Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg

Die Welt unter Strom - Arthur Firstenberg


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      Der willkürliche Charakter der Influenza zeigt sich nicht nur an Land, sondern auch auf See. Mit der heutigen Reisegeschwindigkeit ist dies nicht mehr offensichtlich, aber in früheren Jahrhunderten, als Seeleute Wochen oder sogar Monate nach ihrer letzten Anlegestelle an Influenza erkrankten, war dies bemerkenswert. Im Jahr 1894 beschrieb Charles Creighton 15 verschiedene historische Fälle, in denen ganze Schiffe oder sogar viele Schiffe einer Flotte der Krankheit, weit entfernt von Land, unterlagen – geradeso, als wären sie in einen Influenza-Nebel gesegelt. In einigen Fällen entdecken sie bei ihrer Ankunft in ihrem nächsten Hafen, dass die Influenza gleichzeitig an Land ausgebrochen war. Creighton fügte einen Bericht über die zeitgenössische Pandemie hinzu: Die Handelsgesellschaft „Wellington“ war am 19. Dezember 1891 mit ihrer kleinen Besatzung von London nach Lyttelton, Neuseeland, gesegelt. Am 26. März, nach über drei Monaten auf See, wurde der Kapitän plötzlich von einer schweren fieberhaften Krankheit ergriffen. Als er am 2. April in Lyttelton ankam, „fand der an Bord kommende Lotse den Kapitän krank in seiner Schlafkoje und als ihm die Symptome mitgeteilt wurden, sagte er sofort: ‚Es ist die Influenza: Ich habe sie gerade selbst gehabt.‘“30

      Ein Bericht von 1857 war so überzeugend, dass William Beveridge ihn 1975 in sein Lehrbuch über Influenza aufnahm: „Das englische Kriegsschiff Arachne kreuzte vor der Küste Kubas‚ ohne jeglichen Kontakt mit dem Land.“ Wenigstens 114 aus einer Besatzung von 149 Mann erkrankten an Influenza, und erst später erfuhr man, dass es gleichzeitig Ausbrüche in Kuba gegeben hatte.“31

      Die Geschwindigkeit, mit der sich die Influenza ausbreitet, und ihr willkürliches und gleichzeitiges Verbreitungsmuster verblüffen Wissenschaftler schon seit Jahrhunderten. Dies war für einige der überzeugendste Grund, weiterhin zu vermuten, dass die atmosphärische Elektrizität die Ursache von Influenza sei, trotz der bekannten Anwesenheit eines ausführlich untersuchten Virus. Hier eine Auswahl alter und zeitgenössischer Beurteilungen:

      Wahrscheinlich wurde noch nie eine Krankheit beobachtet, der in kürzester Zeit so viele Menschen unterlagen wie bei der Influenza. Nahezu eine ganze Stadt oder zumindest ein Stadtviertel waren in wenigen Tagen betroffen. In der Tat, viel schneller als man im Fall einer Ansteckung annehmen würde.

      Mercatus berichtet, dass bei der Grippewelle in 1557 in Spanien der größte Teil des Volkes an einem einzigen Tag davon erfasst wurde.

      Dr. Glass sagt, als sie 1729 in Exeter weit verbreitet war, erkrankten 2.000 daran in einer Nacht.

      Dr. Shadrach Ricketson (1808),

      A Brief History of the Influenza32

      Die schlichte Tatsache ist, dass diese Epidemie innerhalb einer Woche eine ganze Region trifft; nein, innerhalb weniger Wochen sogar einen ganzen Kontinent so groß wie Nordamerika einschließlich aller Westindischen Inseln. Dabei war es unmöglich, dass die Einwohner eines so großen Gebiets innerhalb dieser kurzen Zeit miteinander Kontakt oder Umgang gehabt hätten. Diese Tatsache allein reicht aus, um jede Vorstellung einer Verbreitung durch Ansteckung von einem Individuum auf ein anderes außer Frage zu stellen.

      Dr. Alexander Jones (1827),

      Philadelphia Journal of the Medical and Physical Sciences33

      Im Gegensatz zur Cholera übertrifft sie in ihrem Verlauf die Geschwindigkeit, mit der Menschen miteinander Umgang haben können.

      Dr. Theophilus Thompson (1852),

      Annals of Influenza or Epidemic Catarrhal Fever in Great Britain from 1510 to 183734

      Eine Ansteckung allein reicht nicht aus, um den plötzlichen und gleichzeitigen Ausbruch der Krankheit in weit entfernten Ländern zu erklären. Hinzu kommt noch die merkwürdige Art und Weise, in der bekanntermaßen die Besatzungen von Schiffen auf See an ihr erkrankten, bei denen der Kontakt mit infizierten Orten oder Personen absolut ausgeschlossen werden kann.

