Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg

Die Welt unter Strom - Arthur Firstenberg


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große Neurologe Guillaume Benjamin Duchenne de Boulogne für etwas berühmt, für das er heutzutage am wenigsten bekannt ist. Als renommierte Persönlichkeit in der Geschichte der Medizin war er alles andere als ein bloßer Quacksalber: Er führte moderne Methoden der körperlichen Untersuchung ein, die immer noch angewendet werden. Er war der allererste Arzt, der an einer lebenden Person eine Biopsie zum Zweck einer Diagnose entnahm. Er veröffentlichte die erste klinisch genaue Beschreibung von Polio (Kinderlähmung). Eine Reihe von ihm identifizierter Krankheiten sind nach ihm benannt, insbesondere die Duchenne-Muskeldystrophie. Er ist aufgrund all dessen in Erinnerung geblieben. Aber zu seiner Zeit stand er wegen seiner Arbeit mit Gehörlosen etwas unfreiwillig im Zentrum der Aufmerksamkeit.

      Duchenne kannte die Anatomie des Ohrs sehr genau. Tatsächlich bat er einige Gehörlose, sich freiwillig als Probanden für elektrische Experimente zu melden. Er war bestrebt, die Funktion der Chorda tympani, eines sich durch das Mittelohr ziehenden Nervs, näher zu erforschen. Die zufällige und unerwartete Verbesserung des Gehörs der Versuchspersonen führte dazu, dass Duchenne mit Anfragen seitens der Gehörlosen überschwemmt wurde. Sie wollten, dass er sie in Paris behandelte. Das war der Anfang seiner Arbeit mit einer großen Anzahl von Menschen, die aufgrund einer Nervenstörung taub waren. Er verwendete dafür einen für seine Forschung entwickelten Apparat, der genau in den Gehörgang passte und eine stimulierende Elektrode enthielt.

      Den heutigen Lesern mag es unwahrscheinlich erscheinen, dass sein Verfahren überhaupt eine Wirkung hatte: Er setzte seine Patienten für jeweils fünf Sekunden Impulsen mit der allerschwächsten Stromstärke im Abstand von einer halben Sekunde aus. Dann erhöhte er allmählich die Stromstärke, jedoch nie auf ein schmerzhaftes Niveau und niemals länger als für jeweils fünf Sekunden. Und so stellte er auf diese Weise innerhalb von wenigen Tage oder Wochen das Hörvermögen eines 26-jährigen Mannes, der seit seinem zehnten Lebensjahr taub war, wieder her. Danach behandelte er einen 21-Jährigen, der wegen Masern im Alter von neun Jahren gehörlos geworden war. Schließlich heilte er auch eine junge Frau, die kurz zuvor aufgrund einer Überdosierung mit Chinin gegen Malaria taub geworden war, sowie zahlreiche andere mit teilweisem oder vollständigem Hörverlust.2

      50 Jahre zuvor wurde ein Apotheker namens Johann Sprenger aus Jever in Deutschland aus einem ähnlichen Grund in ganz Europa berühmt. Obgleich ihn der Leiter des Instituts für Gehörlosigkeit in Berlin denunzierte, wurde er von den Gehörlosen selbst mit Bitten auf Behandlung überschwemmt. Seine Ergebnisse wurden in Gerichtsdokumenten bestätigt und seine Methoden wurden von zeitgenössischen Ärzten übernommen. Es wurde berichtet, dass er persönlich das Gehör von wenigstens 40 Gehörlosen und Schwerhörigen vollständig oder teilweise wiederhergestellt hat. Darunter waren einige, die von Geburt an taub waren. Seine Methoden waren, wie die von Duchenne, verblüffend einfach und sanft. Er stellte die Stromstärke je nach Empfindlichkeit seines Patienten schwächer oder stärker ein. Jede Behandlung bestand aus kurzen elektrischen Impulsen, die insgesamt vier Minuten pro Ohr im Abstand von einer Sekunde voneinander entfernt verabreicht wurden. Die Elektrode wurde für eine Minute auf den Tragus (den Knorpellappen vor dem Ohr), für zwei Minuten in den Gehörgang und für eine Minute auf den Mastoid hinter dem Ohr gelegt.

      50 Jahre vor Sprenger berichtete der schwedische Arzt Johann Lindhult aus Stockholm von seinen Erfolgen mit der Elektrotherapie. Innerhalb von zwei Monaten stellte er das Gehör von vielen Personen entweder vollständig oder teilweise wieder her: bei einem 57-jährigen Mann, der seit 32 Jahren taub war, einem 22-jährigen Jugendlichen, dessen Hörverlust erst kurz vor der Behandlung aufgetreten war, einem taub geborenen 7-jährigen Mädchen, einem 29-jährigen jungen Mann, der seit seinem 11. Lebensjahr schwerhörig war, und einem Mann mit Hörverlust und Tinnitus im linken Ohr. „Alle Patienten“, schrieb Lindhult, „wurden mit schwachen elektrischen Impulsen behandelt, entweder mit einfachem Strom oder mit ‚elektrischem Wind‘.“ Im Jahr 1752 benutzte Lindhult eine Reibungsmaschine. Ein halbes Jahrhundert später verwendete Sprenger galvanischen Strom aus einem elektrischen Stapel, dem Vorläufer der heutigen Batterie. Wiederum ein halbes Jahrhundert später verwendete Duchenne Wechselstrom aus einer Induktionsspule. Der ebenso erfolgreiche britische Chirurg Michael La Beaume verwendete in den 1810er-Jahren eine Reibungsmaschine und später galvanischen Strom. Ihnen allen war gemein, dass sie darauf bestanden, ihre Behandlungen kurz, einfach und schmerzlos zu halten.

