Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg

Die Welt unter Strom - Arthur Firstenberg


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Umgebung mitteilte.

      Er war erschrocken über Nollets Vorstellung, dass Elektrizität stattdessen eine Substanz sein sollte, die in eine Richtung von einem Ort zum anderen fließt. Die, um herauszufließen, von irgendwo anders hereinfließen muss. Eine Substanz, die die Menschheit jetzt eingefangen hatte und die sie nach Belieben überallhin in der Welt senden konnte. Diese Debatte begann im Jahr 1748, nur zwei Jahre nach der Erfindung der Leidener Flasche.

      „Es wäre einfach“, prophezeite Nollet mit erstaunlicher Genauigkeit, „eine große Anzahl von Körpern gleichzeitig die Auswirkungen von Elektrizität spüren zu lassen, ohne sie zu bewegen, ohne sie zu stören, selbst wenn sie weit voneinander entfernt sind. Wir wissen nämlich, dass sich diese Kraft durch Ketten oder andere zusammenhängende Körper ganz leicht über die Distanz übertragen lässt. Durch ein paar Metallrohre, einige über große Entfernung gespannte Eisendrähte … tausend andere noch einfachere Mittel, die die gängige Industrie erfinden könnte, würde es gelingen, diese Effekte für die ganze Welt zugänglich zu machen. Und damit auch ihre Verwendung so weit wie gewünscht auszudehnen.“21

      Morin war geschockt. Was würde aus denen werden, die in der Nähe einer solchen Stromübertragung wären, dachte er sofort?

      „Die lebenden Organismen, die Zuschauer, würden schnell den Geist des Lebens, das Prinzip des Lichts und des Feuers, das sie belebt, verlieren … Das gesamte Universum oder zumindest eine Sphäre von immenser Größe ins Spiel zu bringen, in Aktion zu setzen, in Bewegung zu bringen, nur um einen kleinen elektrischen Funken knistern zu hören oder einen zwölf bis 15 Zentimeter langen strahlenden Heiligenschein am Ende einer Eisenstange zu erzeugen? Das würde wirklich bedeuten, wegen nichts für große Aufregung zu sorgen. Das elektrische Material in das Innere der dichtesten Metalle eindringen zu lassen und es dann ohne einen ersichtlichen Grund ausstrahlen zu lassen? Vielleicht wird sich das letztendlich als etwas Gutes herausstellen, aber die ganze Welt wird dem nicht unbedingt zustimmen.“22

      Nollet antwortete mit Sarkasmus: „Wirklich, ich weiß nicht, ob das ganze Universum unbedingt die Experimente fühlen muss, die ich in einer kleinen Ecke der Welt durchführe. Dieses fließende Material beispielsweise, das ich hier aus der Nähe zu meinem Fleckchen auf der Erde führe – wie sollte man denn davon etwas in China spüren? Hey, das wäre allerdings tatsächlich von entscheidender Tragweite! Was würde dann – wie Herr Morin so schön bemerkt – aus den lebenden Organismen, aus den Zuschauern werden!“23 Wie andere Schwarzseher, die vor neuen Technologien warnten, anstatt mit dem Strom mitzuschwimmen, war Morin nicht gerade der beliebteste Wissenschaftler seiner Zeit. Ich habe sogar gelesen, dass ein moderner Historiker ihn als „pompösen Kritiker“ verurteilte, als einen „Gladiator“, der sich gegen den elektrischen Visionär Nollet „erhob“.24 Aber die Unterschiede zwischen den beiden Forschern lagen in ihren Theorien und Schlussfolgerungen, nicht in den Tatsachen, die ihnen als Ausgangsbasis dienten. Die Nebenwirkungen von Elektrizität waren jedem bekannt – das änderte sich erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

      George Beard und Alphonso Rockwells maßgebliches Lehrbuch Medical and Surgical Electricity über medizinische und chirurgische Elektrizität aus dem Jahr 1881 widmete diesen Phänomenen zehn Seiten. Die Begriffe, die sie verwendeten, waren „Elektroempfänglichkeit“, bezogen auf diejenigen, die leicht durch Elektrizität verletzt werden konnten, und „Elektrosensibilität“ für diejenigen, die Elektrizität in einem ungewöhnlich starken Ausmaß wahrnahmen. 130 Jahre nach Morins ersten Warnungen sagten diese Ärzte: „Es gibt Personen, die durch Elektrizität immer verletzt werden. Der einzige Unterschied in der Auswirkung zwischen einer schwächeren und einer stärkeren Anwendung besteht darin, dass die Erstere weniger verletzend ist als die Letztere. Es gibt Patienten, bei denen jegliche elektrotherapeutischen Fähigkeiten und Erfahrungen erfolglos sind. Ihre Temperamente sind unvereinbar mit Elektrizität, sie stehen einfach nicht im Einklang mit ihr. Es spielt keine Rolle, welche spezielle Krankheit oder Symptome einer Krankheit sie haben – Lähmungen oder Neuralgien oder Neurasthenien oder Hysterie oder Erkrankungen bestimmter Organe – die unmittelbaren und dauerhaften Auswirkungen einer Galvanisierung oder Faradisierung, ob allgemein oder lokalisiert, sind schlimm – und zwar uneingeschränkt schlimm.“ Die Symptome, auf die man achten sollte, waren die gleichen wie im vorigen Jahrhundert: Kopf- und Rückenschmerzen; Reizbarkeit und Schlaflosigkeit; allgemeines Unwohlsein; Erregung oder Verschlimmerung von Schmerzen; gefährliche Erhöhung des Pulses; Frösteln wie zu Beginn einer Erkältung; Schmerzen, Steifheit und dumpfer Schmerz; starke Schweißausbrüche; Taubheit; Muskelkrämpfe; Licht- oder Geräuschempfindlichkeit; metallischer Geschmack und Ohrengeräusche.

