Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg
die bestrebt sind, die biologischen Auswirkungen von Elektrizität zu ermitteln, sind in gewisser Weise wie Fische, die die Effekte von Wasser bestimmen wollen. Ihre Vorgänger im 18. Jahrhundert waren in einer viel besseren Position, die Wirkungen aufzuzeichnen, weil damals die Welt noch nicht davon überflutet war.
Das zweite von Humboldt aufgezeigte Phänomen hat tiefgreifende Auswirkungen sowohl auf die moderne Technologie als auch auf die moderne Medizin: Einige Menschen waren gegenüber der Auswirkung der Elektrizität empfindlicher als andere. Aber das war nicht alles. Sie unterschieden sich auch individuell extrem stark in ihrer Fähigkeit, diese zu leiten, und auch in ihrer Tendenz, eine Ladung auf der Oberfläche ihres Körpers anzusammeln. Für manche Menschen war es sogar unvermeidbar, überall eine Ladung aufzunehmen – allein schon dadurch, dass sie sich bewegten und atmeten. Sie waren sprichwörtliche Funkenerzeuger, wie jene Frau aus der Schweiz, von der der schottische Schriftsteller Patrick Brydone auf seinen Reisen hörte. Ihre Funken und Stromschläge, schrieb er, waren „an einem klaren Tag oder während des Durchzugs von Gewitterwolken am stärksten, wenn die Luft bekanntermaßen mit diesem Fluidum angereichert ist“.11 Solche Personen unterschieden sich physiologisch von anderen.
Und umgekehrt wurden menschliche Nichtleiter entdeckt, d. h. Menschen, die auch bei angefeuchteten Händen die Elektrizität so schlecht leiteten, dass ihre Anwesenheit in einer Menschenkette den Stromfluss regelrecht unterbrach. Humboldt führte viele Experimente dieser Art mit sogenannten „präparierten Fröschen“ durch. In einer Kette aus acht Personen ergriff die Person an einem Ende einen Draht, der mit dem Ischiasnerv eines Frosches verbunden war. Gleichzeitig ergriff die Person am anderen Ende den Draht, der mit dem Oberschenkelmuskel des Frosches verbunden war. Damit war der Schaltkreis geschlossen und brachte den Muskel zum Zucken. Das geschah jedoch nicht, wenn eine der Personen in der Kette ein menschlicher Nichtleiter war. Humboldt selbst unterbrach eines Tages die Kette, als er Fieber hatte und so vorübergehend ein Nichtleiter war. Er konnte an diesem Tag auch nicht den Lichtblitz in seinen Augen mit Strom auslösen.12
Die Transactions of the American Philosophical Society für das Jahr 1786 enthalten einen ähnlich lautenden Bericht von Henry Flagg über Experimente in Rio Essequibo (heute Guyana). Hier ergriff eine aus vielen Personen bestehende Kette die beiden Enden eines elektrischen Aals. „Wenn jemand anwesend war, der grundsätzlich körperlich nicht dazu geeignet war, die Wirkung des elektrischen Fluidums zu empfangen“, schrieb Flagg, „so bekam diese Person im Moment des Kontakts mit dem Fisch keinen Stromschlag.“ In diesem Zusammenhang erwähnte Flagg eine Frau, die genau wie Humboldt zum Zeitpunkt des Experiments leichtes Fieber hatte.
Dies veranlasste einige Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts zu der Annahme, dass sowohl die elektrische Empfindlichkeit als auch die elektrische Leitfähigkeit Indikatoren für den allgemeinen Gesundheitszustand eines Menschen sind. Bertholon beobachtete, dass eine Leidener Flasche bei einem Patienten mit Fieber, schwächere Funken langsamer erzeugte als eine identische Flasche bei einer gesunden Person. Bei Schüttelfrost-Anfällen war genau das Gegenteil der Fall: Der Patient schien dann eine Art Supraleiter zu sein und die von ihm oder ihr erzeugten Funken waren stärker als normal.
Laut Benjamin Martin kann „eine Person, die Pocken hat, kein bisschen elektrifiziert werden“.13
Trotz der obigen Beobachtungen waren weder die elektrische Empfindlichkeit noch die elektrische Leitfähigkeit zuverlässige Indikatoren für eine gute oder schlechte Gesundheit. Meistens schien es sich hierbei um willkürliche Eigenschaften zu handeln. Musschenbroek beispielsweise erwähnte in seinem Cours de Physique drei Personen, bei denen es ihm niemals gelang, egal wann, sie zu elektrifizieren. Dabei handelte es sich um einen kräftigen, gesunden 50-jährigen Mann; eine gesunde, gut aussehende 40-jährige Mutter von zwei Kindern und einen 23-jährigen gelähmten Mann.14
Das Alter und Geschlecht schienen eine Rolle zu spielen. Bertholon glaubte, dass Elektrizität einen größeren Einfluss auf reife junge Männer hatte als auf Säuglinge oder ältere Menschen.15 Der französische Chirurg Antoine Louis stimmte dem zu. „Ein Mann von 25 Jahren“, schrieb er, „ist leichter zu elektrifizieren als ein Kind oder eine alte Person.“16 Laut Sguario „lassen sich Frauen im Allgemeinen leichter und besser elektrifizieren als Männer. Bei beiden Geschlechtern ist das feurige und schwefelhaltige Temperament jedoch besser geeignet als andere Wesensarten und Jugendliche besser als alte Menschen.“17 Laut Morin sind „Erwachsene und Personen mit einem robusteren, heißblütigeren und feurigeren Temperament auch empfänglicher für das Leiten dieser Substanz“.18 Diese frühen Beobachtungen, dass kräftige junge Erwachsene in gewisser Weise empfänglicher für Elektrizität sind als andere, mögen überraschend erscheinen. Aber wir werden später die Bedeutung dieser Beobachtung in Bezug auf Probleme des öffentlichen Gesundheitswesens der Neuzeit erkennen, insbesondere auf die Influenza.
