken. Und er, Martin, war ihnen ähnlich – ähnlicher, als er selber wahrhaben wollte. Doch er verstand, was Tom im sagen wollte.
Sie haben Angst, weil sie nicht verstehen, was ihr seid.
Sie haben Angst, dass wir ihre Schädel genauso platzen lassen wie die der Knirscher.
Tom, bitte. Sie sind nicht so. Es sind gute Leute. Sie wollen genauso überleben, wie ihr und ich auch.
Deshalb sind wir eine Bedrohung für sie.
»Da, seht!« Der alte Mann aus der Mitte des Busses war aufgestanden und zeigte auf die Betonstraße
Jörg kam auf den Bus zu, gefolgt von drei Gestalten.
***
Kurz zuvor
»Sie glauben, man wird uns nicht auf der Stelle beseitigen?« Dr. van Hellsmann sprach ein fast akzentfreies Deutsch, das nur durch die seltsame Sprachbildung der Zombies verzerrt war. Seine holländische Herkunft bemerkte man nicht. »Ich hoffe, Sandra und die anderen konnten die Pilger überzeugen.«
»Sie sagen immer ›Pilger‹, Herr Weimer. Warum?« Auch wenn Dr. Steins keine Emotionen mehr hatte, so klang doch Verwunderung aus seiner Frage.
»Wir sind Pilger. Zumindest nennen wir uns so. Ich glaube, die Kinder haben das aufgebracht.«
»Die Kinder?«
»Die Kinder, Marion. Sie werden sie noch kennenlernen.«
»Sie lächeln, Herr Hauptmann.«
»›Herr Weimer‹ oder ›Jörg‹, bitte. Ich bin längst kein Hauptmann mehr, Frau Oberleutnant Theobald.«
»Dann sagen Sie bitte nur ›Marion‹.«
Jörg nickte.
Dr. Steins kam an seine Seite. »Ganz ruhig, Herr Weimer. Sie können ihre Pistole loslassen. Wenn wir tatsächlich zu einem Einvernehmen kommen, muss das besser werden.«
Jörg nahm die Hand von Waffe, ließ jedoch das Holster offen. »Ich bin immer noch nicht zu einhundert Prozent überzeugt, Herr Doktor. Versetzen Sie sich einmal in unsere Lage. Sie und ihresgleichen sind potentiell tödlich für alle Lebenden.«
»Meinesgleichen gibt es nicht allzu viele. Sie meinen sicherlich diese hirnlosen Mordmaschinen, die das Land unsicher machen.«
»Oder so.«