Erinnerungen. Bruno Kreisky

Erinnerungen - Bruno Kreisky


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hineingedrängt – ganz anders als in Deutschland, wo die Kritiker des Wilhelminismus bei aller Schwäche von einer starken Hoffnung beseelt waren. So haben die österreichischen Intellektuellen einiges zum Untergang der Monarchie beigetragen. In ihrer unfassbaren Arroganz haben die deutschsprechenden Intellektuellen die der anderen Nationalitäten immer wieder zurückgestoßen.

      Der Sturz der Monarchie hätte nicht in jedem Fall den Untergang des Vielvölkerstaates bedeuten müssen. Nur, weil es so gekommen ist, glaubt man, beides sei ein und derselbe historische Vorgang gewesen. Aus der Monarchie hätte auch eine große übernationale Republik werden können. Vielleicht wäre vieles sogar leichter gegangen, wenn die Dinge früh genug diesen Lauf genommen hätten. In meinen Augen ist es eine Zwecklegende zur Verteidigung der monarchischen Idee, wenn man immer wieder behauptet, es sei die Person des greisen Monarchen gewesen, die das Reich zusammengehalten habe, oder die Krone sei die Klammer gewesen. Die Äußerungen der handelnden Zeitgenossen sagen das Gegenteil. Ich habe mich mit dieser Frage beschäftigt und weiß zum Beispiel, dass Thomas Masaryk bis zuletzt von der Hoffnung erfüllt war, das alte Reich ließe sich umgestalten. Seine Schriften und Reden belegen das vielfach, und noch 1930, als er schon Präsident der tschechoslowakischen Republik war und die Erinnerung an seine Bemühungen um eine Neugestaltung des alten Reiches ihm eher peinlich sein musste, hat er in seinem Buch Weltrevolution keinen Hehl daraus gemacht, dass er den Weg nach Paris erst sehr spät gefunden habe.

      Man kann auch noch weiter zurückgehen und an den berühmten panslawistischen Kongress im Jahre 1848 denken. Im gleichen Jahr, in dem die Deutschen Österreichs ihre Delegierten in die Frankfurter Paulskirche schickten, kamen die Slawen aus allen Teilen Österreichs in Prag zusammen und fassten jene Beschlüsse, von denen man in der offiziellen Geschichtsschreibung Österreich-Ungarns leider viel zu wenig erfährt. Der tschechische Historiker František Palacky hat damals den Ausspruch getan: »Existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europas, im Interesse der Humanität selbst, sich beeilen, ihn zu schaffen.« Dass dieser Kongress mit der Forderung nach einem deutschen, einem tschechischen, einem polnischen, einem illyrischen, einem italienischen, einem südslawischen, einem magyarischen Österreich abgeschlossen wurde, dass also der Name der jeweiligen Nationalität immer mit dem Namen Österreichs verbunden sein sollte, offenbart, dass es keine grundsätzliche Österreichfeindlichkeit gegeben hat, wie heute immer wieder behauptet wird. Es ist eine Geschichtsklitterung, wenn man von einem abgrundtiefen Hass der Tschechen, Polen, Kroaten und all der anderen Völkerschaften gegen Österreich spricht. Noch 1899, beim Brünner Parteitag der Sozialdemokraten, war das Nationalitätenprogramm die große Parole: Statt dass sich die Arbeiter mit ihrem eigenen Elend auseinandergesetzt hätten, diskutierten sie nationale Fragen und bekundeten dem Programm die größte Zustimmung durch Hoch- und Nazdar-Rufe.

      Konservative Historiker sind, wie ich weiß, anderer Meinung. Sie gehen zurück zum Reichstag von Kremsier und behaupten, damals sei das Schicksal der Monarchie bereits entschieden worden. Der Reichstag von Kremsier fand 1848/​49 statt, und der Zusammenbruch Österreichs war 1918; dazwischen liegen siebzig Jahre. Und in diesen siebzig Jahren soll es keine andere Aufgabe für die österreichischen Politiker gegeben haben, als sich damit abzufinden, dass der Kremsierer Reichstag den Untergang des Reiches besiegelt habe? Dann hätten Politiker wie Renner und Adler, Masaryk und Daszynski, dann hätten sie alle keine andere Rolle mehr zu spielen gehabt, als dem Zerfall des Reiches untätig zuzusehen? Sollte die Geschichte nur den Zweck erfüllen, um jeden Preis nachzuweisen, dass alles so kommen musste, wie es kam? Das ist eine durchaus eindimensionale Auffassung von der Geschichte, und jegliche Politik hätte ihren Sinn verloren. Man muss den Bewegungen, die eine weniger passive Rolle der Politik für sich beanspruchen, zumindest die Ehre zuteil werden lassen, ihre Alternativen ernst zu nehmen.