      Die Elektroanfälligkeit komme verstärkt in Familien vor, sagten Beard und Rockwell, und sie machten die gleichen Beobachtungen hinsichtlich Geschlecht und Alter, die die ersten Elektropraktiker gemacht hatten: Frauen waren im Durchschnitt etwas empfänglicher für Elektrizität als Männer und aktive Erwachsene zwischen zwanzig und fünfzig Jahren kamen mit der Elektrizität schlechter zurecht als andere Altersgruppen.

      Wie bereits Humboldt waren auch sie über die Menschen erstaunt, die gegenüber elektrischer Energie unempfindlich waren. „Es sollte hinzugefügt werden“, sagten sie, „dass manche Menschen von Elektrizität unberührt bleiben – sie können sehr häufig und für lange Anwendungen fast jede Stromstärke aushalten, ohne dass dadurch weder eine gute noch eine schlimme Reaktion ausgelöst wird. Sie können der Elektrizität in unbegrenztem Maße ausgesetzt werden. Sie können förmlich damit durchtränkt werden, ohne dass es ihnen nach den Anwendungen in irgendeiner Weise besser oder schlechter geht. Sie waren frustriert darüber, dass es keine Möglichkeit gab, vorherzusagen, ob eine Person mit Elektrizität im Einklang stand oder nicht. „Einige Frauen“, stellten sie fest, „selbst diejenigen, die außerordentlich feingliedrig sind, können enorme Mengen an Elektrizität ertragen, während einige Männer, die sehr robust sind, überhaupt keine ertragen können.“25

      Offensichtlich ist Elektrizität kein gewöhnlicher Stressfaktor, obgleich viele moderne Ärzte – sofern sie überhaupt anerkennen, dass die Elektrizität unsere Gesundheit beeinträchtigt – dies glauben. Wir würden einen Fehler machen, wenn wir von der Anfälligkeit für Elektrizität auf den Gesundheitszustand einer Person schließen würden.

      Beard und Rockwell gaben noch keine Schätzungen über die Anzahl der Menschen ab, die nicht im Einklang mit Elektrizität stehen. Im Jahr 1892 berichtete der Ohrenarzt Auguste Morel jedoch, dass bei zwölf Prozent der gesunden Probanden die Wahrnehmungsschwelle zumindest für den hörbaren Effekt von Elektrizität sehr niedrig wäre. Mit anderen Worten: Zwölf Prozent der Bevölkerung waren und sind vermutlich immer noch in der Lage, ungewöhnlich niedrige elektrische Ströme zu hören.

      Im Gegensatz zur elektrischen Empfindlichkeit an sich, hat die Erforschung der menschlichen Sensitivität gegenüber dem Wetter eine lange und ehrwürdige Tradition. Sie reicht 5.000 Jahre zurück und begann in Mesopotamien sowie vor möglicherweise genauso langer Zeit in China und Ägypten. In seiner Abhandlung Über Luft, Wasser und Orte, die um 400 v. Chr. geschrieben wurde, sagte Hippokrates, dass das menschliche Befinden weitgehend vom Klima des Ortes, an dem man lebt, und seinen Nuancen bestimmt wird. Dieser Fachbereich – obgleich ignoriert und unterfinanziert – hat sich fest etabliert. Allerdings verbirgt der Name dieser Wissenschaft, „Biometeorologie“, ein offenes Geheimnis: Etwa 30 Prozent jeder Bevölkerung, unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft, sind wetterempfindlich. In einigen Lehrbüchern dieses Faches werden sie deshalb als elektrisch empfindlich eingestuft.26

      Die Internationale Gesellschaft für Biometeorologie wurde im Jahr 1956 vom niederländischen Geophysiker Solco Tromp mit Sitz in Leiden gegründet. Wie passend! Die Stadt also, die vor über zwei Jahrhunderten das elektrische Zeitalter einleitete. Und für die nächsten 40 Jahre – bis die Mobilfunkunternehmen Druck auf Forscher ausübten, einer gesamten, längst etablierten wissenschaftlichen Disziplin den Rücken zuzukehren27 – waren Bioelektrizität und Biomagnetismus Gegenstand intensiver Forschung. Beide Disziplinen standen im Mittelpunkt von einer der zehn ständigen Forschungsgruppen der Gesellschaft. Im Jahr 1972


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