Die Welt unter Strom. Arthur Firstenberg
ab“.
Schon lange vor diesem Ereignis hätte eine Anekdote von Dickens als Warnung dienen können. Er hatte das St. Luke’s Hospital for Lunatics, eine Anstalt für Geisteskranke, besucht. „Wir kamen an einem Mann mit Gehörlosigkeit vorbei“, schrieb er, „der jetzt von unheilbarem Wahnsinn geplagt ist.“ Dickens fragte, was die Beschäftigung des Manns gewesen sei. „Ja“, sagt Dr. Sutherland, „das ist das Bemerkenswerteste dabei, Mr. Dickens. Seine Aufgabe war die Übermittlung von elektrischen Telegrafennachrichten“. Man schrieb den 15. Januar 1858.13
Auch Telefonisten erlitten häufig bleibende Gesundheitsschäden. Ernst Beyer schrieb, dass von 35 Telefonisten, die er während eines Zeitraums von fünf Jahren behandelt hatte, keine einzige Person zur Arbeit zurückkehren konnte. Hermann Engel hatte 119 solcher Patienten. P. Bernhardt hatte über 200. Deutsche Ärzte haben diese Krankheit gewohnheitsgemäß der Elektrizität zugeschrieben. Und nachdem Karl Schilling Dutzende solcher Publikationen überprüft hatte, veröffentlichte er 1915 eine klinische Beschreibung der Diagnose, Prognose und Behandlung von Krankheiten, die durch chronische Exposition gegenüber Elektrizität verursacht wurden. Diese Patienten hatten typischerweise Kopfschmerzen und Schwindelgefühle, Tinnitus und bewegliche Flecken in den Augen, die das Sichtfeld beeinträchtigten, einen rasenden Puls, Schmerzen im Bereich des Herzens und Herzklopfen. Sie fühlten sich schwach und erschöpft und konnten sich nicht konzentrieren. Sie konnten nicht schlafen. Sie waren depressiv und hatten Panikattacken. Sie zitterten. Ihre Reflexe waren erhöht und ihre Sinne hyperakut. Manchmal war ihre Schilddrüse hyperaktiv. Gelegentlich, nach langer Krankheit, war ihr Herz vergrößert. Ähnliche Beschreibungen kamen im Laufe des 20. Jahrhunderts von Ärzten aus den Niederlanden, Belgien, Dänemark, Österreich, Italien, der Schweiz, den Vereinigten Staaten und Kanada.14 Im Jahr 1956 berichteten Louis Le Guillant und seine Kollegen, dass es in Paris „keinen einzigen Telefonisten gibt, der diese nervöse Müdigkeit nicht mehr oder weniger stark verspürt. Sie beschrieben Patienten mit Erinnerungslücken, die weder ein Gespräch führen noch ein Buch lesen konnten, die ohne Grund mit ihren Männern stritten und ihre Kinder anschrien, die Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen, Druck auf der Brust, Ohrengeräusche, Sehstörungen und Gewichtsverlust hatten. Ein Drittel ihrer Patienten war depressiv oder selbstmörderisch, fast alle litten an Angstzuständen und über die Hälfte an Schlafstörungen.
Noch im Jahr 1989 berichtete Annalee Yassi von weitverbreiteten „psychogenen Erkrankungen“ bei Telefonisten in Winnipeg, Manitoba und St. Catharines in Ontario. In Montreal teilte Bell Canada mit, dass 47 Prozent der Vermittlungsmitarbeiter in Verbindung mit der Arbeit über Kopfschmerzen, Müdigkeit und Muskelschmerzen klagten.
Dann gab es das „Eisenbahnrückgrat“, eine falsch benannte Krankheit, die bereits 1862 von einer Kommission untersucht wurde, die von der britischen medizinischen Fachzeitschrift Lancet berufen wurde. Laut der Kommissionsmitglieder waren Vibrationen, Lärm, Fahrgeschwindigkeit, schlechte Luft und pure Angst an der Krankheit schuld. Alle diese Faktoren waren vorhanden und trugen zweifellos ihren Anteil dazu bei. Allerdings gab es noch etwas anderes, das sie nicht berücksichtigten. Denn bis 1862 verlief jede Eisenbahnstrecke zwischen einer oder mehreren Telegrafenleitungen über ihr. Der Rückstrom aus diesen Drähten schoss nach unten, und ein Teil dieses Stroms floss entlang der Metallschienen, auf denen die die Passagierwaggons rollten. Fahrgäste und Zugpersonal litten häufig unter denselben Beschwerden, über die später Telegrafisten und Telefonisten berichteten: Müdigkeit, Reizbarkeit, Kopfschmerzen, chronisches Schwindelgefühl, Übelkeit, Schlaflosigkeit, Tinnitus, Schwäche und Taubheit. Sie litten an schnellem Herzschlag, unregelmäßigem Puls, Gesichtsrötung, Schmerzen in der Brust, Depressionen und sexueller Dysfunktion. Einige wurden stark übergewichtig. Manche bluteten aus der Nase oder spuckten Blut. In ihren Augen verspürten sie einen „ziehenden“ Schmerz, als würden sie tief in ihre Sockel gesogen. Ihr Sehvermögen und ihr Gehör verschlechterten sich und einige wurden sogar allmählich gelähmt. Ein Jahrzehnt später wurde bei ihnen Neurasthenie diagnostiziert – so wie es später bei vielen Eisenbahnangestellten der Fall war.