      Über den Versuch hinaus, Gehörlosigkeit, Blindheit und andere Krankheiten zu heilen, hatten die ersten Elektropraktiker ein intensives Interesse an der Frage, ob Elektrizität von den fünf Sinnen direkt wahrgenommen werden könnte. Auch das ist ein Phänomen, an dem Ingenieure heutzutage kein Interesse haben und über das unsere heutigen Ärzte nicht viel wissen. Eine Antwort darauf ist jedoch heute für alle, die an Elektrohypersensivität leiden, relevant.

      Der spätere Entdecker Alexander von Humboldt stellte seinen eigenen Körper in seinen frühen 20er-Jahren zur Aufklärung dieses Geheimnisses zur Verfügung. Erst einige Jahre später verließ er Europa für eine langen Reise, die ihn weit den Orinoco hinauf und auf den Gipfel des Chimborazo treiben sollte. Entlang des Weges sammelte er Pflanzen und dokumentierte seine systematischen Beobachtungen der Sterne, der Erde und der Kulturen der amazonischen Völker. Ein halbes Jahrhundert verstrich, ehe er mit der Arbeit an seinem fünfbändigen Kosmos begann; ein Versuch, alle bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zusammenzufassen. Aber als junger Mann, der den Bergbau im bayerischen Bayreuth beaufsichtigte, beschäftigte er sich in seiner Freizeit mit der zentralen Frage seiner Zeit.

      Ist Elektrizität wirklich die allem zugrunde liegende Lebenskraft? Das fragten sich die Menschen. Diese Frage, die seit den Tagen von Isaac Newton leise an der Seele Europas nagte, wurde plötzlich sehr viel lauter. Sie verließ den hehren Bereich der Philosophie und wurde zum Tischgespräch der Allgemeinheit; ihre Kinder würden schließlich mit dem Ausgang dieser Gespräche leben müssen. Die elektrische Batterie, die durch den Kontakt unterschiedlicher Metalle Strom erzeugte, war gerade in Italien erfunden worden. Die Auswirkungen waren enorm: Reibungsmaschinen – sperrig, teuer, unzuverlässig und abhängig von atmosphärischen Bedingungen – waren jetzt möglicherweise nicht mehr nötig. Telegrafensysteme, die bereits von einigen Vordenkern entworfen wurden, könnten jetzt praktikabel werden. Und vielleicht kommen wir jetzt den Antworten auf Fragen über die Natur des elektrischen Fluidums näher.

      In den frühen 1790er-Jahren stürzte sich Humboldt mit Begeisterung in diese Forschung. Er wollte unter anderem wissen, ob er diese neue Form der Elektrizität mit seinen eigenen Augen, Ohren, seiner Nase und den Geschmacksnerven wahrnehmen konnte. Andere führten ähnliche Experimente durch – Alessandro Volta in Italien, George Hunter und Richard Fowler in England, Christoph Pfaff in Deutschland, Peter Abilgaard in Dänemark – aber keiner so gründlich und sorgfältig wie Humboldt.

      Bedenken Sie, dass wir heute, ohne weiter darüber nachzudenken, Neun-Volt-Batterien mit unseren Händen anfassen. Vergessen Sie auch nicht, dass Millionen von uns mit Zahnfüllungen aus Silber und Zink sowie Gold, Kupfer und anderen Metallen im Mund herumlaufen. Dann betrachten Sie folgendes Experiment von Humboldt mit einem Stück Zink und einem Stück Silber, das eine elektrische Spannung von etwa einem Volt erzeugte:

      „Ein großer Jagdhund, von Natur aus faul, ließ sich sehr geduldig ein Stück Zink gegen seinen Gaumen legen. Er reagierte auch nicht, als ein weiteres Stück Zink mit dem ersten Stück und seiner Zunge in Kontakt gebracht wurde. Aber sobald man seine Zunge mit dem Silber berührte, zeigte er seine Abneigung auf komische Weise: Seine Oberlippe verkrampfte sich, und daraufhin leckte er sich für lange Zeit. Sobald man ihm nach dieser Erfahrung ein Stückchen Zink zeigte, erinnerte er sich an sein Erlebnis und wurde aggressiv.“

      Die Leichtigkeit, mit der Elektrizität wahrgenommen werden kann, und die Vielfalt der Empfindungen wären heute für die meisten Ärzte eine Offenbarung. Als Humboldt mit dem Stück Zink die Oberseite seiner eigenen Zunge und mit dem Stück Silber die Zungenspitze berührte, war der Geschmack stark und bitter. Als er das Stück Silber unter die Zunge schob, brannte sie. Wenn er das Zink weiter nach hinten und das Silber nach vorne bewegte, fühlte sich seine Zunge kalt an. Und als er dann das Zinkstück noch weiter nach hinten schob, wurde ihm übel und manchmal erbrach er sich sogar. Das passierte


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