Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg
in seinem Labor in Blechschalen sprießen ließ. Die elektrifizierten Sprossen wuchsen viermal so hoch als normal, aber mit schwächeren und dünneren Stängeln.1
Um die Weihnachtszeit im Dezember desselben Jahres elektrifizierte Jean Jallabert Osterglocken-, Hyazinthen- und Narzissenzwiebeln in Karaffen, die mit Wasser gefüllt waren.2 Im folgenden Jahr elektrifizierte Georg Bose Pflanzen in Wittenberg3 und Abbé Menon in Angers.4 Für den Rest des 18. Jahrhunderts waren solche Vorführungen des Pflanzenwachstum bei Wissenschaftlern, die Reibungselektrizität untersuchten, äußerst beliebt. Die elektrifizierten Pflanzen keimten vorzeitig, wuchsen schneller und höher, öffneten ihre Blüten früher, hatten mehr Blätter und waren im Allgemeinen – aber nicht immer – belastungsfähiger.
Jean-Paul Marat beobachtete sogar, dass elektrifizierte Salatsamen im Dezember keimten, obgleich die Umgebungstemperatur nur zwei Grad über dem Gefrierpunkt lag.5
Giambatista Beccaria aus Turin war 1775 der Erste, der vorschlug, diese Effekte zum Nutzen der Landwirtschaft zu verwenden. Bald darauf stolperte Francesco Gardini, ebenfalls in Turin, über den entgegengesetzten Effekt: Pflanzen, denen das natürliche atmosphärische Feld vorenthalten war, wuchsen nicht so gut. Zur Erfassung der atmosphärischen Elektrizität wurde ein Netzwerk aus Eisendrähten über dem Boden gespannt. Zufälligerweise verliefen die Drähte jedoch über einem Teil eines Klostergartens und schützten dessen Pflanzen vor den atmosphärischen Feldern, die die Drähte messen sollten. Dieses Drahtnetz blieb für drei Jahre an Ort und Stelle. Die Gärtner, die sich um den Abschnitt unterhalb der Drähte kümmerten, beschwerten sich darüber, dass ihre Ernten an Früchten und Körnern um 50 bis 70 Prozent geringer waren als im Rest ihrer Gärten. Also wurden die Drähte entfernt, und die Produktion normalisierte sich wieder. Gardini zog eine bemerkenswerte Schlussfolgerung. „Hohe Pflanzen“, sagte er, „haben einen schädlichen Einfluss auf die Entwicklung von Pflanzen, die unter ihnen wachsen. Nicht nur, weil sie ihnen Licht und Wärme entziehen, sondern auch, weil sie auf ihre Kosten atmosphärischen Strom absorbieren.“6
Im Jahr 1844 war W. Ross der erste von vielen, der Elektrizität auf einem bepflanzten Feld anwendete. Er verwendete dabei eine Ein-Volt-Batterie. Sie ähnelte der, aus der Humboldt so erfolgreich Licht- und Geschmacksempfindungen hervorgerufen hatte, war aber größer. Er vergrub eine 1,5 Meter x 35 Zentimeter große Kupferplatte an einem Ende einer Saatreihe von Kartoffeln und 60 Meter entfernt eine Zinkplatte am anderen Ende. Dann verband er die beiden Platten mit einem Draht. Und im Juli erntete er Kartoffeln aus der elektrifizierten Reihe mit einem durchschnittlichen Durchmesser von sechs Zentimetern gegenüber einem Wert von nur eineinhalb Zentimeter aus der unbehandelten Reihe.7
In den 1880er-Jahren führte Professor Selim Lemström an der Universität Helsinki in Finnland umfangreiche Experimente mit einer Reibungsmaschine an Pflanzen durch, wobei er über seinen Pflanzen ein Netzwerk spitzer Drähte anbrachte, die mit dem Pluspol der Maschine verbunden waren.
Über einen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg stellte er fest, dass Elektrizität das Wachstum einiger Pflanzen stimulierte – Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Rüben, Pastinaken, Kartoffeln, Knollensellerie, Bohnen, Lauch, Himbeeren und Erdbeeren – während sie das Wachstum anderer – Erbsen, Karotten, Kohlrabi, Kohlrüben, Steckrüben, Kohl und Tabak – hemmte.
Und 1890 erfand Bruder Paulin, Direktor des Landwirtschaftlichen Instituts in Beauvais, Frankreich, eine Vorrichtung, die er als „Géomagnétifère“ bezeichnete. Damit zog er die atmosphärische Elektrizität herunter, wie es Benjamin Franklin einst mit seinem Drachen getan hatte. Auf einem zwölf bis 20 Meter hohen Mast befand sich eine Stange aus mehreren Eisenstäben, die in fünf spitzen Ästen endete. Auf jedem Hektar Land wurden vier solcher Masten aufgestellt und der von ihnen gesammelte Strom wurde in den Boden geführt und mittels unterirdischer Drähte an die Pflanzen verteilt.