Die Beobachtungen von Beard und der medizinischen Gemeinschaft des späten 19. Jahrhunderts über Neurasthenie, die am meisten ins Auge springen, sind folgende:
Sie breitete sich entlang der Eisenbahnstrecken und Telegrafenlinien aus.
Sie betraf sowohl Männer als auch Frauen, Reiche und Arme, Intellektuelle und Bauern.
Die Betroffenen waren oft wetterempfindlich.
Sie ähnelte manchmal der Erkältung oder Influenza.
Sie kam gehäuft in Familien vor.
Sie griff am häufigsten Menschen in der Blütezeit ihres Lebens an: Menschen im Alter von 15 bis 45 Jahren nach Beard, von 15 bis 50 Jahren nach Cleaves, von 20 bis 40 Jahren nach H. E. Desrosiers,15 von 20 bis 50 Jahren nach Charles Dana.
Sie senkte die Toleranz gegenüber Alkohol und Medikamenten.
Sie machte die Menschen anfälliger für Allergien und Diabetes.
Neurastheniker lebten im Durchschnitt länger als andere Menschen.
Und manchmal – ein Zeichen, dessen Bedeutung in Kapitel 10 erörtert wird – war der Urin der an Neurasthenie Leidenden rötlich oder dunkelbraun.
Schließlich entdeckte der deutsche Arzt Rudolf Arndt die Verbindung zwischen Neurasthenie und Elektrizität. Seine Patienten, die Elektrizität nicht tolerieren konnten, faszinierten ihn. „Selbst den schwächsten galvanischen Strom“, schrieb er, „so schwach, dass er die Nadel eines Galvanometers kaum bewegte und von anderen Menschen nicht im Geringsten wahrgenommen wurde, empfanden sie als höchst unangenehm.“ Er schlug 1885 vor, dass „Elektrosensibilität charakteristisch für hochgradige Neurasthenie ist“. Er prophezeite auch, dass die Elektrosensibilität „nicht unwesentlich zur Aufklärung von Phänomenen beitragen kann, die jetzt noch rätselhaft und unerklärlich erscheinen“.
Er schrieb dies inmitten einer intensiven, unerbittlichen Eile, die ganze Welt verdrahten zu wollen, angetrieben von einer Akzeptanz – ja, sogar einer Art Verherrlichung – der Elektrizität, die diese nicht infrage stellte. Er schrieb, als wüsste er, dass er damit seinen Ruf aufs Spiel setzen würde. Seiner Meinung nach scheiterte das sachgerechte Studium der Neurasthenie zum Großteil daran, dass Menschen, die weniger empfindlich auf Elektrizität reagierten, ihre Auswirkungen überhaupt nicht ernst nahmen: Stattdessen verbannten sie diese in das Reich des Aberglaubens und warfen somit „die Hellseherei, vermischt mit Gedankenlesen und Medialität, in einen Topf“.16
Diesem Hemmschuh für den Fortschritt begegnen wir sogar heute noch.
Die Umbenennung
Im Dezember 1894 schrieb ein aufstrebender Wiener Psychiater eine Arbeit, deren Einfluss enorm war und deren Konsequenzen für nachfolgende Wissenschaftler tiefgreifend und bedauerlich waren. Seinetwegen wird die Neurasthenie, die immer noch die häufigste Krankheit unserer Zeit ist, als normales Element des menschlichen Zustands akzeptiert, für das keine äußere Ursache gesucht werden muss. Seinetwegen wird allgemein angenommen, dass Umweltkrankheiten, d. h. Krankheiten, die durch eine toxische Umgebung verursacht werden, nicht existieren. Ihre Symptome werden automatisch auf Gedankenstörungen und außer Kontrolle geratene Emotionen zurückgeführt. Seinetwegen verschreiben wir heute Millionen von Menschen Xanax, Prozac und Zoloft, anstatt ihre Umgebung zu reinigen. Vor über einem Jahrhundert, zu Beginn einer Ära, in der der Einsatz von Elektrizität nicht nur für die Kommunikation, sondern auch für Licht, Antrieb und Zugkraft mit Volldampf in Gang gesetzt wurde, benannte Sigmund Freud die Neurasthenie in „Angstneurose“ und ihre Krisen in „Angstattacken“ um. Heute nennen wir sie auch „Panikattacken“.
Die von Freud aufgeführten Symptome sind neben der Angst jedem Arzt, jedem „Angst“-Patienten und jeder Person mit Elektrosensibilität bekannt:
Reizbarkeit
Herzklopfen, Herzrhythmusstörungen und Brustschmerzen
Atemnot