Erinnerungen. Bruno Kreisky
alter Mann in Israel und bereitete mir durch seine Absonderlichkeiten große Sorgen. Die Springer-Presse und andere haben meinen Bruder immer wieder gegen mich auszuspielen versucht, vor allem in Israel. Regelmäßig ließ die Springer-Presse Reporter ausschwärmen, und manche Israelis halfen ihnen dabei, diesem kranken Mann einzureden, er müsse diese oder jene Erklärung abgeben. Einmal hat man ihm eine hohe Gage versprochen für seine Mitwirkung in einem Film, in dem er einen Bettler an der Klagemauer darstellen sollte. Das Foto ist dann durch die gesamte Presse gejagt worden: Der Bruder des österreichischen Kanzlers bettelt an der Klagemauer! Ich scheue mich nicht, zu sagen, dass ich meinem Bruder neben seiner kleinen österreichischen Pension jährlich einen Betrag zukommen lasse, der dem Bezug eines Rentners entspricht, und alle Spesen übernehme. Unlängst hat er wieder eine Erbschaft gemacht, und zudem bezieht er die israelische Altersrente. Man kann also nicht behaupten, dass mein Bruder am Hungertuch nage. Nur hat er zu Geld überhaupt keine Beziehung; am dritten Tag hat er es entweder verschenkt, verborgt oder verspielt. Der Zeuge für meine Angaben ist der österreichische Generalkonsul in Tel Aviv, der im Übrigen berechtigt ist, meinem Bruder in urgenten Fällen kleinere Beträge auszuzahlen.
Meine Mutter war mir schon deshalb eine große Hilfe, weil sie immer wieder meine Jugendstreiche deckte. Sie wusste mit fast instinktiver Sicherheit, wann ich in der Schule war und wann nicht. Sie merkte, wenn ich mit meinem Taschengeld am Ende war, und erwartete meine Anleihen. Im Haushaltsbuch, das sie nur widerwillig, dem Ordnungssinn meines Vaters zuliebe führte, notierte sie die Groschen, die sie mir gab, einfach als Ausgaben und Trinkgelder. Sie spielte gern Bridge, zwar nicht sehr gut, aber doch blieb von ihrem Spielgeld genug übrig, um kleinere Beträge für mich abzuzwacken. Ich habe ihr davon nie etwas zurückgezahlt. Dass sich mein Vater jemals das Wirtschaftsbuch angeschaut hat, glaube ich nicht. Es war dies eine jener sinnlosen Einrichtungen, die sich aus übertriebenem Ordnungssinn ergeben haben. Meine Mutter hat ihr Haushaltsbuch bis zuletzt geführt, lange unter dem Druck meines Vaters, so wie sie bis zuletzt die großartigen Bäckereien und Torten nach dem Kochbuch ihrer Mutter und Großmutter machte.
Ich war immer wieder darüber erstaunt, dass sie sich das Rezept der Panamatorte in all den Jahren nicht hat merken können. Das Kochbuch war handgeschrieben, und alle Rezepte begannen mit: »Man nehme«. Immer wieder war im Familienkreis von diesem legendären Kochbuch die Rede, und sooft eine neue, wunderbare Speise aufgetischt wurde, mussten die Tanten und Onkel das Rezept erraten. In den Kriegs- und Nachkriegsjahren war dieses Kochbuch allerdings nicht in Gebrauch, denn es verlangte opulente Zutaten. Eines Tages machte sich eine meiner frechen Cousinen, die in Wien Kunstgewerbe studierte, über das Kochbuch her und korrigierte es auf die denkbar einfachste Weise: Sie reduzierte wichtige Ingredienzen kurzerhand auf ein Zehntel, und es stellte sich heraus, dass die Torten fast ebenso gut schmeckten wie zuvor. Alle sprachen nur noch vom »Republikanischen Kochbuch«. Einer der Gründe, warum diese Köstlichkeiten so köstlich schmeckten, war der, den auch Torbergs Tante Jolesch nennt: Es war nie genug da.
Ich erinnere mich noch sehr genau an das Zeremoniell eines damaligen Wochenendes. Am Samstag hat man noch bis in den Nachmittag hinein gearbeitet, so dass das eigentliche Wochenende für die meisten bürgerlichen Menschen erst am Spätnachmittag oder frühen Abend des Samstags begann. Für das Abendessen mit Verwandten und Freunden war schon während der Woche sehr viel Mühe aufgewendet worden. Wenn der »Speisezettel« feststand, führte die Köchin ihre Bestellungen bei den Kaufleuten in der Umgebung durch. Manchmal zogen Hausfrau und Köchin gemeinsam in entlegene Bezirke, weil dort zum Beispiel das Rindfleisch von besonderer Qualität war. Am Samstagabend gab es allerdings kein Rindfleisch, das vom Zeremoniell her eine traditionelle Mittagsspeise war: In manchen Häusern – so auch bei uns – bekam man viermal in der Woche zu Mittag Rindfleisch, meistens gekocht mit Beilagen.
