Erinnerungen. Bruno Kreisky
sua fata libelli, heißt es, aber Bücher haben nicht nur ihre Schicksale, sondern sie gestalten auch das Schicksal derer, die sie lesen. Ich könnte ein Buch nach dem andern aus meiner Jugendzeit nennen, das mich beeinflusst und geformt hat. Wenn ich heute eines dieser Bücher aus dem Regal ziehe und die vielen Eselsohren sehe, dann fühle ich mich zurückversetzt in eine Zeit, in der es so vieles zu entdecken gab. Hier und da habe ich die Seiten auch mit Anmerkungen vollgeschrieben, allerdings nur, wenn es sich um wissenschaftliche Bücher handelte, die ich immer anders betrachtet habe als Bücher der sogenannten »schönen Literatur«.
Es gibt Bücher, die ich mehrmals gelesen habe und auch heute immer wieder lese. Eines meiner Lieblingsbücher ist Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil. Ich gehöre, das kann ich wohl sagen, zu den wenigen, die Musils Werke schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg gut kannten, und mit meinen Hinweisen auf ihn habe ich meinen Teil zur Musil-Renaissance beigetragen. In Schweden habe ich mich sogar als Übersetzer versucht, bin aber nach wenigen Absätzen gescheitert, weil die Sprache Musils in keinem Verhältnis zu meinen damaligen Kenntnissen des Schwedischen stand. Romane habe ich immer gern gelesen, aber ich gebe zu, dass ich sie mir mit sehr viel Bedacht ausgesucht habe, damit ich mir nicht am Ende die Frage stellen musste: Wozu hast du so viele Stunden in die Lektüre dieses Buches investiert?
Eine Facette meiner Zuneigung zu Büchern ist meine große Lust, selbst zu schreiben und zu fabulieren. Dieser Lust am Schreiben hätte ich in besonderer Weise huldigen können, wenn es zur Erfüllung meines ursprünglichen Berufswunsches gekommen wäre: Journalist zu werden. Eine große Zahl heute sehr bekannter amerikanischer Schriftsteller hat so angefangen, mit Reportagen, die sie mit einer immer größeren literarischen Fähigkeit verfassten, bis sie schließlich aufgehört haben, Journalisten zu sein und nur mehr Schriftsteller, ja Dichter waren. Zu ihnen zählt Hemingway mit seinen Reportagen aus Spanien – bis hin zu seinem großen Roman Wem die Stunde schlägt. Oder John Steinbeck, der über das Elend der amerikanischen Farmer berichten sollte und dieses aufwühlende Werk Früchte des Zorns schrieb, einer der großen Schriftsteller unserer Zeit.
Ein anderer ehemaliger Journalist war Arthur Koestler, der ebenfalls als Reporter nach Spanien ging. Auch wenn nicht alle seine Bücher Meisterwerke waren, so habe ich doch sein Spanienbuch Spanish Testament gelesen. Auch Erich Kästner begann als Journalist und war bald einer der meistgelesenen Lyriker unserer Zeit. Obwohl manche Banausen die Nase über seine Art von Gedichten rümpfen: Er hat kein einziges Gedicht geschrieben, das unkritisch gewesen wäre.
Im Laufe meines Lebens, vor allem während meiner Gefängniszeit, habe ich viel über das Erbgut nachgedacht, das in mir steckt. Heute kommt es mir so vor, dass ich beiden Familien manches verdanke. Zur Formung meines Charakters hat natürlich auch der Umstand beigetragen, dass ich jüdischer Herkunft bin. Um so lächerlicher sind die teils versteckten, teils offenen Vorwürfe, ich versuchte, mich meines Judentums zu entledigen.
Ein wichtiges Erbteil meiner väterlichen Familie ist mein Sinn für das Politische. Der Bruder meiner Großmutter, mein Großonkel Joseph Neuwirth, hat fast genauso lang dem österreichischen Reichsrat angehört wie ich dem österreichischen Nationalrat – nur fast hundert Jahre vor mir. Er starb am 20. Mai 1895. In einem Nachruf hieß es damals: »Seit dem Jahre 1873 vertrat Joseph Neuwirth die Brünner Handelskammer im Abgeordnetenhause, woselbst er in kurzer Zeit in die Reihe der hervorragendsten Mitglieder trat. Es war ihm als volkswirthschaftlicher Schriftsteller ein bedeutender Ruf vorangegangen, den er durch seine parlamentarische Thätigkeit vollauf rechtfertigte. In den vielen wichtigen Fragen wirthschaftlicher Art, deren Lösung die Volksvertretung in den letzten Decennien beschäftigte, konnte Abgeordneter Neuwirth sein großes Wissen, seine klare Auffassung und seine genaue Kenntniß der wirthschaftlichen Verhältnisse aufs glänzendste bethätigen … Seine Reden zeichneten sich stets durch eine Fülle von Inhalt und durch großen Ernst in der Auffassung aus. Zahlreiche wichtige Referate, darunter auf dem Gebiete der socialpolitischen Gesetzgebung, waren ihm anvertraut und insbesondere im Budgetausschusse … war er einer der unermüdlichsten Arbeiter. Neuwirth war ein treuer, überzeugter Anhänger der liberalen Partei von entschieden fortschrittlicher Gesinnung, die er jederzeit offen zur Schau trug. Sein Tod hinterlässt eine große Lücke, die schwer auszufüllen sein wird.«
Joseph Neuwirth war einer der bedeutendsten unter meinen väterlichen Vorfahren und wurde in der Familie dementsprechend verehrt. Er hat viel für die Familie meines Vaters getan. In seinem Testament von 1889 bat er seine »geehrten Freunde und Kollegen, Abg. Dr. Ernst von Plener«, den späteren Finanzminister, »und Dr. Guido Freiherr von Sommaruga«, seinen »verwaisten Kindern auf ihrem Lebensweg nach Kräften schützend und fordernd beizustehen«. Überdies sprach er in diesem Testament den »Wunsch aus, dass meinen beiden Schwestern Katharina Kreisky in Kaladey«– meine Großmutter –»und Lina Bratmann (in Iglau Mähren) jener Erziehungsbeitrag für ihre zahlreichen Kinder, welchen sie seit einer langen Reihe von Jahren von mir bezogen haben, in gleicher Weise wie bisher, fortan seitens meiner Kinder zugewendet werde«. Joseph Neuwirth war kein reicher, aber auch kein armer Mann. Er stiftete Legate nicht nur für die sechzehn Kinder seiner Schwestern, sondern auch für das Dienstpersonal sowie für die Armen in Triesch, seinem Geburtsort in Mähren, die Armen in Meran, Obermais, Brünn und Linz.
