Erinnerungen. Bruno Kreisky
In Wien ist der Fremdenhass zu Hause: mit rechtsradikalen Parolen beschmiertes »Kolaric«-Plakat, Anfang der Siebzigerjahre.
Man vergisst, dass Wien um die Jahrhundertwende noch eine Stadt der Fremdarbeiter war, die in den großen Arbeiterbezirken nicht selten die Mehrheit ausmachten. Das Wiener Telefonbuch verzeichnet heute noch eine große Zahl von slawischen und anderen ausländischen Namen, und wenn das Fußballspiel Österreich – Tschechien stattfindet, weiß man, wenn man sich die Spielerliste anschaut, nicht genau, welche Mannschaft die österreichische und welche die tschechische ist.
Eine der stärksten Triebkräfte des Anschlussgedankens war die österreichische Sozialdemokratie, und hier vor allem der Deutschnationalismus Otto Bauers, des großen österreichischen Sozialisten. Otto Bauer hat sich immer nur als österreichischer Deutscher verstanden. Das hatte nicht nur mit seiner deutschböhmischen Herkunft zu tun, sondern auch mit ideologischen Gründen. Bauer ging davon aus, dass die Ideen des Sozialismus sich nur in einem großen Land verwirklichen ließen. Angesichts der multinationalen Gegensätze im alten Reich könne es, so meinte er, keine Revolution durch Klassenkampf geben, und eine Revolution in Österreich würde ohnehin niemand ernst nehmen. Hinzu kam seine gefühlsmäßige Verbundenheit mit allem Deutschen. Die deutschen Philosophen und Dichter, die Historiker und Naturwissenschaftler waren seine großen Leitfiguren.
Als die österreichische Delegation 1919 in Saint-Germain das Anschlussverbot akzeptieren musste, trat Bauer als Staatssekretär für Äußeres zurück und schied aus der Regierung aus. In einer großen Rede vor den Wählerinnen und Wählern seines Wahlkreises hat er diesen Schritt begründet. Er und einige andere, die ihm politisch eigentlich feindselig gesinnt waren, haben den Gedanken vertreten, man dürfe sich nicht dem Diktat der Entente beugen, sondern müsse den Anschluss als ein Fait accompli verwirklichen. Um vollendete Tatsachen zu schaffen, wollte man – typisch österreichisch – erst einmal Gespräche in Berlin führen. Man beauftragte damit den österreichischen Gesandten in Berlin, Ludo Moritz Hartmann. An diesen Gesprächen nahm unter anderem auch ein junger Botschaftssekretär teil, Carl Buchberger, der mit mir in Schweden in der Emigration war. Gegen einen Einspruch der Alliierten wollte man sich wehren, notfalls durch einen neuerlichen Ruf zu den Waffen, und zwar zu den Waffen der Revolution. Schließlich glaubte man in Deutschland eine revolutionäre Demokratie im Entstehen. Und dieser ganze Traum ist nach Aussage meines Freundes Buchberger daran gescheitert, dass man sich nicht über den Umrechnungskurs von Kronen und Mark einigen konnte.
Aber das Thema kam zurück wie ein Bumerang. Als Hitler 1938 Österreich okkupierte, wollten alle Sozialdemokraten von Otto Bauer eine Antwort darauf, wie man sich jetzt verhalten solle. Bauers Antwort war lapidar: » … die Parole, die wir der Fremdherrschaft der faschistischen Satrapen aus dem Reiche über Österreich entgegensetzen, kann nicht die reaktionäre Parole der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs sein, sondern nur die revolutionäre Parole der gesamtdeutschen Revolution … «
Das lief in Wirklichkeit auf eine Sanktionierung des »Anschlusses« hinaus. Karl Renner hat dies dann offiziell auch getan. So phantasievoll er als Politiker sonst auf jede neue Situation reagierte, so unvorstellbar war für ihn, dass sich an den von Hitler geschaffenen Tatsachen während seiner Lebensspanne noch etwas ändern werde. Die Geschichte hatte gesprochen, und dem musste man sich beugen, meinte er, fast möchte ich sagen, wie ein Rohr im Winde. Inwieweit persönliche Motive, Angst um seinen Schwiegersohn und dergleichen, dabei eine Rolle gespielt haben, weiß ich nicht. Es gibt für ein bestimmtes politisches Verhalten eben viele Gründe, subjektive wie objektive, und jedenfalls kam es mir so vor, als ließe sich Renner immer auf eine gegebene Situation ein.
Das hat Renner nicht gehindert, im April 1945 Kanzler der ersten provisorischen Regierung zu werden und schließlich auch Bundespräsident. Den Krieg über hatte er in einem kleinen Haus in Gloggnitz gelebt, und die Nazis hatten ihn vollkommen in Ruhe gelassen. Wenn heute oft gesagt wird, das ganze Volk sei dem Irrtum des Nazismus erlegen, dann tut man zwar vielen Hunderttausenden unrecht, aber der Eindruck ist nun einmal entstanden, dass es ein ganzes Volk gewesen ist, und warum sollten wir Renner etwas vorwerfen, was viele andere auch getan haben, nur halt nicht an so prominenter Stelle wie er.