      Alles in allem drängt sich mir die Überzeugung auf, dass die Monarchie eine jener großen historischen Möglichkeiten war, die niemals genutzt wurden. Bisweilen will mir die ganze österreichische Politik in den letzten hundert Jahren der Monarchie als ein tragisches Gewebe aus Trugschlüssen, Missverständnissen und verpassten Gelegenheiten erscheinen, und ohne Zweifel trifft die damals Verantwortlichen ein gerüttelt Maß an Schuld. Immer wieder blieb man auf halbem Wege stehen und dachte viel zu spät über Kompromisse nach. So wurden radikal nationalistische Flügel immer stärker, und sogar die Sozialdemokraten waren am Ende von dieser Unduldsamkeit angesteckt. Die auf Versöhnung hin drängenden Vertreter der Nationalitäten dagegen wie Thomas Masaryk oder Siegmund Kunfi verloren zunehmend an Einfluss. Am Ballhausplatz gab man sich bis zuletzt Illusionen hin.

      Die Frage, die man stellen muss, lautet: Wie hätte der Desintegrationsprozess sich denn vollzogen, wäre der Weltkrieg nicht gekommen? In Form einer Revolution? Ich glaube kaum. Viele der industrialisierten Länder der Monarchie hatten bereits eine so ausgeprägte Klassenstruktur, dass es eine echte nationale Revolution ohne Krieg wohl nicht gegeben hätte. Es wäre etwas ganz anderes, wahrscheinlich etwas sehr Improvisiertes zustande gekommen, und vielleicht hätte sich die alte österreichische Staatsweisheit wieder bewährt: C’est le provisoire, qui dure, es ist das Provisorium, das dauert.

      Renner war ja schon in seinem großen Buch von 1902 der Auffassung, dass, wenn die Nationalstaaten wie Kantone zu einem Bundesstaat freier Völker zusammengeschlossen wären, in den einzelnen Regionen die Klassengegensätze sich entwickeln würden, die bisher von den nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen nur übertüncht seien. Dann erst werde ein modernes Staatswesen aus Österreich, ein in Klassen gegliedertes Reich, und es werde in den Ländern der Monarchie zu einer wirklichen Solidarisierung der Arbeiterschaft über die nationalen Barrieren hinweg kommen.

      Es ist ganz interessant, dass am Jännerstreik 1918, der den Zusammenbruch der Monarchie signalisierte, die Matrosen in Cattaro, einem der wichtigsten österreichischen Kriegshäfen, genauso teilgenommen haben wie die Tschechen in Kladno. Die Aktionseinheit ging jedoch über die Negation der Monarchie nicht hinaus. Meinen Freund Felix Stika, der damals in den großen Munitionsfabriken um Wiener Neustadt herum aktiv war und als einer der Helden dieses Streiks galt, habe ich einmal gefragt, ob sie sich eigentlich bewusst gewesen seien, dass das der Anfang vom Ende sein werde. Er hat das verneint; wenn der Friede kommt, hätten sie damals gedacht, dann werde sich schon alles finden.

      Mein Großvater Benedikt Kreisky war ursprünglich Lehrer in Kaladei, einem kleinen böhmischen Dorf nicht weit von Budweis. In dieser Gegend gab es zwei besondere soziale Gruppen: Zum einen die sogenannten »Böhmischen Brüder«, eine religiöse Minderheitsbewegung, und zum andern zahlreiche jüdische Bauern. Die Böhmischen Brüder hatten gehofft, ähnlich wie die Protestanten und Juden, eine Art Toleranzpatent zu bekommen, und waren in dieser Frage bei Joseph II. vorstellig geworden. Der Kaiser hat sich dazu aber nicht bereit gefunden, weil er offenbar fürchtete, auf diese Weise eine tschechische Nationalkirche zu initiieren, um die herum eine Nationalbewegung entstehen könnte. Als den Böhmischen Brüdern die erhofften Rechte nicht gewährt wurden, sollen viele von ihnen, besonders in der Gegend um den Tabor, zum Judentum übergetreten sein, weil ihnen die Liturgie des Judentums mehr zusagte als die des Katholizismus. Das erklärt, warum es unter den böhmischen Juden nicht nur viele Bauern, sondern auch relativ viele tschechische Namen gegeben hat.

      In dieser Gegend also hat mein Großvater seine Schule gefunden, begünstigt durch die uralte tschechische Adelsfamilie Wratislaw. Der tschechische Uradel wollte eigentlich mit dem Wiener Hof wenig zu tun haben; das Haus Habsburg hat man in der Regel als Usurpator betrachtet. Die ersten religiösen Emigranten kamen aus den alten tschechischen Adelsfamilien, noch vor der Reformation. Der mährische Statthalter Zierotin – auch er ein Mann des tschechischen Hochadels – hat sich damals an die emigrierten Aristokraten in Dänemark gewandt, um sie zur Rückkehr zu veranlassen. Es waren Namen dabei, die heute ganz deutsch klingen, wie Thurn, Kinsky oder Schwarzenberg. Zur Geschichte des österreichischen Adels gehört, dass viele Familien tschechischen Ursprungs sind, und Schwarzenbergs zum Beispiel, die größten Grundbesitzer heute, reden zu Hause noch immer tschechisch. Man darf auch nicht vergessen, dass der »Herzog von Österreich« merkwürdigerweise ein Tscheche war, Ottokar II. Přemysl. Er hatte den Bau der Wiener Hofburg entscheidend gefördert und die historische Teilung Österreichs in ein Land oberhalb und unterhalb der Enns vorgenommen. Wahrscheinlich


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