Um die typischen Reaktionen elektrisch empfindlicher Menschen detailliert zu veranschaulichen, habe ich Benjamin Wilsons Bericht über die Erfahrungen seines Dieners ausgewählt, der sich im Jahr 1748, als er 25 Jahre alt war, freiwillig zur Elektrifizierung bereit erklärte. Wilson, der selbst elektrisch empfindlich war, schenkte diesen Effekten selbstverständlich mehr Aufmerksamkeit als einige seiner Kollegen. Elektrisch empfindliche Menschen von heute werden die meisten Auswirkungen wiedererkennen, einschließlich der tagelang andauernden Nachwirkungen.
„Nach dem ersten und zweiten Experiment“, schrieb Wilson, „beklagte er sich über seine depressive Stimmung, und dass er sich ein wenig unwohl fühlte. Beim vierten Experiment wurde ihm sehr warm und die Venen in seinen Händen und seinem Gesicht schwollen stark an. Der Puls schlug schneller als gewöhnlich und er klagte über einen heftigen Druck auf seinem Herzen (wie er es nannte), was zusammen mit den anderen Symptomen fast vier Stunden andauerte. Als er seine Brust entblößte, schien sie stark entzündet zu sein. Er sagte, dass sein Kopf heftig schmerzte und dass er einen stechenden Schmerz in seinen Augen und seinem Herzen spürte; außerdem schmerzten all seine Gelenke. Als die Venen anschwollen, klagte er über ein Gefühl, das er mit dem des Erwürgens oder einer zu engen Krawatte um den Hals verglich. Die meisten dieser Beschwerden ließen sechs Stunden nach Durchführung der Experimente nach. Die Schmerzen in seinen Gelenken hielten bis zum nächsten Tag an. Zu diesem Zeitpunkt klagte er über Schwäche und war bedacht, sich nicht zu erkälten. Am dritten Tag war er dann fast ganz genesen.
„Die Stromschläge, die er erhielt, waren unbedeutend“, fügte Wilson hinzu, „im Vergleich zu denen, die die meisten Menschen normalerweise bekommen, wenn sie sich an den Händen halten, um aus Neugier den Schaltkreis zu vervollständigen.“19
Auch Morin, der vor 1748 damit aufgehört hatte, sich der Elektrizität auszusetzen, hob die negativen Auswirkungen ausführlich hervor. „Personen, die auf einem Harzkuchen oder auf einem Wollkissen elektrifiziert werden, verhalten sich oft wie Asthmatiker“, stellte er fest. Er berichtete über den Fall eines jungen 30-jährigen Mannes, der nach seiner Elektrifizierung 36 Stunden lang an Fieber und acht Tage lang an Kopfschmerzen litt. Er prangerte die medizinische Elektrizität an und schloss aus seinen eigenen Experimenten mit an Rheuma und Gicht erkrankten Menschen, dass „alle viel mehr als zuvor leiden mussten“. „Die Elektrizität ruft Symptome hervor, denen sich auszusetzen nicht ratsam ist“, sagte er, „weil es nicht immer einfach ist, den Schaden zu reparieren.“ Er missbilligte besonders die medizinische Verwendung der Leidener Flasche. Er erzählte die Geschichte eines Mannes mit einem Ekzem an der Hand, der einen Stromschlag von einer kleinen Flasche mit nur zwei Unzen Wasser erhielt. Zu allem Übel kam daraufhin auch noch ein Schmerz in der Hand dazu, der länger als einen Monat anhielt. „Danach war er nicht mehr so eifrig bestrebt“, sagte Morin, „der Prügelknabe für die elektrischen Phänomene zu sein.“20
Ob die Elektrizität mehr Nutzen als Schaden hatte, war für die Menschen, die zu dieser Zeit lebten, keine unbedeutende Frage.
Morin, der elektrisch empfindlich war, und Nollet, der es nicht war, gerieten zu Beginn des elektrischen Zeitalters in einen Konflikt über die Zukunft unserer Welt. Ihre Debatte trugen die beiden öffentlich in zeitgenössischen Büchern und Zeitschriften aus. Die Elektrizität wurde ja in erster Linie als eine Kraft angesehen, die allen Lebewesen innewohnte, und sie