      Sir Dr. Morell Mackenzie (1893),

      Fortnightly Review35

      Normalerweise bewegt sich die Influenza mit der gleichen Geschwindigkeit wie der Mensch, aber manchmal bricht sie anscheinend gleichzeitig in weit voneinander entfernten Teilen der Welt aus.

      Jorgen Birkeland (1949),

      Microbiology and Man36

      [Vor 1918] gibt es Aufzeichnungen über zwei weitere große Influenza-Epidemien in Nordamerika in den letzten zwei Jahrhunderten. Die erste davon ereignete sich 1789, dem Jahr, in dem George Washington zum Präsidenten ernannt wurde. Das erste Dampfschiff überquerte 1819 den Atlantik und der erste Dampfzug fuhr erst 1830. Dieser Ausbruch ereignete sich also, als ein galoppierendes Pferd die schnellste Beförderung des Menschen war. Trotz dieser Tatsache breitete sich der Influenza-Ausbruch von 1789 mit großer Geschwindigkeit aus; um ein Vielfaches schneller und weiter, als ein Pferd galoppieren könnte.

      Dr. James Bordley III und

      Dr. A. McGehee Harvey (1976),

      Two Centuries of American Medicine, 1776–197637

      Das Grippevirus kann von Mensch zu Mensch in Feuchtigkeitströpfchen aus den Atemwegen übertragen werden. Die direkte Konfrontation kann jedoch nicht für gleichzeitige Influenza-Ausbrüche an weit voneinander entfernten Orten verantwortlich sein.

      Roderick E. McGrew (1985),

      Encyclopedia of Medical History38

      Warum haben sich die epidemischen Modelle in Großbritannien in vier Jahrhunderten nicht verändert – Jahrhunderte, in denen die Geschwindigkeit des menschlichen Transports stark zugenommen hat?

      Dr. John J. Cannell (2008),

      „On the Epidemiology of Influenza“ aus: Virology Journal

      Die Rolle des Virus, das nur die Atemwege infiziert, hat einige Virologen verblüfft, da Influenza nicht nur oder nicht einmal hauptsächlich eine Atemwegserkrankung ist. Warum die Kopfschmerzen, die Augen- und Muskelschmerzen, die Erschöpfung, die gelegentliche Sehbehinderung, die Berichte über Enzephalitis, Myokarditis und Perikarditis? Warum Fehlgeburten, Totgeburten und Geburtsdefekte?39

      In der ersten Welle der Pandemie von 1889 in England standen neurologische Symptome im Vordergrund, während die respiratorischen Symptome ausblieben.40 Die meisten der 239 Grippepatienten von Amtsarzt Röhring im bayerischen Erlangen hatten neurologische und kardiovaskuläre Symptome und keine Atemwegserkrankung. Fast ein Viertel der zum 1. Mai 1890 in Pennsylvania gemeldeten 41.500 Grippefälle wurden primär als neurologisch und nicht respiratorisch eingestuft.41 Nur wenige Patienten von David Brakenridge in Edinburgh oder von Julius Althaus in London hatten Atembeschwerden. Stattdessen litten sie an Schwindel, Schlaflosigkeit, Verdauungsstörungen, Verstopfung, Erbrechen, Durchfall, „völlige[r] Erschöpfung der geistigen und körperlichen Stärke“, Neuralgie, Delirium, Koma und Schüttelkrämpfen. Nach der Genesung verblieben viele Beschwerden wie Neurasthenie oder sogar Lähmungen oder Epilepsie. Anton Schmitz veröffentlichte einen Artikel mit dem Titel „Wahnsinn nach Influenza“ und schlussfolgerte, dass Influenza in erster Linie eine epidemische Nervenkrankheit war. C. H. Hughes nannte Influenza eine „toxische Neurose“. Morell Mackenzie stimmte zu:

      Meiner Meinung nach liegt die Antwort auf das Rätsel der Influenza in vergifteten Nerven … In einigen Fällen erfasst sie den Teil (des Nervensystems), der die Atmungsmaschinerie steuert, in anderen den Teil, der die Verdauungsfunktionen kontrolliert; bei anderen scheint es gewissermaßen so, als würde an nervösen Tasten hinauf- und hinuntergespielt, um so den empfindlichen Mechanismus zu stören und Unordnung und Schmerzen in verschiedenen Körperteilen mit einer fast böswilligen Willkür aufzuwirbeln … Da die Nahrung für jedes Gewebe und jedes Organ im Körper unter der direkten Kontrolle des Nervensystems steht, folgt daraus, dass alles, was das Letztere betrifft, eine nachteilige Wirkung auf das Erstere hat. So ist es nicht verwunderlich, dass die Influenza in vielen Fällen ihre Spuren durch eine beschädigte Struktur hinterlässt. Nicht nur die Lunge, sondern auch die Nieren, das Herz und andere innere Organe


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