Bei seiner Bestattung, so verfügte Joseph Neuwirth in seinem Testament, sollte auf »religiöse Zeremonien irgendwelcher Art« verzichtet werden. Weil er konfessionslos war, soll er von Kaiser Franz Joseph einmal aus einer vorgelegten Ministerliste gestrichen worden sein. Man hatte ihn für den Posten des Finanzministers vorgeschlagen. Der Kaiser hörte sich die Vorschläge an, nahm die Mitteilung der Meriten der einzelnen Herren gnädig zur Kenntnis und stellte schließlich die obligatorische Frage nach ihrer Konfession. Fast alle dürften römischkatholisch gewesen sein; beim Finanzminister Joseph Neuwirth stockte der designierte Ministerpräsident einen Augenblick und sagte schließlich: »Konfessionslos.« Der Kaiser horchte auf und soll der Überlieferung zufolge gesagt haben: »Ja, was ist denn das?« Als er die entsprechende Aufklärung erhielt, soll er den Namen ausgestrichen haben mit der Bemerkung: »Da wär’ mir schon lieber, er wär’ ein Jud’.«
Diese kleine Anekdote wurde oft in meiner Familie erzählt. Trotz ihrer Neigung, konfessionslos zu werden, weil das ihrer liberalen und agnostischen Einstellung entsprach, wurden viele Mitglieder meiner Familie aufgrund dieser Anekdote sonderbarerweise religiös. Joseph Neuwirth spricht in seinem Testament daher auch die Hoffnung aus, dass seinen Kindern, die dem römisch-katholischen Glauben angehören, aus dem Umstand, dass er sich »religiöse Zeremonien irgendwelcher Art« ausdrücklich verbittet, keine Probleme erwachsen.
Von der großbürgerlichen Familie Felix habe ich wahrscheinlich die Neigung mitbekommen, ungeachtet meiner politischen Gesinnung jenen Lebensstil beizubehalten, den ich von zu Hause kannte. Die Männer in der Familie Felix waren meist Bonvivants, die Frauen durchwegs sehr noble, intelligente Personen. Ebenso wie die Brüder meines Vaters spielten fast alle Mitglieder der Familie Felix in meinem Leben eine große Rolle.
Das erste Dokument, in dem einer meiner Vorfahren erwähnt wird, stammt aus dem Jahre 1694. Es ist ein Empfehlungsschreiben der Reichsgräfin Zierotin für ihren Bader Felix Sachs – ein Zuname, der später nicht mehr auftaucht. Nachdem Felix Sachs acht Jahre unter ihrer Herrschaft gearbeitet hatte, wollte er sein Glück offenbar anderswo suchen und bat um ein Zeugnis.
Sowohl mein Urgroßvater als auch mein Großvater waren sehr unternehmerische Leute und haben das Neue stets sofort erfasst. Mein Großvater, Moritz Felix, der ein knorriger, sehr selbstbewusster Mann gewesen sein muss, machte aus der Spiritusbrennerei eine Likörfabrik und errichtete außerdem eine Konservenfabrik in Znaim.
Das tschechischsprachige Trebitsch war ein schönes Städtchen in Mähren, das zu meiner Zeit 13.000 Einwohner zählte. An einem dieser ungeheuer großen Plätze, wie es sie nur im alten Österreich gegeben hat, besaß die Familie seit vielen Generationen ein stattliches Haus. Während mir die deutschen Städte im Kern immer als etwas eng erschienen, hatte man in Böhmen und Mähren den Eindruck, dass alle Bürger um den zentralen Platz herum lebten, was ursprünglich bei der Anlage solcher Plätze vielleicht auch beabsichtigt gewesen ist. Im Haus der Familie Felix in Trebitsch verlebte ich den Großteil meiner Ferien, und es war für mich sehr schmerzlich, als das Haus nach dem Krieg von der tschechischen