Vom Sonntagsessen erzählte man, dass es in den Bürgerhäusern und in den Adelshäusern das Gleiche gewesen sei und dass es auch in etwas besser situierten Arbeiterfamilien nichts anderes gegeben habe. Zum sonntägigen Mittagessen wurde die Familie eingeladen, Söhne, Töchter und Enkelkinder. Von besonderer Bedeutung aber war die Sonntagsjause. Nach dem Essen hielt man in einem bequemen Fauteuil ein kleines Nachmittagsschläfchen, das dreißig Minuten nicht überschreiten sollte, und zwischen drei und halb vier trafen die Gäste ein. Bei uns waren gelegentlich Musiker eingeladen – es waren fast immer Philharmoniker oder ehemalige Philharmoniker –, und nach einer halben Stunde setzte sich einer von ihnen ans Klavier und begann zu spielen. Gegen halb fünf wurde zur Jause aufgefordert. Sie bestand in der Regel aus einem Wiener Kaffee mit ein bisschen Obers – sehr elegante Leute tranken nur Tee, eine Gewohnheit, die von den ursprünglichen Wiener Familien allerdings nicht goutiert wurde –, und dazu gab es herrliche, selbstgemachte Bäckereien, für die Hausfrau und Köchin entsprechend gelobt wurden.
Die Jause wurde meistens dadurch beendet, dass man zum Nachtmahl rüstete. Weil man sozial mitfühlend war und den Hausangestellten für den Abend freigegeben hatte, damit sie sich im Prater oder irgendwo am Land bei einem Kirtag belustigen, war es meist ein »kaltes Nachtmahl«. Man nahm dann vorlieb mit dem, was die benachbarten Selchermeister und Delikatessengeschäfte zu bieten hatten. Manchmal machte man auch einen kleinen Ausflug zum guten Wirten in der Nachbarschaft. Die Kinder freilich blieben zu Hause; für sie war das sogenannte »gute Gasthaus« eine verschlossene Welt, deren Genüsse ihnen versagt blieben. Es gab noch eine zweite Alternative für den Sonntagabend: Man ging ins Theater. Normalerweise ist man in bürgerlichen Familien jedoch wochentags ins Theater gegangen; die Samstag- und Sonntagabende waren den anderen Bürgern, sofern sie kunstbeflissen waren, vorbehalten.
Es kam immer wieder vor, dass die Jausengesellschaft so animiert war, dass die Dame des Hauses die Gäste aufforderte, doch noch zu bleiben. »Wir haben genug vorbereitet.«–»Habt ihr wirklich genug?« war die entsprechende Antwort, und dann entspann sich eine Situation, für die es den schönen Wiener Ausdruck gibt: »Halt’ mich, ich bleib’ gern!«. Das waren die in Tausenden Familien gebräuchlichen Formen, in denen sich die Samstag- und Sonntagabende abspielten. Dann saß man noch lange beisammen, und die sogenannten feinen Leute sind meist erst sehr spät nach Hause gekommen; sie hatten am nächsten Tag die Möglichkeit, eine halbe Stunde länger zu schlafen oder ein Nachmittagsschläfchen zu halten.
Während des Krieges musste meine Mutter sich oft, zusammen mit der Köchin und der Hausgehilfin, um Lebensmittel anstellen, weil die Versorgung immer schlechter wurde. Und da sind unsere mährischen Verwandten auf die glorreiche Idee gekommen, in die großen Brotlaibe kleine Schinken einzubacken. Viel später habe ich erfahren, dass das eine Delikatesse ist; ich bin sicher, dass sie von meiner Familie erfunden wurde.
Das Kochen war für meine Mutter ein sehr spannendes Erlebnis. Die Güte der Mahlzeit war in meiner Jugend sehr viel unberechenbarer als heute. Das fing bereits damit an, dass man im Herd Feuer machen musste. Ob der Herd genug Zug hatte, das wiederum hing vom Wetter ab.
Wenn das Feuer im Herd zu stark wurde, ist so manches Gericht angebrannt. Später kam der Gasherd, aber auch hier ist nicht immer alles gelungen. Meiner Mutter standen eine Köchin und eine Hausgehilfin zur Verfügung. Es waren lange Zeit zwei böhmische Schwestern, später junge Frauen aus Kärnten, die immer aus derselben Familie stammten. Sie waren alle echte Familienangehörige. Man lachte mit ihnen, bei besonderen Anlässen tanzte man mit ihnen, schließlich weinte man mit ihnen, und es gab während des Krieges viel Anlass zu Trauer, auch später wieder, als Hitler kam. Die Böhminnen stammten aus einem kleinen Dorf, und obwohl es 70 Jahre her ist, kann ich mich an die beiden gut erinnern. Meine Eltern sprachen mit ihnen tschechisch, was ihnen den Aufenthalt in Wien sehr erleichterte. Tschechisch war für meinen Vater und für meine Mutter die zweite Sprache, obwohl sie sich als deutsch sprechende Österreicher empfunden haben. Marie und Julie waren unentbehrlich, und wir liebten sie. Wie sehr sie zur Familie gehörten, beweist ein abscheuliches Bild, das zum Hochzeitstag meiner Eltern bei einem Fotografen gemacht wurde. Marie sitzt in der Mitte, links und rechts von ihr mein Bruder Paul und ich: zwei ausgehungerte Buben, den total unterernährten Körper in Ruderleiberln, in Schuhen und Hosen, die auf Wachstum eingerichtet sind, und kahlgeschoren, weil das nach Auffassung meines Vaters sehr gesund war.
Der böhmischen Marie und der böhmischen Julie, aber auch Frau Josefine Hoffmann und den drei Schwestern aus der Hafnerfamilie Jobst in Hermagor, ihnen allen bewahre ich eine lichte und freundliche Erinnerung, denn sie alle