Zeitgenössischen Zeitungsberichten zufolge war der Effekt optisch spektakulär. Alle Kartoffelpflanzen innerhalb eines scharf umrissenen, runden Bereichs waren – wie Superkulturen – grüner, größer und „doppelt so kräftig“ wie die Pflanzen im Umfeld. Der Kartoffelertrag in den elektrifizierten Bereichen war um 50 bis 70 Prozent höher als der von außerhalb. Das in einem Weinberg wiederholte Experiment ergab Traubensaft mit 17 Prozent mehr Zucker und Wein mit einem außergewöhnlich hohen Alkoholgehalt. Weitere Versuche auf Spinat-, Sellerie-, Radieschen- und Rübenfeldern waren ebenso beeindruckend. Andere Landwirte, die ähnliche Vorrichtungen verwendeten, erhöhten ihre Erträge an Weizen, Roggen, Gerste, Hafer und Stroh8.
All diese Experimente mit Reibungselektrizität, schwachen elektrischen Batterien und atmosphärischen Feldern lassen vermuten, dass nur wenig Strom für die Beeinflussung einer Pflanze benötigt wird. Aber bis zum Ende des 19. Jahrhunderts mangelte es bei den Experimenten an Präzision, und genaue Messungen standen nicht zur Verfügung.
Das bringt mich zurück zu Jagadish Chandra Bose.
Im Jahr 1859 hatte Eduard Pflüger ein einfaches Modell erstellt, wie elektrische Ströme die Nerven von Tieren beeinflussen. Wenn man zwei Elektroden an einem Nerv anbringt und den Strom plötzlich einschaltet, stimuliert die negative Elektrode (oder Kathode) kurzzeitig den Nervenabschnitt in ihrer Nähe, während die positive Elektrode (oder Anode) eine abdämpfende Wirkung hat. Wird der Stromkreis jedoch unterbrochen, so tritt genau das Gegenteil ein. Die Kathode, sagte Pflüger, erhöht die Erregbarkeit beim „Schließen“ des Stromkreises und verringert die Erregbarkeit beim „Unterbrechen“, während die Anode genau das Gegenteil verursachte. Während der Strom fließt und sich nicht ändert, beeinflusst er die vermeintliche nervöse Aktivität überhaupt nicht. Das Pflüger-Gesetz, das vor anderthalb Jahrhunderten formuliert wurde, wird bis heute weitgehend akzeptiert. Es bildet die Grundlage für moderne elektrische Sicherheitsvorschriften, durch die Stromschläge beim „Schließen“ oder „Unterbrechen“ von Stromkreisen ausgeschlossen werden sollen. Dabei verhindern sie aber nicht, dass niedriger, kontinuierlicher elektrischer Strom vom Körper aufgenommen wird, denn dieser wird als belanglos angesehen und fällt nicht weiter ins Gewicht.
Leider ist Pflügers Gesetz falsch. Bose hat das als Erster bewiesen. Ein Problem mit dem Pflügerschen Gesetz besteht darin, dass es auf Experimenten mit relativ starken Stromstärken in der Größenordnung von einem Milliampere (einem Tausendstel Ampere) beruhte. Aber wie Bose gezeigt hat, ist es sogar auch bei jenen Stärken unzutreffend.9 Ähnlich wie Humboldt bereits ein Jahrhundert vor ihm führte Bose Versuche an sich selbst durch, bei denen er eine Wunde in der Haut einer elektromotorischen Kraft von 2 Volt aussetzte. Zu seiner Überraschung machte die Kathode sowohl beim Schließen als auch beim Unterbrechen die Wunde viel schmerzhafter, solange der Strom floss, während die Anode – sowohl beim Schließen als auch bei Fließen des Stroms – die Wunde heilte. Aber genau das Gegenteil geschah, als er eine viel niedrigere Spannung anwendete. Bei einem Drittel Volt hatte die Kathode eine lindernde Wirkung auf die Wunde, die Anode dagegen reizte sie.
Nachdem Bose an seinem eigenen Körper experimentiert hatte, versuchte er als Botaniker ein ähnliches Experiment mit einer Pflanze. Er nahm einen 20 Zentimeter langen Nerv eines Farns und verband die Enden mit einer elektromotorischen Kraft von nur einem Zehntel Volt. Dadurch liefen ungefähr drei Zehnmillionstel Ampere durch den Nerv oder ungefähr tausendmal weniger als die Stromstärken, mit denen sich die meisten modernen Physiologen und Ersteller von Sicherheitsvorschriften in der Regel beschäftigten. Auch bei dieser niedrigen Stromstärke stellte Bose genau den umgekehrten Fall von Pflügers Gesetz fest: Die Anode stimulierte den Nerv und bei der Kathode reagierte er kaum. Offensichtlich kann die Wirkung der Elektrizität sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren je nach Stärke des Stroms Wirkungen erzeugen, die einander genau entgegengesetzt sind.
Trotzdem war Bose nicht zufrieden, da die Effekte unter bestimmten Umständen keinem Muster konsequent folgten. Vielleicht, vermutete er, war Pflügers Modell nicht nur falsch, sondern auch allzu simpel. Er spekulierte, dass die angelegten Stromstärken tatsächlich die Leitfähigkeit der Nerven und nicht nur ihre Ansprechschwelle veränderten. Bose stellte das überlieferte Wissen infrage, nach dem die nervöse Funktionsweise eine pure Alles-oder-Nichts-Reaktion war, denn dieses Wissen stützte sich lediglich auf Experimente von Chemikalien in einer wässrigen Lösung.
Seine