Ich persönlich habe den »Anschluss« niemals akzeptiert, weder im Rückblick auf die Jahre nach dem Krieg noch Ende der Zwanziger-, Anfang der Dreißigerjahre, als ich mir meine ersten Sporen in der Politik verdiente, und schon gar nicht 1938. Als junger Funktionär, der mitverantwortlich war für die Bildungsarbeit der Partei, musste ich jahrelang Themenvorgaben machen. Ich habe mich manchmal selber lustig darüber gemacht, wie ich da über die ganze Weltgeschichte vom Urnebel bis zum Sozialismus disponierte, aber nicht ein einziges Mal bin ich für das Thema »Anschluss« in politisch militanter Weise eingetreten.
So wenig zwingend der Anschlussgedanke an Deutschland für mich war, so einleuchtend war mir, dass Österreichs Möglichkeiten sich erst durch Zusammenarbeit über Grenzen hinweg entfalten. Auch die politischen Ideen, denen ich ergeben bin, lassen sich in einem größeren Raum sehr viel besser und wirkungsvoller umsetzen als im kleinen Österreich.
Zudem hat sich für mich, der ich zu den Epigonen des alten Österreich gehöre, die Idee eines übernationalen staatlichen Gebildes immer als eine Herausforderung an die Internationalität der Sozialdemokratie dargestellt. Dabei weiß ich sehr gut, dass von mir hochgeschätzte Zeithistoriker wie Hans Mommsen nachzuweisen in der Lage sind, dass der Internationalismus der Sozialdemokratie, wenn es darauf ankam, immer wieder versagt hat. Aber dem muss man entgegenhalten, dass die objektiven Voraussetzungen für die Verwirklichung sozialdemokratischer Ideen eben nicht vorhanden waren und dass sich die Politiker immer wieder gezwungen sahen, mit der Realität fertig zu werden.
Der Zerfall des alten Reiches war ein Rückschritt in dreifacher Hinsicht: wirtschaftlich, weil die Idee einer mitteleuropäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein vorzügliches Modell für den Westen Europas gewesen wäre und ihm viel von den mühevollen Umwegen zur Integration erspart hätte. Wir haben diese wirtschaftliche Integration besessen; wir hätten sie weiterpflegen müssen. Der Zerfall des alten Reiches ist darüber hinaus aber auch politisch ein schwerer Rückschlag gewesen, weil viele der Nachfolgestaaten des alten Österreich aus übersteigertem Nationalgefühl an undemokratische Regierungsformen gerieten, und ganz am Ende hat das zur Machtergreifung des Kommunismus geführt. Und zum dritten war das Ende dieses Reiches deshalb verhängnisvoll, weil damit eine übernationale Kulturgemeinschaft zerfallen war, die viele Gesichter besaß und dennoch eine große Einheit bildete. Von Haydn bis Smetana, von Mozart bis Dvořák, von Bruckner bis Mahler reichte ein Kulturkreis, dessen Wurzeln in vielen Ländern gelegen sind. In jedem Bereich der österreichischen Kultur stößt man auf Namen, die ohne den Habsburger Vielvölkerstaat gar nicht denkbar sind. In kleinen Ländern oder in den Nachfolgestaaten, die aus diesem Reich entstanden sind, hätten sich viele schöpferische Kräfte wahrscheinlich gar nicht entwickeln können.
Auch ich bin ein Produkt der kulturellen Atmosphäre des alten Reiches, die im Wien der zwanziger Jahre als Rest noch weiterbestand, mit all dem Pessimismus freilich, der sich über sie gebreitet hatte. Das kulturelle Leben war geprägt von Melancholie und Verdrossenheit, und über allem lag die Dunstglocke der Hoffnungslosigkeit. Das Österreich von damals war eine manchmal skurrile, sehr intellektuelle und liebenswerte Mischung aus Herzmanovsky-Orlando, Musil und Kafka, eine Mischung, für die ich sehr viel Verständnis hatte, die ich für mich aber nicht gelten lassen wollte und die am Ende auch nicht meine Lebensmaxime geworden ist.
Wie die Biografien zahlreicher österreichischer Literaten aus dem ersten Drittel dieses Jahrhunderts zeigen, etwa die Biografie von Hermann Bahr, hat es diese melancholische Grundstimmung bereits in den letzten Jahren der Monarchie gegeben. Mit der Jahrhundertwende, als man die ersten Flügelschläge der künftigen Entwicklung zu verspüren glaubte, wurde diese Untergangsstimmung zum bestimmenden Gefühl auch unter klugen und fortschrittlichen Menschen. Der Biografie Hermann Bahrs kann man sehr gut entnehmen, wie wenig selbst politisch engagierte, wortgewaltige Literaten sich der Zeit gewachsen fühlten. Bahr hat alles mitgemacht: einmal war er Sozialdemokrat, dann wieder ihr Gegner, einmal Antisemit, dann wieder Philosemit, einmal Deutschnationaler,