Knurr und das Amulett des Dämonenfürsten: Die Abenteuer der Koboldbande Band 6). Jork Steffen Negelen
Die Augen des Hexers
Der Riese Kalon, der höchste Priester von Ando-Hall, ging zu später Stunde mit einer Fackel in seiner rechten Hand durch die Hallen seines Tempels. Zwei weitere Priester begleiteten ihn. Als sie in der größten Halle vor den Altar traten, der nicht viel mehr als ein großer flacher Stein war, knieten sie nieder. Auf diesem Altar stand eine Tafel, die für die Riesen ein überaus wertvolles Heiligtum darstellte. In großen Buchstaben waren auf ihr die wichtigsten Gebote des Schöpfers eingemeißelt, und kein Riese wagte es, sich gegen diese Gebote aufzulehnen.
Doch es gab seit kurzer Zeit eine Ausnahme. Cromber, der Bruder des toten Fürsten Taurus, beanspruchte die fürstliche Macht für sich. Kalon konnte sich nicht gegen diesen Anspruch auflehnen, auch wenn ihm Prinz Artem als Fürst tausend Mal lieber wäre. Cromber hatte mit den Kriegern seiner Sippe und einigen weiteren verbündeten Riesen Ando-Hall besetzt. Seit dem erwartete Kalon mit Sorge die Ankunft von Artem. Der Priester wusste, dass Cromber dem Prinzen die Reise zum heiligen Tempel erschweren würde. Doch er war sich sicher, dass Artem einen Weg nach Ando-Hall fand. Am nächsten Tag wollte sich Cromber zum Fürsten ausrufen lassen und seinen eigenen Neffen zum Verräter erklären. Damit durfte jeder andere Riese den Prinzen töten und Cromber musste sich selbst die Hände nicht mehr mit dem Blut des Sohnes seines toten Bruders besudeln.
Ein schwarzer Schatten flog durch die Hallen der wahrhaft großen Tempelanlage von Ando-Hall. Die Stadt, die um den Tempel erbaut worden war, lag in tiefem Schlaf und niemand störte den finsteren Eindringling. Er flog zu dem nur spärlich beleuchteten Altar, wo er sich hinter einer der vielen weißen Marmorsäulen verbarg, die in dem Tempel stand, und das steinerne Dach stützte.
Von seinem Platz aus konnte der Hexer die drei Priester gut belauschen. Obwohl sie nur flüsterten, fiel es ihnen schwer, ihren Zorn über die neuesten Nachrichten zu unterdrücken. Der Hexer verstand jedes einzelne Wort.
»Er hat es gewagt«, zischte Kalon leise, ohne den Blick von den heiligen Geboten der Altartafel zu nehmen.
»Ja, das hat er«, zischte einer der beiden anderen zurück. »Ein Teil der Nachricht ist jedoch gut für uns«, raunte der dritte Priester und er faltete seine Hände.
»Wir ziehen uns lieber zum Gebet in unsere Kammern zurück«, entschied Kalon. »Hier können wir nicht ungestört reden, denn die Wände haben überall Ohren.«
Die Priester standen auf und verneigten sich noch einmal vor dem Altar. Als sie gegangen waren, näherte sich der Hexer dem Heiligtum. Eine unerklärliche magische Aura drückte ihn jedoch immer wieder zum Ausgang der Halle zurück. Er kam einfach nicht nah genug an den Altar heran. Ihn interessierten weder die Tafel noch der große flache Stein. Er wollte zur Wand, die sich hinter dem Altar befand. Die Priester hatten sie mit einem Tuch verdeckt. Doch es wusste jeder Riese, was an an der Wand unter dem Tuch zu sehen war. Es war die Karte, die den Weg nach Dragon-Gorum zeigte.
Auf einmal hallten Schritte durch den Tempel und der Hexer zog sich in die Dunkelheit der Schatten zurück, die die Säulen in die Tempelhalle warfen. Ein klapperndes Geräusch verriet ihm, dass der Riese, der die Halle betrat, eine Rüstung und Waffen trug.
»Morwes …« erklang leise die Stimme des Riesen. »Komm aus deinem Versteck und zeige dich«, rief der Riese nun erheblich lauter. Der Hexer kam hinter einer der Säulen hervor, die hinter dem Riesen standen.
»Du hast mich gerufen, Cromber?«, fragte Morwes. Der Riese erschrak und drehte sich um. »Ja, ich habe dich gerufen«, flüsterte er und er sah furchtsam nach allen Seiten. »Du hast es bestimmt schon gehört«, flüsterte Cromber weiter und er wischte sich den Schweiß von seiner Stirn. »Artem wird bald mit dem Drachenkönig eintreffen. Er soll noch andere überaus mächtige Gefährten bei sich haben.«
Der Hexer spürte sofort die Angst des Riesen. Er streckte ihm seine Hände entgegen und drang mit der Hilfe seiner schwarzen Magie tief in das Bewusstsein von Cromber ein. Der Hexer wusste genau, was er wollte, denn er tat es schon einmal. Es dauerte nur den Bruchteil eines Augenblicks und er hatte den ängstlichen Kraftprotz wieder in seiner magischen Gewalt.
