Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg

Die Welt unter Strom - Arthur Firstenberg


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breiteten sich elektrische Felder aus, die die Straßen, Seitenwege und Räume der Häuser, die sie umwickelten, durchdrangen.

      Die historischen Zahlen geben einen Hinweis darauf, was da eigentlich passiert ist. Laut Electric Telegraph, George Prescotts Buch von 1860 über den elektrischen Telegrafen, lieferte eine typische Batterie, die in den Vereinigten Staaten für eine Drahtlänge von 160 Kilometern verwendet wurde, ein elektrisches Potenzial von ungefähr 80 Volt. Das entsprach „einer 12-Liter-Grove-Batterie“ bzw. einer 12-Liter-Nasszellenbatterie oder einem Stapel von 50 Paaren Zink- und Platinplatten.5 In den frühesten Systemen floss der Strom nur, wenn der Telegrafist die Sendetaste drückte. Es wurden fünf Buchstaben pro Wort angesetzt, und im Morse-Alphabet galten durchschnittlich drei Punkte oder Striche pro Buchstabe. Wenn der Telegrafist kompetent war, konnten im Durchschnitt 30 Wörter pro Minute gesendet und die Taste im Takt von 7,5 Anschlägen pro Sekunde gedrückt werden. Das entspricht fast der Grundresonanzfrequenz (7,8 Hz) der Biosphäre, auf die alle Lebewesen abgestimmt sind und deren durchschnittliche Stärke in den Lehrbüchern mit etwa einem Drittel eines Millivolt pro Meter angegeben wird. Wir werden das in Kapitel 9 näher beleuchten. Basierend auf dieser einfachen Annahme lässt sich leicht berechnen, dass die elektrischen Felder, die von den frühesten Telegrafendrähten ausgestrahlt wurden, bei dieser Frequenz bis zu 30-mal stärker waren als das natürliche elektrische Feld der Erde. In Wirklichkeit erzeugten die schnellen Unterbrechungen bei der Telegrafenverschlüsselung auch eine breite Palette von Hochfrequenzoberwellen, die sich ebenfalls entlang der Drähte bewegten und durch die Luft strahlten.

      Die Magnetfelder können ebenfalls geschätzt werden. Basierend auf den von Samuel Morse selbst angegebenen Werten für den elektrischen Widerstand von Drähten und Isolatoren6 variierte die Strommenge eines typischen Fernkabels je nach Länge der Leitung und den Wetterverhältnissen zwischen etwa 0,015 Ampere und 0,1 Ampere. Da die Isolierung nicht perfekt war, floss etwas Strom an jedem Telegrafenmast in die Erde ab. Dieser Fluss war bei Regen sogar noch stärker. Nun lässt sich unter Verwendung des veröffentlichten Wertes von 10-8 Gauß für das Magnetfeld der Erde bei 8 Hz eine interessante Rechnung durchführen: Bei dieser Frequenz überschießt das Magnetfeld eines einzelnen frühen Telegrafendrahts das natürliche Magnetfeld der Erde um drei bis zu fast 20 Kilometer auf beiden Seiten der Linie. Und da die Erde nicht überall gleichmäßig geformt ist, sondern unterirdische Wasserläufe, Eisenerzablagerungen und andere leitende Pfade verbirgt, über die der Rückstrom floss, war die Exposition der Bevölkerung gegenüber diesen neuen Feldern dementsprechend unterschiedlich.

      In Städten hatte jeder Draht etwa 0,02 Ampere und die Exposition war universell. Die London District Telegraph Company zum Beispiel hatte gewöhnlich Bündel von zehn Drähten, und die Universal Private Telegraph Company von bis zu 100 Drähten, die über die Straßen und Dächer eines Großteils der Stadt gespannt wurden.

      Obgleich sich die von London District benutzten Geräte und auch das Alphabet von denen in Amerika unterschieden, waren die Schwankungen der Stromstärken in den Drähten sehr ähnlich – etwa 7,2 Schwingungen pro Sekunde, wenn der Telegrafist 30 Wörter pro Minute übertrug.7 Und der Zeigertelegraf von Universal war eine handgekurbelte magneto-elektrische Maschine, die tatsächlich Wechselstrom durch die Drähte schickte.

      Ein unternehmerischer Wissenschaftler, John Trowbridge, Professor für Physik an der Harvard University, beschloss, seinen eigenen Standpunkt auf die Probe zu stellen. Er war sich nämlich sicher, dass Signale, die über an beiden Enden geerdete Telegrafendrähte gesendet werden, von ihren vorbestimmten Pfaden abweichen und leicht an entfernten Orten erkannt werden können. Sein Testsignal kam von der Uhr am Harvard Observatory, die Zeitsignale etwas mehr als sechs Kilometer per Draht von Cambridge nach Boston übertrug. Der Empfänger war ein neu erfundenes Gerät – ein Telefon – das an einen 150 Meter langen Draht angeschlossen und an beiden Enden geerdet war. Trowbridge stellte fest, dass er durch einen solchen Anschluss an die Erde das Ticken der Observatoriumsuhr bis zu 600 Meter vom Observatorium entfernt deutlich hören konnte. Und das an verschiedenen Punkten, die nicht einmal in Richtung Boston lagen! Daraus folgerte er, dass die Erde massiv mit Streustrom verseucht war. Seine Berechnungen, so Trowbridge, zeigten ihm, dass Strom, der aus den Telegrafensystemen Nordamerikas stammte, sogar auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans nachweisbar sei. Eine Person an der Küste Frankreichs sollte in der Lage sein, ein Morse-Signal zu hören, das über einen an beiden Enden geerdeten Draht von Nova Scotia nach Florida gesendet wurde. Voraussetzung dafür war, schrieb er, dass das Signal ausreichend stark war und gemäß seiner Methode mit der Erde verbunden wurde.

