Wer bleibt Millionär?. Tino Hemmann

Wer bleibt Millionär? - Tino Hemmann


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nichts wissen und nichts tun können?«

      »So ist es, Herr Innenminister. Und wieder mal sind die Mitglieder gegensätzlicher Fraktionen einer Meinung.«

      »Aber … Ich muss doch etwas sagen können. Auf der Pressekonferenz. Sie können mich doch nicht einfach so im Regen stehen lassen. Ich kann nicht damit kommen, dass wir nichts wissen und nichts tun können. Wir haben einen der teuersten Nachrichtendienste der Welt. Und dann das! Gewissermaßen quasi widerstrebt es mir, …«

      »Aber, Herr Innenminister. Ich kenne ehrlich gesagt keinen zweiten Politiker, der so wie Sie viel reden kann, ohne tatsächlich etwas zu sagen. Wo ist das Problem? Außerdem sollten Sie während Ihrer politischen Laufbahn längst begriffen haben, dass es in der Politik besser ist, nichts zu sagen als etwas Schlechtes. Oder? Erklären Sie unsere Gegner – damit meine ich die Entführer – zu allmächtigen Göttern. Besiegen wir sie eines Tages, wird das Volk uns über die Götter heben. Kapiert?«

      »Wohl ist mir nicht bei der Sache. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn diese vermögenden Menschen tatsächlich umgebracht werden!«

      Fahlzners Gesicht wirkte jetzt todernst, was bedeutete, dass ihn der Spaß innerlich zerriss. »Erstens: Über allem wächst Gras und noch darüber ist Deutschland. Und zweitens: Falls die Leute über die Klinge springen, dann fragen Sie mal Ihren Parteikollegen, den Herrn Finanzminister, ob ihn die Erbschaftssteuer ärgert oder erfreut. Die Bundesrepublik verliert in einem solchen Fall nicht das Gesicht. Sie trägt eine winzige, schnell verblassende Narbe davon, die sich mit einem goldenen Geschmeide verstecken lässt. Abgesehen davon: Lassen Sie uns einfach unsere Arbeit machen. Der BND ist schlagkräftiger als das verfluchte Weichei-Heer.«

      »Mein Heer steht in Leipzig bei Fuß!«, erwiderte Gellert.

      »Ein Heer? Sie meinen die paar Leute vom SEK? Und wer kommandiert sie?«

      »Die Ameise«, flüsterte der Innenminister, als wäre seine Auskunft nicht für fremde Ohren bestimmt.

      »Aha, die Ameise. Die Ameise? Nie davon gehört.«

      »Er hat ganz allein, Sie wissen doch, in Kroatien, ein Terrornetzwerk zerschlagen.«

      Ein kurzes Nicken des BND-Präsidenten folgte. »Sie meinen wahrscheinlich diesen Russen … Wie heißt er noch? Anatolij Sorokin. Hat oft genug für Schlagzeilen gesorgt. Ob das so gut ist …«

      *

      Konrad schreckte hoch und schaute blinzelnd zum Wecker, der 7:48 Uhr anzeigte, worauf er ruckartig die Bettdecke so zur Seite schlug, als hätte er eine extrem wichtige Prüfung verschlafen. Er erhob sich rasch, ergriff fast gleichzeitig die Computermaus, wackelte daran und wartete darauf, dass der Bildschirmschoner endlich verschwinden und der Rechner aus dem Schlaf erwachen würde. Fahles Monitorlicht erhellte kurz darauf das wüste Jugendzimmer.

      Der Blick des Teenagers wanderte über die scheinbar unveränderte Website und blieb an der Statistik hängen. Nach einem tiefen Durchatmen flüsterte Konrad ungläubig: »Ach, du liebe Scheiße.«

      Es gab bereits 71.269.320 User-Einträge. Mehr als einundsiebzig Millionen Kommentare in einer einzigen Nacht!

      Die jüngste Bemerkung lautete: »Die Bulln habn doch e kein Schimmer, könn nichma mit Wasserwerfa umgehn bepissn sich dabei noch selbst!« Der Beitrag stammte von User »labomba07«.

      Vorsichtig scrollte Konrad durch die Meinungen. Seit Stunden schien eine Diskussion zwischen linken und rechten Benutzern über die Fähigkeiten und Unfähigkeiten des deutschen Polizeiapparats im Gang zu sein.

      Das Zählwerk unter dem schwarzen Kasten des Livestream-Links zeigte jetzt folgenden Text: »Dieser Link ist in 02 Stunden, 08 Minuten und 27 Sekunden aktiv«.

      »Scheiß Schule«, fluchte Konrad. Dann quälte er sich zur Zimmertür, öffnete sie einen Spaltbreit und röchelte angestrengt: »Mama, mir geht’s beschissen.«

      »Schreibt ihr heute einen Test?«, rief die Mutter.