Mit hoch erhobenem Haupt und vor Stolz geschwellter Brust stand der Riese vor dem viel kleineren Hexer und er hörte sich seine Worte an. »Die Jagdadler deiner Krieger verbreiten die Nachricht, dass dein Feind bald kommen wird und das er starke Freunde bei sich hat. Doch sei ohne Furcht, mein heldenhafter Cromber. Sie können dich nicht bezwingen, denn das Recht deiner Ahnen ist auf deiner Seite. Artem kann nur zum Fürsten ausgerufen werden, wenn er dich besiegt. Und diesen Sieg wird er nie erringen, denn ich werde dir etwas geben, dass dir helfen wird.«
Morwes schwebte plötzlich dicht vor Crombers Kopf und er sah ihm tief in die Augen. Der Hexer öffnete seinen Mund und hauchte eine kleine schwarze Wolke heraus. Cromber zog sie mit seinem nächsten Atemzug in sich hinein. Nun drangen aus den Augen des Hexers zwei Blitze, die in den Kopf des Riesen hinein fuhren. Cromber schwankte ein wenig, doch die Kraft seines Körpers ließ ihn nicht im Stich.
»Der Geist, der nun in dir steckt, wird dir helfen«, erklärte Morwes. »Du kannst im Kampf nicht mehr versagen, denn deine Furcht wird dich nicht mehr hindern. Die kleine schwarze Wolke, die soeben in deinem Kopf gefahren ist, wird dich zu jeder Zeit an den Pakt erinnern, den du mit mir eingegangen bist. Solltest du dennoch versagen, wirst du sterben.«
Der Hexer sah dem Riesen in die Augen. Er erkannte schnell, dass Cromber den letzten Rest seines eigenen Willens verloren hatte und der kleine schwarze Geist in seinem Kopf herrschte. Noch einmal schossen zwei kleine Blitze aus Morwes Augen und fuhren in den Kopf des Riesen. Doch dieses Mal schwankte Cromber nicht mehr.
Wieder ertönten Schritte, die aus den angrenzenden Räumen zu hören waren. Der Hexer sah sich hastig um und zischte den Riesen leise noch etwas zu, bevor er sich wieder hinter den Säulen in den Schatten verbarg. »Das sind bestimmt deine Wachen, die dich bereits suchen. Lass dir nichts anmerken und sieh dich vor deinen Priestern vor. Sie sind dir nicht gutgesinnt und sie würden dir einen Dolch von hinten in dein Herz jagen, wenn sie nur könnten.«
Cromber nickte nur und sah zu, wie der Hexer verschwand. Tatsächlich kamen ihm zwei seiner Krieger entgegen. Sie deuteten eine Verbeugung an und sahen besorgt zu ihrem Anführer.
»Geht es dir gut, mein Herr?«, fragte einer der Krieger. Cromber wirkte, als hätte er die Frage nicht gehört. »Ich habe Durst«, sagte er und er holte tief Luft. Sein Körper straffte sich und er betrachtete die beiden Krieger, die ratlos vor ihm standen. Seine Miene verfinsterte sich und er streckte seinen Kopf in die Höhe. »Was schaut ihr mich so an?«, knurrte er mit tiefer Stimme. »Ich werde in meinem Gemach noch einen Becher Wein trinken und ihr zwei seht euch vor Kalon und seinen Priestern vor. Ich traue ihnen nicht über den Weg.«
Hastig nickten die beiden Krieger. Sie sahen Cromber nach, wie er langsam mit hoch erhobenem Haupt und vor Stolz geschwelter Brust die große Halle durchschritt und im Schatten der Nacht verschwand. Die Krieger sahen sich an und einer von ihnen brummte leise vor sich hin, was er gerade dachte. »Er wird immer merkwürdiger. Vor wenigen Wochen wollte er noch nicht einmal daran denken, dem Prinzen die Stirn zu bieten. Und morgen will er sich zum Fürsten ausrufen lassen. Woher nimmt er auf einmal diesen Mut.«
»Das ist eine gute Frage«, antwortete der zweite Krieger. »Ich denke mal, dass es etwas mit der Gier nach der Macht zu tun hat. Wenn ich Fürst werden wollte, so würde ich jede Angst vergessen und meinen Feinden entgegen treten.«
Etwas nachdenklich rieb sich der erste Krieger sein Kinn. »Du würdest so handeln, weil du den Mut in deinen Knochen hast. Doch Cromber ist bisher jedem Kampf ausgewichen. Er hat sich in keinem Zweikampf bewährt und unser alter Fürst, der sein eigener Bruder war, hat ihn dafür nur verhöhnt und verspottet. Cromber hat nie den Mut gehabt, sich gegen Taurus aufzulehnen. Und jetzt will er selbst Fürst werden.«
Der zweite Krieger packte seinen Kameraden am Kragen seines Mantels und sah sich vorsichtig um. Dann flüsterte er so leise, dass es Morwes trotzdem in seinem Versteck hören konnte. »Man erzählt sich vieles in letzter Zeit. Vorhin habe ich gehört, dass morgen der Prinz Artem mit einigen mächtigen Freunden hier eintreffen wird. Außerdem soll sich in Ando-Hall ein schwarzes