      Eine Reihe von Medizinhistorikern, die nicht sehr tief gegraben haben, behaupten, dass Neurasthenie keine neuartige Krankheit sei. Es hätte sich ja nichts geändert, und die High Society des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts litt in Wirklichkeit an einer Art Massenhysterie.8

      Eine Liste berühmter amerikanischer Neurastheniker liest sich wie das Who is Who der Literatur, der Künste und der Politik dieser Zeit. Dazu gehörten Frank Lloyd Wright, William, Alice und Henry James, Charlotte Perkins Gilman, Henry Brooks Adams, Kate Chopin, Frank Norris, Edith Wharton, Jack London, Theodore Dreiser, Emma Goldman, George Santayana, Samuel Clemens, Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson und eine Vielzahl anderer bekannter Persönlichkeiten.

      Historiker, die glauben, die Neurasthenie bereits in alten Lehrbüchern gefunden zu haben, sind durch Änderungen in der medizinischen Terminologie verwirrt worden. Genau diese Änderungen sind auch dafür verantwortlich, dass wir nicht wissen, was sich vor 150 Jahren auf unserer Erde abspielte. Zum Beispiel wurde der Begriff „nervös“ seit Jahrhunderten ohne die Freud‘schen Konnotationen verwendet. Im damaligen Sprachgebrauch bedeutete es einfach „neurologisch“. George Cheyne verwendete in seinem Buch The English Malady von 1733 den Begriff „Nervenstörung“ für Epilepsie, Lähmungen, Zittern, Krämpfe, Kontraktionen, Sensibilitätsverlust, geschwächten Intellekt, Komplikationen bei Malaria und Alkoholismus. Robert Whytts Abhandlung von 1764 über „nervöse Störungen“ ist ein klassisches Werk zur Neurologie. Wenn Gicht, Tetanus, Hydrophobie und Formen von Blind- und Taubheit als „nervöse Störungen“ bezeichnet werden, mutet das zunächst etwas verwirrend an. Aber wenn man in Betracht zieht, dass in der klinischen Medizin der Begriff „neurologisch“ erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Ausdruck „nervös“ ersetzte, wird alles verständlich. Die damalige „Neurologie“ bedeutet heute „Neuroanatomie“.

      Eine weitere Quelle der Verwirrung für heutige Leser ist die alte Verwendung der Begriffe „hysterisch“ und „hypochondrisch“ zur Beschreibung neurologischer Zustände des Körpers, nicht des Geistes. Die „Hypochondrien“ bezeichneten die Bauchregionen und „Hystera“ bedeuteten auf Griechisch die Gebärmutter. Wie Whytt in seiner Abhandlung erklärte, waren hysterische und hypochondrische Störungen jene neurologischen Erkrankungen, von denen angenommen wurde, dass sie ihren Ursprung in den inneren Organen haben, wobei „hysterisch“ traditionell bei Frauenkrankheiten und „hypochondrisch“ bei Männern angewendet wurde. Wenn Magen, Darm und Verdauung betroffen waren, wurde die Krankheit je nach Geschlecht des Patienten als hypochondrisch oder hysterisch bezeichnet. Wenn der Patient Anfälle, Ohnmachten, Zittern oder Herzklopfen hatte, die inneren Organe jedoch nicht betroffen waren, wurde die Krankheit einfach als „nervös“ bezeichnet.

      Die drakonischen Behandlungen, die bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die übliche medizinische Praxis waren und selbst oft schwerwiegende neurologische Probleme verursachten, verwirrten die Sachlage noch mehr. Diese basierten auf der Viersäfte- oder Humorallehre der Medizin, die Hippokrates im 5. Jahrhundert v. Chr. aufgestellt hatte. Er postulierte, dass jede Krankheit durch ein Ungleichgewicht der „Säfte“ – wobei die vier Körpersäfte Weißschleim, Gelbgalle, Schwarzgalle und Blut sind – verursacht wurde. Demzufolge war das Ziel der medizinischen Behandlung, den defizienten Körpersaft aufzubauen und diejenigen, die im Übermaß vorhanden waren, abzuleiten. Daher wurden alle größeren und kleineren medizinischen Beschwerden durch eine Kombination aus Entschlackung, Erbrechen, Schwitzen, Aderlass, Medikamenten und Diätvorschriften behandelt. Es bestand allerdings die Gefahr, dass die verschriebenen Medikamente neurotoxisch waren, da sie häufig schwermetallhaltige Präparate wie Antimon,


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