      »Nein, Mama. Mir geht’s wirklich ganz beschissen. Der Hals und so.«

      Konrads Mutter hatte es eilig und ging den Weg des geringsten Widerstandes. »Okay. Dann bleib im Bett! Bestimmt hast du dich erkältet, weil du immer im T-Shirt auf dem Moped mitfährst«, lautete die Ferndiagnose, der eine Einschränkung folgte: »Aber nur heute! Ich rufe vom Büro aus in deiner Schule an. Aber nur für heute! Verstanden?«

      Die zeitliche Beschränkung der mütterlichen Krankschreibung nahm Konrad ohne Widerspruch in Kauf. »Ja, Mama. Nur heute.«

      Unten fiel die Tür ins Schloss, kurz darauf startete der Motor des steinzeitlichen Opels. Nachdem sich das Geräusch entfernt hatte, ging Konrad vom Fenster weg und setzte sich vor den Rechner. Er googelte nach dem Suchbegriff »Millionär« und wurde augenblicklich fündig. Unter »tagesschau.de« fand der Junge den aktuellsten Beitrag, der gerade zwei Minuten alt war.

      »Wie Innenminister Volker Gellert, CDU, am Morgen verlauten ließ, gibt es noch keine heiße Spur zu den Entführern der sechs vermögenden Deutschen. Nach wie vor wird ein terroristischer Hintergrund nicht ausgeschlossen, zumal die Organisation Islamischer Staat erst vor zwei Tagen zum wiederholten Male mit drastischen Konsequenzen gedroht hatte, wenn die Bundesrepublik Deutschland ihre Waffenlieferungen an die kurdische sowie die irakische Armee und die Aufklärungsflüge fortsetzt. Für zehn Uhr ist im Bundestag eine Pressekonferenz angesetzt. Ein Polizeisprecher bestätigte indes, dass der Soko Millionär noch keine Lösegeldforderung und auch kein Bekennerschreiben vorliegt. Man gehe allerdings davon aus, dass die Entführer technisch gut ausgerüstet sind und weltweit agieren.«

      Unter dem Beitrag fand sich ein Videolink, auf den Konrad klickte. Ein Nachrichtensprecher und eine ältere Frau saßen in runden Sesseln.

      »Was sind das für Leute, die so etwas tun?«, fragte der Nachrichtensprecher.

      Während die Frau sprach, wurden Name und Titel am unteren Bildschirmrand eingeblendet: »Prof. Dr. Brigitte Fasten, Dipl.-Psychologin, Kriminologin«.

      »Momentan lässt sich das schwer sagen. Aber über die Psyche von Entführungsopfern können wir durch die wissenschaftliche Auswertung früherer Entführungsfälle konkrete Aussagen tätigen. Isolation, Bewusstwerdung der eigenen, vielleicht als aussichtslos empfundenen Situation und daraus resultierend vor allem Angst führen häufig zu …«

      »Kommen wir zurück zu den Entführern«, unterbrach der Nachrichtensprecher. »Nur angenommen …«

      »Angenommen … Alles ist angenommen. Wir wissen beide, dass dieses Spiel, das zeitgleich mit den Entführungen im Netz auftauchte, definitiv nichts mit dem IS zu tun hat. Insofern empfinde ich die Meldungen der Medien als nicht sachdienlich. Wenn dieser Showmaster tatsächlich der Drahtzieher der Entführungen ist, dann arbeitet er sehr ergebnisorientiert und wird versuchen, ein Verhindern seiner Aktion strengstens zu vermeiden, denn sonst verliert er sein Gesicht. Ob es um Geld geht oder um Macht, das können wir jetzt noch nicht sagen. Unter Umständen könnte der Sinn des Spiels auch eine bisher unbekannte Größe einer unglaublichen Marketingaktion sein.«

      »Die Entführer drohen mit der Ermordung der Geiseln, wenn wir der Internetseite ›Wer bleibt Millionär?‹ Glauben schenken dürfen. Ist der Vorgang deshalb als ganz normale Entführung anzusehen?«

      »Es gibt keine ganz normale Entführung, das wissen Sie doch selbst. Der Drahtzieher der Entführungen verlangt Aufmerksamkeit, sehr viel Aufmerksamkeit. Er ist aus meiner Sicht psychisch krank und die beteiligten Ermittler sollten viel Vorsicht walten lassen, um das Leben der Geiseln nicht mehr zu gefährden, als es ohnehin bereits der Fall ist. Vielleicht sollte man dem Entführer einfach etwas weniger Beachtung schenken, aber …«

      Der Beitrag war urplötzlich zu Ende.

      Zögernd griff Konrad nach einer Cola-Flasche, die er vor drei Tagen geöffnet hatte, und trank daraus. Zwischenzeitlich gurgelte er, um den hässlichen Geschmack, den die Nacht im Hals hinterlassen hatte, loszuwerden. Anschließend nahm er das Smartphone und suchte über WhatsApp Kontakt zu seinen allerbesten Freunden. Einer dieser Freunde hieß Fedor


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